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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Viertes Quartal.

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Shakespeare in Frankreich.

thümlichen Wesen nach nur sehr wenig in Frankreich begriffen worden war,
kein rechtes Verständniß haben, daher es nicht Wunder nehmen kann, daß der
Einfluß, welchen sie ausübte, zunächst mehr auf Abwege als zu einem neuen
Aufschwünge des Dramas führte. Deun ein, wenn auch noch so loser, ent-
fernter und äußerlicher Zusammenhang zwischen ihr und den Dichtern des Melo¬
dramas ist gewiß nicht zu leugnen. Doch traten vereinzelt auch unmittelbare
Nachahmungen Shakespeares wieder hervor, so der limon ü'^illönss von Mercier
und Legouvos Mellg-ris ot Mrov, in welchem einzelne Scenen des letzten Actes
von "Richard III." Eingang gefunden haben. Auch M. I. CHÄiier hatte in seinem
Lruws et L^ssius manches aus Shakespeare entlehnt. Aber gerade er, der be¬
deutendste Tragiker der Revolutionszeit, war principiell der entschiedenste Gegner
desselben und schon hierdurch mit seinem Bruder Andre zerfallen, welcher den
britischen Dichter in seinein LillWson ass ^eux as Lnicksspsg-rö verherrlicht
hat. Was Mercier an Shakespeare vor allem rühmte, daß er ein Dichter des
Volks gewesen, ward ihm von Joseph Chsnier hauptsächlich zum Vorwurfe
gemacht.

Dagegen fußte das Melodrama gerade auf den hiervon durch Mercier ab¬
geleiteten Lehrsätzen. Es war die mißverstandne Verwirklichung jener Forderung
des Volksthümlichen und stark Individuellen und, hiermit zusammenhängend, zu¬
gleich der erste energischere dramatische Ausdruck der allmählich in der franzö¬
sischen Dichtung zur Entwicklung gekommenen romantischen Elemente. Das Natur¬
evangelium Rousseaus, die Entfesselung der Subjectivität des Gemüthslebens,
der Empfindung und Leidenschaft, die durch die Heranziehung der Musik im
Drama zu bewirkende Stimmung, das von Diderot geforderte Malerische der
scenischen Action, das dramatische Colorit, dies alles, was man zum Theil in
der bedeutendsten und vollendetsten Weise auch im Shakespearischen Drama findet,
bildet, wenngleich in noch roher, trivialer, geschmackloser Gestalt, die wild durch
einander geworfenen Bestandtheile des Melodramas. Der Abstand des Melo¬
dramas von Shakespeare kann um so weniger gegen einen zwischen ihnen statt¬
findenden Zusammenhang sprechen, als dieser ja nur ein durch viele Zwischenglieder
vermittelter zu sein braucht und die unmittelbaren Nachahmungen Shakespeares
von Mercier und Ducis, wenn auch in ganz andrer Weise, kaum minder von
ihren Vorbildern abweichen.

Was Chsnier von Shakespeare behauptet: "Da er für das Volk arbeitete,
konnte er natürlich nur schlechte Stücke machen," läßt sich mit ungleich schein¬
barerem Rechte dein Melodrama zum Vorwurf machen. Es wurde daher von
den eigentlichen Männern der Literatur auch nur mit wegwerfender Gering¬
schätzung angesehen, obwohl es eine ganz neue Schauspielkunst ins Leben rief,
die eine größere Zahl bedeutender Talente zur Entwicklung brachte, wodurch
es auch vorzugsweise die ungeheure und andauernde Anziehungskraft auf das
Publicum, und nicht bloß auf die niedern Klassen desselben, ausübte.


Shakespeare in Frankreich.

thümlichen Wesen nach nur sehr wenig in Frankreich begriffen worden war,
kein rechtes Verständniß haben, daher es nicht Wunder nehmen kann, daß der
Einfluß, welchen sie ausübte, zunächst mehr auf Abwege als zu einem neuen
Aufschwünge des Dramas führte. Deun ein, wenn auch noch so loser, ent-
fernter und äußerlicher Zusammenhang zwischen ihr und den Dichtern des Melo¬
dramas ist gewiß nicht zu leugnen. Doch traten vereinzelt auch unmittelbare
Nachahmungen Shakespeares wieder hervor, so der limon ü'^illönss von Mercier
und Legouvos Mellg-ris ot Mrov, in welchem einzelne Scenen des letzten Actes
von „Richard III." Eingang gefunden haben. Auch M. I. CHÄiier hatte in seinem
Lruws et L^ssius manches aus Shakespeare entlehnt. Aber gerade er, der be¬
deutendste Tragiker der Revolutionszeit, war principiell der entschiedenste Gegner
desselben und schon hierdurch mit seinem Bruder Andre zerfallen, welcher den
britischen Dichter in seinein LillWson ass ^eux as Lnicksspsg-rö verherrlicht
hat. Was Mercier an Shakespeare vor allem rühmte, daß er ein Dichter des
Volks gewesen, ward ihm von Joseph Chsnier hauptsächlich zum Vorwurfe
gemacht.

