Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Zweites Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Gambetta und das Tistenscrutininm.

die Geschichte, daß die Abgeordneten, die der jetzt in Frankreich herrschenden
Partei angehören, keineswegs durch die Vergangenheit verpflichtet waren, sich
für den Bardouxschen Antrag lebhaft zu erwärmen.

Auch sonst ließ sich vielerlei zu Gunsten des 1875 eingeführten Wahlmodus
geltend machen, und dies geschah denn auch in dem Berichte, den Boysset über
den Gmnbettaschen Plan erstattete, und der die Ablehnung des letztern und die
Beibehaltung der bewährten bisherigen Methode des Wählers befürwortete. Nach¬
dem er darauf hingewiesen, daß die aus dem Listenserutinium hervorgegcmgnen
Nationalversammlungen von 1848 und 1871 nichts weniger als ein getreuer
Ausdruck des Volkswillens gewesen seien, zeigte er, daß die beständige Berührung
zwischen Wählern und Gewählten, wie sie das sorutin ä'MoiräisLömsnt zur
Folge habe, sehr heilsam auf die Moral der Wahlen wirke. Dieser directe Ver¬
kehr könne allerdings Uebelstände herbeiführen und dnrch Bestechung und Käuf¬
lichkeit befleckt werden, aber solche Mängel und Mißbräuche würde man auch
durch das Listeuscrutinium nicht ausrotten; ihnen wäre nur durch bessere Volks¬
bildung und strenge Strafgesetze in betreff der Wahlbestechung beizukommen.
Man behaupte, so fuhr er fort, der Gedanke der Departementswahlen werde nach
seiner Verwirklichung freien Spielraum fiir die "großen Strömungen" der öffent¬
lichen Meinung und des Volkswillens schaffen, die dann der Regierung die rechte
Richtung anweisen würden, aber eine solche Strömung habe 1848 die Wahl
Ludwig Napoleons hervorgerufen. Man sage ferner, die neue Wahlmethode
werde eine "besser disciplinirte" Kammer liefern, aber ob denn die jetzige Kammer,
durch deren Voden die Ministerien Dufaure, Waddington und Freheinet gestürzt
worden, nicht gefügig genug sei? So oft noch der Präsident derselben seinen
Sessel verlassen, um die Tribüne zu besteigen, sei er sicher gewesen, die Mehr¬
heit durch seine Beredsamkeit dahin zu lenken, wohin er sie haben wollte. In der
Wahl nach Arrondissements könne der Wähler seinem eignen Urtheil folgen und die
Comitus zwar anhören, dann aber doch mit voller Unabhängigkeit wählen. Da¬
gegen sei die Wahl nach Departements nothwendig eine indirecte, und die Comites
würden bei ihr die Rolle spielen, welche bei den Censuswahlen die Wahlmänner
gespielt hätten. Die ehrgeizigsten und vordringlichsten Cnndidatcn hätten da die
meiste Aussicht auf Erfolg, und die kleinlichsten und persönlichsten Motive gäben
in den Comites bei der Aufstellung der Listen den Ausschlag. Die große Masse
nehme diese Liste dann blindlings an, und der Abgeordnete sei der Verpflichtete
nicht der Wählerschaft, sondern des Comitss, das ihn in die Kammer befördert
habe. "In den Departements, wo die Mehrheit der Bevölkerung reactionär
denkt, würde es nach Einführung des Listenscrutiuiums gar keine repnblieamsch
gesinnten Abgeordneten mehr geben. Nun würde dieser Ausfall allerdings durch


Gambetta und das Tistenscrutininm.

die Geschichte, daß die Abgeordneten, die der jetzt in Frankreich herrschenden
Partei angehören, keineswegs durch die Vergangenheit verpflichtet waren, sich
für den Bardouxschen Antrag lebhaft zu erwärmen.

