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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Viertes Quartal.

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Gin englisches Actenstiick über den deutschen Schulgesang.

des Herrn H. Bunte, ausgezeichnet rein und geschmackvoll, aber in einigermaßen
unordentlichem Tact. Sie im "Lesen vom Blatt" zu prüfen, hatte ich keine Ge¬
legenheit. Es wird hier auf den Gegenstand sehr wenig Zeit verwendet und, wie
ich fürchte, ihm von der Anstaltsleitung wenig Interesse geschenkt.

Eine Klasse junger Leute, welche ich in der Realschule hörte, saug ziemlich
gut. Man hatte auch die Gefälligkeit, mich zu einer Uebung eines Männergesnng-
vereins einzuladen, der unter Herrn Buntes Direction nur lange und äußerst
schwierige Motetten mit vollkommener Intonation, viel Geschmack und in schönem
Klang ausführte.

Warum ist es in so vielen Ländern den niedern Klassen unmöglich gemacht,
sich in einer Fertigkeit zu üben und auszubilden, für welche sie mindestens eben¬
soviel Begabung haben als die bessern? Was dieser Genuß das Jahr über kostet,
würde sich leicht ausgleichen, wenn sie nur vierzehn Tage lang Bier und schlechte
Gesellschaft aufgeben."

Mit dieser melancholischen Betrachtung schließt Herr Hullah feinen Bericht
über Deutschland. Er hat auch die Schweiz, Holland und Belgien besucht; doch
wollen wir das, was er von dort mittheilt, nicht ausführlich reproduciren. Er
fand überall dasselbe: eine gute Methode; hier mit dem ersten Schuljahre, dort
erst nach dem dritten, aber überall wurden die Kinder nach Noten unterrichtet,
sie lernten Scalen, lernten treffen und zählen. Die Folge war: sie sangen mit
Leichtigkeit vom Blatt, sie merkten es sofort, wenn Herr Hullah sich den Scherz
machte, irgend etwas falsch an die Tafel zu schreiben, und standen ihm Rede
auf leichte theoretische Fragen über Tonart und Modulation. Von bemerkens¬
werthen Details sei noch erwähnt, daß die Lehrer principiell nicht mitsängen,
sondern nur controlirten und den Tact angaben. Die Kinder corrigirten einander
selbst. Als eine sehr nachahmungswerthe Einrichtung führt Herr Hullah an,
daß in einer Schule im Haag statt zwei ganzer Stunden wöchentlich vier halbe
ertheilt wurden. Den einzigen Anlaß zum Tadel giebt ihm in Holland der Fall,
daß in einer Klasse zuviel auf die Dynamik gesehen wurde. Infolge dessen, sagt
Herr Hnllcch, waren die Kinder im Singen vom Blatte nicht so gut als sonst
in diesem Lande. Während es in den Schweizer Schulen -- in den Elementar¬
schulen -- keine speciellen Gesanglehrer gab, sondern der Klassenlehrer immer
auch den Singunterricht ertheilte, waren in den holländischen und belgischen
Schulen für die oberen Klassen Fachmänner angestellt. Den belgischen Schulen
giebt Hullah den Preis vor allen. Mit Recht legt er sehr großen Werth darauf,
daß in diesem Lande der Gesangunterricht unter die besondre Inspection eines
von der Behörde eingesetzten Musikers von Autorität gestellt ist. Wenn wir
nicht irren, ist diese Maßregel auch in einzelnen Schweizer Cantonen getroffen.

Bei dein Schlußvergleiche, welchen Herr Hullah über die Ergebnisse seiner
Beobachtungen in den verschiedenen Ländern zieht, kommen wir Deutschen nicht
gut weg. "In Deutschland," sagt er, "sind die Resultate des Unterrichts im
allgemeinen die denkbar ärmlichsten, während sie in der Schweiz, in Holland und
in Belgien in hohem Grade zufriedenstellend sind. Besonders die Schulen von


Gin englisches Actenstiick über den deutschen Schulgesang.

des Herrn H. Bunte, ausgezeichnet rein und geschmackvoll, aber in einigermaßen
unordentlichem Tact. Sie im „Lesen vom Blatt" zu prüfen, hatte ich keine Ge¬
legenheit. Es wird hier auf den Gegenstand sehr wenig Zeit verwendet und, wie
ich fürchte, ihm von der Anstaltsleitung wenig Interesse geschenkt.

Eine Klasse junger Leute, welche ich in der Realschule hörte, saug ziemlich
gut. Man hatte auch die Gefälligkeit, mich zu einer Uebung eines Männergesnng-
vereins einzuladen, der unter Herrn Buntes Direction nur lange und äußerst
schwierige Motetten mit vollkommener Intonation, viel Geschmack und in schönem
Klang ausführte.

