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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Viertes Quartal.

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Lin englisches Actenstiick über den deutschen Schulgsscmg.

Holland und Belgien bieten zahllose Beispiele, daß Kinder aus den niedersten
Klassen im Alter von neun und^ zehn Jahren nicht nur das, was sie eingeübt haben,
geschmackvoll und fein vortragen, sondern daß sie auch sehr schwierige Sachen
g. vistg, mit so viel Leichtigkeit und Verständniß singen, wie man von ihnen beim
ersten Lesen ihnen neuer, aber innerhalb ihres Verständnisses liegender literarischer
Sätze verlangen kann. Die Einführung in die Noten ist mit der in die Buch¬
staben gleichzeitig oder bald nach ihr erfolgt, und das eine hat keine größere
Schwierigkeit gemacht als das andre."

Man kann an dem Berichte des Herrn Hullah mauches bemängeln. Aber
einen glaubwürdigen und loyalen Eindruck macht er durchaus, und für keinen
Kenner ist es zweifelhaft, daß er von den Verhältnissen in Deutschland ein ge¬
treues Bild entwirft, aus dem sich jeder einen Begriff von der Sache bilden
kann. In den deutschen Seminarien wurde Herr Hullah, wie zu ersehen, mit
vielen Concerten beehrt. In Holland und Belgien erzählt er davon weniger,
sondern legt mehr Werth darauf, daß die Zöglinge gelernt hatten gut und genau
zu hören, auch Harmonien und Modulationen, und daß sie soviel musikalisches
Gefühl und Sicherheit besaßen, um später ihrer Aufgabe als Gesanglehrer der
Kinder gewachsen zu sein. Nach den Vorschlägen, die Herr Hullah den hohe"
Lords für die englischen Bedürfnisse macht, ist es nicht zweifelhaft, daß er genau
einsieht, wo der Knoten zu lösen ist. Eben in den Seminarien. Wie steht es
nun bei diesen in Deutschland mit der Musik? Speciell, wie steht es mit der
Vorbereitung der Zöglinge für ihren Beruf als Gesauglehrer? Wir wollen
niemandem zu nahe treten. An den deutschen Seminarien, ich glaube ganz be¬
sonders an der Mehrzahl der sächsischen Seminarien, wirken sehr ehrenwerthe,
tüchtige und gewissenhafte Musiker. Aber wir können auch mit Beweisen auf¬
warten, daß an einzelnen Seminarien in Bezug auf Musik sehr beklagenswerthe
Allotria getrieben werden. Anders kann man es nicht nennen, wenn ein großer
Theil der Gesangstunden oder Chorstunden dazu verwendet wird, seichte Männer-
qnartette (von der Composition des Seminarmusiklehrers) einzuüben, an denen
sich die jungen Leute den Geschmack ebenso wie die Stimmen verderben. Im
allgemeinen darf constatirt werden, daß die einstige Bestimmung der Seminaristen
zu Gesanglehrern in der Volksschule bei ihrem musikalischen Unterrichte schärfer
als bisher ins Auge gefaßt werden muß. Darüber müßte in jedem Staate
Deutschlands vom Unterrichtsministerium eine detaillirte Verfügung erlassen und
überwacht werden. Vielleicht würde es sich dann auch als empfehlenswert!)
herausstellen, daß die Anforderungen an musikalische Qualification und Vor¬
bereitung bei dem Aufnahmeexamen der eintretenden Seminaristen, welche in
der Zeit des großen Lehrermangels herabgesetzt worden sind, jetzt wieder sach¬
gemäß verschärft würden. Das ist alles leicht zu machen, ohne Geldkosten
und ohne daß es jemand genirt. Es kommt nur auf den guten Willen und
auf die Einsicht an. Die Frage ist nur die, ob in Deutschland so viel Werth


Lin englisches Actenstiick über den deutschen Schulgsscmg.

Holland und Belgien bieten zahllose Beispiele, daß Kinder aus den niedersten
Klassen im Alter von neun und^ zehn Jahren nicht nur das, was sie eingeübt haben,
geschmackvoll und fein vortragen, sondern daß sie auch sehr schwierige Sachen
g. vistg, mit so viel Leichtigkeit und Verständniß singen, wie man von ihnen beim
ersten Lesen ihnen neuer, aber innerhalb ihres Verständnisses liegender literarischer
Sätze verlangen kann. Die Einführung in die Noten ist mit der in die Buch¬
staben gleichzeitig oder bald nach ihr erfolgt, und das eine hat keine größere
Schwierigkeit gemacht als das andre."

Man kann an dem Berichte des Herrn Hullah mauches bemängeln. Aber
einen glaubwürdigen und loyalen Eindruck macht er durchaus, und für keinen
Kenner ist es zweifelhaft, daß er von den Verhältnissen in Deutschland ein ge¬
treues Bild entwirft, aus dem sich jeder einen Begriff von der Sache bilden
kann. In den deutschen Seminarien wurde Herr Hullah, wie zu ersehen, mit
vielen Concerten beehrt. In Holland und Belgien erzählt er davon weniger,
sondern legt mehr Werth darauf, daß die Zöglinge gelernt hatten gut und genau
zu hören, auch Harmonien und Modulationen, und daß sie soviel musikalisches
Gefühl und Sicherheit besaßen, um später ihrer Aufgabe als Gesanglehrer der
Kinder gewachsen zu sein. Nach den Vorschlägen, die Herr Hullah den hohe»
Lords für die englischen Bedürfnisse macht, ist es nicht zweifelhaft, daß er genau
einsieht, wo der Knoten zu lösen ist. Eben in den Seminarien. Wie steht es
nun bei diesen in Deutschland mit der Musik? Speciell, wie steht es mit der
Vorbereitung der Zöglinge für ihren Beruf als Gesauglehrer? Wir wollen
niemandem zu nahe treten. An den deutschen Seminarien, ich glaube ganz be¬
sonders an der Mehrzahl der sächsischen Seminarien, wirken sehr ehrenwerthe,
tüchtige und gewissenhafte Musiker. Aber wir können auch mit Beweisen auf¬
warten, daß an einzelnen Seminarien in Bezug auf Musik sehr beklagenswerthe
Allotria getrieben werden. Anders kann man es nicht nennen, wenn ein großer
Theil der Gesangstunden oder Chorstunden dazu verwendet wird, seichte Männer-
qnartette (von der Composition des Seminarmusiklehrers) einzuüben, an denen
sich die jungen Leute den Geschmack ebenso wie die Stimmen verderben. Im
allgemeinen darf constatirt werden, daß die einstige Bestimmung der Seminaristen
zu Gesanglehrern in der Volksschule bei ihrem musikalischen Unterrichte schärfer
als bisher ins Auge gefaßt werden muß. Darüber müßte in jedem Staate
Deutschlands vom Unterrichtsministerium eine detaillirte Verfügung erlassen und
überwacht werden. Vielleicht würde es sich dann auch als empfehlenswert!)
herausstellen, daß die Anforderungen an musikalische Qualification und Vor¬
bereitung bei dem Aufnahmeexamen der eintretenden Seminaristen, welche in
der Zeit des großen Lehrermangels herabgesetzt worden sind, jetzt wieder sach¬
gemäß verschärft würden. Das ist alles leicht zu machen, ohne Geldkosten
und ohne daß es jemand genirt. Es kommt nur auf den guten Willen und
auf die Einsicht an. Die Frage ist nur die, ob in Deutschland so viel Werth


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157970/182>, abgerufen am 15.05.2024.