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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Viertes Quartal.

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Shakespeare in Frankreich.

sowie daß Lemercier, welchen, nachLacroix, ihr Buch doch zu seinem Lustspiel?no
angeregt haben soll und welcher thatsächlich Shakespeare bewunderte, 1806 mit
seiner Dsmönos as Leu>.i1s8 VI. nach dem Vorbilde des "englischen Aeschylos"
ein nationales Theater zu begründen gedachte und seinen Ldristoxus Oolomb
sogar als Ooinväio LtiÄlösxsariöuuö bezeichnete, ein entschiedener Gegner der
Romantik Victor Hugos war und sich seiner Aufnahme in die Akademie bis
zuletzt widersetzte. Es beweist, daß die ultramontane Romantik in Frankreich
nicht vorzugsweise auf Shakespeare zurückzuführen ist, daß sie nicht die einzige
Form und Richtung der französischen Romantik in Frankreich war, sondern daß
diese, wie überhaupt, so auch hier, verschiedne Gegensätze in sich einschließt.

Diesem Wiederaufleben der Shakespeare-Begeisterung trat damals nie¬
mand so entschieden entgegen als Geoffroy, der Kritiker des Journal de l'Empire,
des spätern Journal des Dvbats, der es sogar Voltaire zum Vorwurf gemacht, durch
sein unvorsichtiges Lob dazu beigetragen zu haben, daß man die Kronen Corneilles
und Nacines mit Füßen trete. Er tadelt Ducis, der sich von einer schranken¬
losen Einbildungskraft dazu habe hinreißen lassen, die französische Bühne
mit den britischen Narrheiten und Ungeheuerlichkeiten zu verunreinigen. Wogegen
Lemercier in seinein (üours MglMaus av ultor^durs, welcher fast gleichzeitig
mit Frau von Staöls l'^IlöiugZuo erschien, jede Gelegenheit ergriff, sich,
wenn auch mit Vorsicht, zum Vertheidiger Shakespeares aufzuwerfen. Das neue
Buch der Staöl wurde unmittelbar nach seinem Erscheinen (1810) in Frankreich
verboten. Erst 1813 erschien eine neue Ausgabe in London, 1814 eine dritte
in Paris. Die Verfasserin zeigte sich darin in ihren Ansichten vorgeschrittener
und kühner. Sie hatte jetzt ganz mit den alten Vorurtheilen gebrochen; und
obschon es sich darin hauptsächlich um Deutschland handelte, ging sie doch wieder
auf England, besonders auf Shakespeare, mit ein. "Es ist der nationale Ge¬
schmack -- heißt es nun --, der über die verschiednen dramatischen Systeme ent¬
scheidet; aber die Gerechtigkeit fordert, anzuerkennen, daß, wenn die Ausländer
einen andern Begriff als wir von der theatralischen Kunst haben, dies nicht
aus Unwissenheit oder Barbarei geschieht, sondern auf tiefe Erwägungen hin,
die werth sind, geprüft zu werden. Shakespeare, den man einen Barbaren zu
nennen beliebt, hatte vielleicht einen zu philosophischen Geist, ein für den Ge¬
sichtspunkt der Bühne zu subtiles Eindringen in seinen Gegenstand.
Er beurtheilt die Charaktere mit der Unparteilichkeit eines höhern Wesens und stellt
sie zuweilen mit einer fast machiavellistischen Ironie dar. Seine Kompositionen
sind von einer solchen Tiefe, daß die Raschheit der theatralischen Darstellung
uns einen großen Theil der darin enthaltenen Ideen verlieren läßt. In dieser
Beziehung ist es besser, seine Stücke zu lesen, als sie zu sehen." Welch ein un¬
geheurer Fortschritt in der Erkenntniß des Dichters gegen alle Vorgänger macht
sich allein schon in diesenMorten bemerkbar! "Shakespeare -- lesen wir weiter --
erkältet die Handlung zuweilen durch seinen Geist, und die Franzosen verstehen