Auch sonst ließ sich vielerlei zu Gunsten des 1875 eingeführten Wahlmodus
geltend machen, und dies geschah denn auch in dem Berichte, den Boysset über
den Gmnbettaschen Plan erstattete, und der die Ablehnung des letztern und die
Beibehaltung der bewährten bisherigen Methode des Wählers befürwortete. Nach¬
dem er darauf hingewiesen, daß die aus dem Listenserutinium hervorgegcmgnen
Nationalversammlungen von 1848 und 1871 nichts weniger als ein getreuer
Ausdruck des Volkswillens gewesen seien, zeigte er, daß die beständige Berührung
zwischen Wählern und Gewählten, wie sie das sorutin ä'MoiräisLömsnt zur
Folge habe, sehr heilsam auf die Moral der Wahlen wirke. Dieser directe Ver¬
kehr könne allerdings Uebelstände herbeiführen und dnrch Bestechung und Käuf¬
lichkeit befleckt werden, aber solche Mängel und Mißbräuche würde man auch
durch das Listeuscrutinium nicht ausrotten; ihnen wäre nur durch bessere Volks¬
bildung und strenge Strafgesetze in betreff der Wahlbestechung beizukommen.
Man behaupte, so fuhr er fort, der Gedanke der Departementswahlen werde nach
seiner Verwirklichung freien Spielraum fiir die „großen Strömungen" der öffent¬
lichen Meinung und des Volkswillens schaffen, die dann der Regierung die rechte
Richtung anweisen würden, aber eine solche Strömung habe 1848 die Wahl
Ludwig Napoleons hervorgerufen. Man sage ferner, die neue Wahlmethode
werde eine „besser disciplinirte" Kammer liefern, aber ob denn die jetzige Kammer,
durch deren Voden die Ministerien Dufaure, Waddington und Freheinet gestürzt
worden, nicht gefügig genug sei? So oft noch der Präsident derselben seinen
Sessel verlassen, um die Tribüne zu besteigen, sei er sicher gewesen, die Mehr¬
heit durch seine Beredsamkeit dahin zu lenken, wohin er sie haben wollte. In der
Wahl nach Arrondissements könne der Wähler seinem eignen Urtheil folgen und die
Comitus zwar anhören, dann aber doch mit voller Unabhängigkeit wählen. Da¬
gegen sei die Wahl nach Departements nothwendig eine indirecte, und die Comites
würden bei ihr die Rolle spielen, welche bei den Censuswahlen die Wahlmänner
gespielt hätten. Die ehrgeizigsten und vordringlichsten Cnndidatcn hätten da die
meiste Aussicht auf Erfolg, und die kleinlichsten und persönlichsten Motive gäben
in den Comites bei der Aufstellung der Listen den Ausschlag. Die große Masse
nehme diese Liste dann blindlings an, und der Abgeordnete sei der Verpflichtete
nicht der Wählerschaft, sondern des Comitss, das ihn in die Kammer befördert
habe. „In den Departements, wo die Mehrheit der Bevölkerung reactionär
denkt, würde es nach Einführung des Listenscrutiuiums gar keine repnblieamsch
gesinnten Abgeordneten mehr geben. Nun würde dieser Ausfall allerdings durch