Dagegen fußte das Melodrama gerade auf den hiervon durch Mercier ab¬
geleiteten Lehrsätzen. Es war die mißverstandne Verwirklichung jener Forderung
des Volksthümlichen und stark Individuellen und, hiermit zusammenhängend, zu¬
gleich der erste energischere dramatische Ausdruck der allmählich in der franzö¬
sischen Dichtung zur Entwicklung gekommenen romantischen Elemente. Das Natur¬
evangelium Rousseaus, die Entfesselung der Subjectivität des Gemüthslebens,
der Empfindung und Leidenschaft, die durch die Heranziehung der Musik im
Drama zu bewirkende Stimmung, das von Diderot geforderte Malerische der
scenischen Action, das dramatische Colorit, dies alles, was man zum Theil in
der bedeutendsten und vollendetsten Weise auch im Shakespearischen Drama findet,
bildet, wenngleich in noch roher, trivialer, geschmackloser Gestalt, die wild durch
einander geworfenen Bestandtheile des Melodramas. Der Abstand des Melo¬
dramas von Shakespeare kann um so weniger gegen einen zwischen ihnen statt¬
findenden Zusammenhang sprechen, als dieser ja nur ein durch viele Zwischenglieder
vermittelter zu sein braucht und die unmittelbaren Nachahmungen Shakespeares
von Mercier und Ducis, wenn auch in ganz andrer Weise, kaum minder von
ihren Vorbildern abweichen.

Was Chsnier von Shakespeare behauptet: „Da er für das Volk arbeitete,
konnte er natürlich nur schlechte Stücke machen," läßt sich mit ungleich schein¬
barerem Rechte dein Melodrama zum Vorwurf machen. Es wurde daher von
den eigentlichen Männern der Literatur auch nur mit wegwerfender Gering¬
schätzung angesehen, obwohl es eine ganz neue Schauspielkunst ins Leben rief,
die eine größere Zahl bedeutender Talente zur Entwicklung brachte, wodurch
es auch vorzugsweise die ungeheure und andauernde Anziehungskraft auf das
Publicum, und nicht bloß auf die niedern Klassen desselben, ausübte.


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[0016] Shakespeare in Frankreich. thümlichen Wesen nach nur sehr wenig in Frankreich begriffen worden war, kein rechtes Verständniß haben, daher es nicht Wunder nehmen kann, daß der Einfluß, welchen sie ausübte, zunächst mehr auf Abwege als zu einem neuen Aufschwünge des Dramas führte. Deun ein, wenn auch noch so loser, ent- fernter und äußerlicher Zusammenhang zwischen ihr und den Dichtern des Melo¬ dramas ist gewiß nicht zu leugnen. Doch traten vereinzelt auch unmittelbare Nachahmungen Shakespeares wieder hervor, so der limon ü'^illönss von Mercier und Legouvos Mellg-ris ot Mrov, in welchem einzelne Scenen des letzten Actes von „Richard III." Eingang gefunden haben. Auch M. I. CHÄiier hatte in seinem Lruws et L^ssius manches aus Shakespeare entlehnt. Aber gerade er, der be¬ deutendste Tragiker der Revolutionszeit, war principiell der entschiedenste Gegner desselben und schon hierdurch mit seinem Bruder Andre zerfallen, welcher den britischen Dichter in seinein LillWson ass ^eux as Lnicksspsg-rö verherrlicht hat. Was Mercier an Shakespeare vor allem rühmte, daß er ein Dichter des Volks gewesen, ward ihm von Joseph Chsnier hauptsächlich zum Vorwurfe gemacht. Dagegen fußte das Melodrama gerade auf den hiervon durch Mercier ab¬ geleiteten Lehrsätzen. Es war die mißverstandne Verwirklichung jener Forderung des Volksthümlichen und stark Individuellen und, hiermit zusammenhängend, zu¬ gleich der erste energischere dramatische Ausdruck der allmählich in der franzö¬ sischen Dichtung zur Entwicklung gekommenen romantischen Elemente. Das Natur¬ evangelium Rousseaus, die Entfesselung der Subjectivität des Gemüthslebens, der Empfindung und Leidenschaft, die durch die Heranziehung der Musik im Drama zu bewirkende Stimmung, das von Diderot geforderte Malerische der scenischen Action, das dramatische Colorit, dies alles, was man zum Theil in der bedeutendsten und vollendetsten Weise auch im Shakespearischen Drama findet, bildet, wenngleich in noch roher, trivialer, geschmackloser Gestalt, die wild durch einander geworfenen Bestandtheile des Melodramas. Der Abstand des Melo¬ dramas von Shakespeare kann um so weniger gegen einen zwischen ihnen statt¬ findenden Zusammenhang sprechen, als dieser ja nur ein durch viele Zwischenglieder vermittelter zu sein braucht und die unmittelbaren Nachahmungen Shakespeares von Mercier und Ducis, wenn auch in ganz andrer Weise, kaum minder von ihren Vorbildern abweichen. Was Chsnier von Shakespeare behauptet: „Da er für das Volk arbeitete, konnte er natürlich nur schlechte Stücke machen," läßt sich mit ungleich schein¬ barerem Rechte dein Melodrama zum Vorwurf machen. Es wurde daher von den eigentlichen Männern der Literatur auch nur mit wegwerfender Gering¬ schätzung angesehen, obwohl es eine ganz neue Schauspielkunst ins Leben rief, die eine größere Zahl bedeutender Talente zur Entwicklung brachte, wodurch es auch vorzugsweise die ungeheure und andauernde Anziehungskraft auf das Publicum, und nicht bloß auf die niedern Klassen desselben, ausübte.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157970/16>, abgerufen am 14.05.2024.