Shakespeare in Frankreich.

sowie daß Lemercier, welchen, nachLacroix, ihr Buch doch zu seinem Lustspiel?no
angeregt haben soll und welcher thatsächlich Shakespeare bewunderte, 1806 mit
seiner Dsmönos as Leu>.i1s8 VI. nach dem Vorbilde des „englischen Aeschylos"
ein nationales Theater zu begründen gedachte und seinen Ldristoxus Oolomb
sogar als Ooinväio LtiÄlösxsariöuuö bezeichnete, ein entschiedener Gegner der
Romantik Victor Hugos war und sich seiner Aufnahme in die Akademie bis
zuletzt widersetzte. Es beweist, daß die ultramontane Romantik in Frankreich
nicht vorzugsweise auf Shakespeare zurückzuführen ist, daß sie nicht die einzige
Form und Richtung der französischen Romantik in Frankreich war, sondern daß
diese, wie überhaupt, so auch hier, verschiedne Gegensätze in sich einschließt.

Diesem Wiederaufleben der Shakespeare-Begeisterung trat damals nie¬
mand so entschieden entgegen als Geoffroy, der Kritiker des Journal de l'Empire,
des spätern Journal des Dvbats, der es sogar Voltaire zum Vorwurf gemacht, durch
sein unvorsichtiges Lob dazu beigetragen zu haben, daß man die Kronen Corneilles
und Nacines mit Füßen trete. Er tadelt Ducis, der sich von einer schranken¬
losen Einbildungskraft dazu habe hinreißen lassen, die französische Bühne
mit den britischen Narrheiten und Ungeheuerlichkeiten zu verunreinigen. Wogegen
Lemercier in seinein (üours MglMaus av ultor^durs, welcher fast gleichzeitig
mit Frau von Staöls l'^IlöiugZuo erschien, jede Gelegenheit ergriff, sich,
wenn auch mit Vorsicht, zum Vertheidiger Shakespeares aufzuwerfen. Das neue
Buch der Staöl wurde unmittelbar nach seinem Erscheinen (1810) in Frankreich
verboten. Erst 1813 erschien eine neue Ausgabe in London, 1814 eine dritte
in Paris. Die Verfasserin zeigte sich darin in ihren Ansichten vorgeschrittener
und kühner. Sie hatte jetzt ganz mit den alten Vorurtheilen gebrochen; und
obschon es sich darin hauptsächlich um Deutschland handelte, ging sie doch wieder
auf England, besonders auf Shakespeare, mit ein. „Es ist der nationale Ge¬
schmack — heißt es nun —, der über die verschiednen dramatischen Systeme ent¬
scheidet; aber die Gerechtigkeit fordert, anzuerkennen, daß, wenn die Ausländer
einen andern Begriff als wir von der theatralischen Kunst haben, dies nicht
aus Unwissenheit oder Barbarei geschieht, sondern auf tiefe Erwägungen hin,
die werth sind, geprüft zu werden. Shakespeare, den man einen Barbaren zu
nennen beliebt, hatte vielleicht einen zu philosophischen Geist, ein für den Ge¬
sichtspunkt der Bühne zu subtiles Eindringen in seinen Gegenstand.
Er beurtheilt die Charaktere mit der Unparteilichkeit eines höhern Wesens und stellt
sie zuweilen mit einer fast machiavellistischen Ironie dar. Seine Kompositionen
sind von einer solchen Tiefe, daß die Raschheit der theatralischen Darstellung
uns einen großen Theil der darin enthaltenen Ideen verlieren läßt. In dieser
Beziehung ist es besser, seine Stücke zu lesen, als sie zu sehen." Welch ein un¬
geheurer Fortschritt in der Erkenntniß des Dichters gegen alle Vorgänger macht
sich allein schon in diesenMorten bemerkbar! „Shakespeare — lesen wir weiter —
erkältet die Handlung zuweilen durch seinen Geist, und die Franzosen verstehen