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0384" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/149956"/>
          <fw type="header" place="top"> Gambetta und das Tistenscrutininm.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1290" prev="#ID_1289"> die Geschichte, daß die Abgeordneten, die der jetzt in Frankreich herrschenden<lb/>
Partei angehören, keineswegs durch die Vergangenheit verpflichtet waren, sich<lb/>
für den Bardouxschen Antrag lebhaft zu erwärmen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1291" next="#ID_1292"> Auch sonst ließ sich vielerlei zu Gunsten des 1875 eingeführten Wahlmodus<lb/>
geltend machen, und dies geschah denn auch in dem Berichte, den Boysset über<lb/>
den Gmnbettaschen Plan erstattete, und der die Ablehnung des letztern und die<lb/>
Beibehaltung der bewährten bisherigen Methode des Wählers befürwortete. Nach¬<lb/>
dem er darauf hingewiesen, daß die aus dem Listenserutinium hervorgegcmgnen<lb/>
Nationalversammlungen von 1848 und 1871 nichts weniger als ein getreuer<lb/>
Ausdruck des Volkswillens gewesen seien, zeigte er, daß die beständige Berührung<lb/>
zwischen Wählern und Gewählten, wie sie das sorutin ä'MoiräisLömsnt zur<lb/>
Folge habe, sehr heilsam auf die Moral der Wahlen wirke. Dieser directe Ver¬<lb/>
kehr könne allerdings Uebelstände herbeiführen und dnrch Bestechung und Käuf¬<lb/>
lichkeit befleckt werden, aber solche Mängel und Mißbräuche würde man auch<lb/>
durch das Listeuscrutinium nicht ausrotten; ihnen wäre nur durch bessere Volks¬<lb/>
bildung und strenge Strafgesetze in betreff der Wahlbestechung beizukommen.<lb/>
Man behaupte, so fuhr er fort, der Gedanke der Departementswahlen werde nach<lb/>
seiner Verwirklichung freien Spielraum fiir die &#x201E;großen Strömungen" der öffent¬<lb/>
lichen Meinung und des Volkswillens schaffen, die dann der Regierung die rechte<lb/>
Richtung anweisen würden, aber eine solche Strömung habe 1848 die Wahl<lb/>
Ludwig Napoleons hervorgerufen. Man sage ferner, die neue Wahlmethode<lb/>
werde eine &#x201E;besser disciplinirte" Kammer liefern, aber ob denn die jetzige Kammer,<lb/>
durch deren Voden die Ministerien Dufaure, Waddington und Freheinet gestürzt<lb/>
worden, nicht gefügig genug sei? So oft noch der Präsident derselben seinen<lb/>
Sessel verlassen, um die Tribüne zu besteigen, sei er sicher gewesen, die Mehr¬<lb/>
heit durch seine Beredsamkeit dahin zu lenken, wohin er sie haben wollte. In der<lb/>
Wahl nach Arrondissements könne der Wähler seinem eignen Urtheil folgen und die<lb/>
Comitus zwar anhören, dann aber doch mit voller Unabhängigkeit wählen. Da¬<lb/>
gegen sei die Wahl nach Departements nothwendig eine indirecte, und die Comites<lb/>
würden bei ihr die Rolle spielen, welche bei den Censuswahlen die Wahlmänner<lb/>
gespielt hätten. Die ehrgeizigsten und vordringlichsten Cnndidatcn hätten da die<lb/>
meiste Aussicht auf Erfolg, und die kleinlichsten und persönlichsten Motive gäben<lb/>
in den Comites bei der Aufstellung der Listen den Ausschlag. Die große Masse<lb/>
nehme diese Liste dann blindlings an, und der Abgeordnete sei der Verpflichtete<lb/>
nicht der Wählerschaft, sondern des Comitss, das ihn in die Kammer befördert<lb/>
habe. &#x201E;In den Departements, wo die Mehrheit der Bevölkerung reactionär<lb/>
denkt, würde es nach Einführung des Listenscrutiuiums gar keine repnblieamsch<lb/>
gesinnten Abgeordneten mehr geben. Nun würde dieser Ausfall allerdings durch</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0384] Gambetta und das Tistenscrutininm. die Geschichte, daß die Abgeordneten, die der jetzt in Frankreich herrschenden Partei angehören, keineswegs durch die Vergangenheit verpflichtet waren, sich für den Bardouxschen Antrag lebhaft zu erwärmen. Auch sonst ließ sich vielerlei zu Gunsten des 1875 eingeführten Wahlmodus geltend machen, und dies geschah denn auch in dem Berichte, den Boysset über den Gmnbettaschen Plan erstattete, und der die Ablehnung des letztern und die Beibehaltung der bewährten bisherigen Methode des Wählers befürwortete. Nach¬ dem er darauf hingewiesen, daß die aus dem Listenserutinium hervorgegcmgnen Nationalversammlungen von 1848 und 1871 nichts weniger als ein getreuer Ausdruck des Volkswillens gewesen seien, zeigte er, daß die beständige Berührung zwischen Wählern und Gewählten, wie sie das sorutin ä'MoiräisLömsnt zur Folge habe, sehr heilsam auf die Moral der Wahlen wirke. Dieser directe Ver¬ kehr könne allerdings Uebelstände herbeiführen und dnrch Bestechung und Käuf¬ lichkeit befleckt werden, aber solche Mängel und Mißbräuche würde man auch durch das Listeuscrutinium nicht ausrotten; ihnen wäre nur durch bessere Volks¬ bildung und strenge Strafgesetze in betreff der Wahlbestechung beizukommen. Man behaupte, so fuhr er fort, der Gedanke der Departementswahlen werde nach seiner Verwirklichung freien Spielraum fiir die „großen Strömungen" der öffent¬ lichen Meinung und des Volkswillens schaffen, die dann der Regierung die rechte Richtung anweisen würden, aber eine solche Strömung habe 1848 die Wahl Ludwig Napoleons hervorgerufen. Man sage ferner, die neue Wahlmethode werde eine „besser disciplinirte" Kammer liefern, aber ob denn die jetzige Kammer, durch deren Voden die Ministerien Dufaure, Waddington und Freheinet gestürzt worden, nicht gefügig genug sei? So oft noch der Präsident derselben seinen Sessel verlassen, um die Tribüne zu besteigen, sei er sicher gewesen, die Mehr¬ heit durch seine Beredsamkeit dahin zu lenken, wohin er sie haben wollte. In der Wahl nach Arrondissements könne der Wähler seinem eignen Urtheil folgen und die Comitus zwar anhören, dann aber doch mit voller Unabhängigkeit wählen. Da¬ gegen sei die Wahl nach Departements nothwendig eine indirecte, und die Comites würden bei ihr die Rolle spielen, welche bei den Censuswahlen die Wahlmänner gespielt hätten. Die ehrgeizigsten und vordringlichsten Cnndidatcn hätten da die meiste Aussicht auf Erfolg, und die kleinlichsten und persönlichsten Motive gäben in den Comites bei der Aufstellung der Listen den Ausschlag. Die große Masse nehme diese Liste dann blindlings an, und der Abgeordnete sei der Verpflichtete nicht der Wählerschaft, sondern des Comitss, das ihn in die Kammer befördert habe. „In den Departements, wo die Mehrheit der Bevölkerung reactionär denkt, würde es nach Einführung des Listenscrutiuiums gar keine repnblieamsch gesinnten Abgeordneten mehr geben. Nun würde dieser Ausfall allerdings durch

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157699
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157699/384
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157699/384>, abgerufen am 17.06.2024.