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[0018] Shakespeare in Frankreich. sowie daß Lemercier, welchen, nachLacroix, ihr Buch doch zu seinem Lustspiel?no angeregt haben soll und welcher thatsächlich Shakespeare bewunderte, 1806 mit seiner Dsmönos as Leu>.i1s8 VI. nach dem Vorbilde des „englischen Aeschylos" ein nationales Theater zu begründen gedachte und seinen Ldristoxus Oolomb sogar als Ooinväio LtiÄlösxsariöuuö bezeichnete, ein entschiedener Gegner der Romantik Victor Hugos war und sich seiner Aufnahme in die Akademie bis zuletzt widersetzte. Es beweist, daß die ultramontane Romantik in Frankreich nicht vorzugsweise auf Shakespeare zurückzuführen ist, daß sie nicht die einzige Form und Richtung der französischen Romantik in Frankreich war, sondern daß diese, wie überhaupt, so auch hier, verschiedne Gegensätze in sich einschließt. Diesem Wiederaufleben der Shakespeare-Begeisterung trat damals nie¬ mand so entschieden entgegen als Geoffroy, der Kritiker des Journal de l'Empire, des spätern Journal des Dvbats, der es sogar Voltaire zum Vorwurf gemacht, durch sein unvorsichtiges Lob dazu beigetragen zu haben, daß man die Kronen Corneilles und Nacines mit Füßen trete. Er tadelt Ducis, der sich von einer schranken¬ losen Einbildungskraft dazu habe hinreißen lassen, die französische Bühne mit den britischen Narrheiten und Ungeheuerlichkeiten zu verunreinigen. Wogegen Lemercier in seinein (üours MglMaus av ultor^durs, welcher fast gleichzeitig mit Frau von Staöls l'^IlöiugZuo erschien, jede Gelegenheit ergriff, sich, wenn auch mit Vorsicht, zum Vertheidiger Shakespeares aufzuwerfen. Das neue Buch der Staöl wurde unmittelbar nach seinem Erscheinen (1810) in Frankreich verboten. Erst 1813 erschien eine neue Ausgabe in London, 1814 eine dritte in Paris. Die Verfasserin zeigte sich darin in ihren Ansichten vorgeschrittener und kühner. Sie hatte jetzt ganz mit den alten Vorurtheilen gebrochen; und obschon es sich darin hauptsächlich um Deutschland handelte, ging sie doch wieder auf England, besonders auf Shakespeare, mit ein. „Es ist der nationale Ge¬ schmack — heißt es nun —, der über die verschiednen dramatischen Systeme ent¬ scheidet; aber die Gerechtigkeit fordert, anzuerkennen, daß, wenn die Ausländer einen andern Begriff als wir von der theatralischen Kunst haben, dies nicht aus Unwissenheit oder Barbarei geschieht, sondern auf tiefe Erwägungen hin, die werth sind, geprüft zu werden. Shakespeare, den man einen Barbaren zu nennen beliebt, hatte vielleicht einen zu philosophischen Geist, ein für den Ge¬ sichtspunkt der Bühne zu subtiles Eindringen in seinen Gegenstand. Er beurtheilt die Charaktere mit der Unparteilichkeit eines höhern Wesens und stellt sie zuweilen mit einer fast machiavellistischen Ironie dar. Seine Kompositionen sind von einer solchen Tiefe, daß die Raschheit der theatralischen Darstellung uns einen großen Theil der darin enthaltenen Ideen verlieren läßt. In dieser Beziehung ist es besser, seine Stücke zu lesen, als sie zu sehen." Welch ein un¬ geheurer Fortschritt in der Erkenntniß des Dichters gegen alle Vorgänger macht sich allein schon in diesenMorten bemerkbar! „Shakespeare — lesen wir weiter — erkältet die Handlung zuweilen durch seinen Geist, und die Franzosen verstehen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157970/18>, abgerufen am 15.05.2024.