Warum ist es in so vielen Ländern den niedern Klassen unmöglich gemacht,
sich in einer Fertigkeit zu üben und auszubilden, für welche sie mindestens eben¬
soviel Begabung haben als die bessern? Was dieser Genuß das Jahr über kostet,
würde sich leicht ausgleichen, wenn sie nur vierzehn Tage lang Bier und schlechte
Gesellschaft aufgeben."

Mit dieser melancholischen Betrachtung schließt Herr Hullah feinen Bericht
über Deutschland. Er hat auch die Schweiz, Holland und Belgien besucht; doch
wollen wir das, was er von dort mittheilt, nicht ausführlich reproduciren. Er
fand überall dasselbe: eine gute Methode; hier mit dem ersten Schuljahre, dort
erst nach dem dritten, aber überall wurden die Kinder nach Noten unterrichtet,
sie lernten Scalen, lernten treffen und zählen. Die Folge war: sie sangen mit
Leichtigkeit vom Blatt, sie merkten es sofort, wenn Herr Hullah sich den Scherz
machte, irgend etwas falsch an die Tafel zu schreiben, und standen ihm Rede
auf leichte theoretische Fragen über Tonart und Modulation. Von bemerkens¬
werthen Details sei noch erwähnt, daß die Lehrer principiell nicht mitsängen,
sondern nur controlirten und den Tact angaben. Die Kinder corrigirten einander
selbst. Als eine sehr nachahmungswerthe Einrichtung führt Herr Hullah an,
daß in einer Schule im Haag statt zwei ganzer Stunden wöchentlich vier halbe
ertheilt wurden. Den einzigen Anlaß zum Tadel giebt ihm in Holland der Fall,
daß in einer Klasse zuviel auf die Dynamik gesehen wurde. Infolge dessen, sagt
Herr Hnllcch, waren die Kinder im Singen vom Blatte nicht so gut als sonst
in diesem Lande. Während es in den Schweizer Schulen — in den Elementar¬
schulen — keine speciellen Gesanglehrer gab, sondern der Klassenlehrer immer
auch den Singunterricht ertheilte, waren in den holländischen und belgischen
Schulen für die oberen Klassen Fachmänner angestellt. Den belgischen Schulen
giebt Hullah den Preis vor allen. Mit Recht legt er sehr großen Werth darauf,
daß in diesem Lande der Gesangunterricht unter die besondre Inspection eines
von der Behörde eingesetzten Musikers von Autorität gestellt ist. Wenn wir
nicht irren, ist diese Maßregel auch in einzelnen Schweizer Cantonen getroffen.

Bei dein Schlußvergleiche, welchen Herr Hullah über die Ergebnisse seiner
Beobachtungen in den verschiedenen Ländern zieht, kommen wir Deutschen nicht
gut weg. „In Deutschland," sagt er, „sind die Resultate des Unterrichts im
allgemeinen die denkbar ärmlichsten, während sie in der Schweiz, in Holland und
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[0181] Gin englisches Actenstiick über den deutschen Schulgesang. des Herrn H. Bunte, ausgezeichnet rein und geschmackvoll, aber in einigermaßen unordentlichem Tact. Sie im „Lesen vom Blatt" zu prüfen, hatte ich keine Ge¬ legenheit. Es wird hier auf den Gegenstand sehr wenig Zeit verwendet und, wie ich fürchte, ihm von der Anstaltsleitung wenig Interesse geschenkt. Eine Klasse junger Leute, welche ich in der Realschule hörte, saug ziemlich gut. Man hatte auch die Gefälligkeit, mich zu einer Uebung eines Männergesnng- vereins einzuladen, der unter Herrn Buntes Direction nur lange und äußerst schwierige Motetten mit vollkommener Intonation, viel Geschmack und in schönem Klang ausführte. Warum ist es in so vielen Ländern den niedern Klassen unmöglich gemacht, sich in einer Fertigkeit zu üben und auszubilden, für welche sie mindestens eben¬ soviel Begabung haben als die bessern? Was dieser Genuß das Jahr über kostet, würde sich leicht ausgleichen, wenn sie nur vierzehn Tage lang Bier und schlechte Gesellschaft aufgeben." Mit dieser melancholischen Betrachtung schließt Herr Hullah feinen Bericht über Deutschland. Er hat auch die Schweiz, Holland und Belgien besucht; doch wollen wir das, was er von dort mittheilt, nicht ausführlich reproduciren. Er fand überall dasselbe: eine gute Methode; hier mit dem ersten Schuljahre, dort erst nach dem dritten, aber überall wurden die Kinder nach Noten unterrichtet, sie lernten Scalen, lernten treffen und zählen. Die Folge war: sie sangen mit Leichtigkeit vom Blatt, sie merkten es sofort, wenn Herr Hullah sich den Scherz machte, irgend etwas falsch an die Tafel zu schreiben, und standen ihm Rede auf leichte theoretische Fragen über Tonart und Modulation. Von bemerkens¬ werthen Details sei noch erwähnt, daß die Lehrer principiell nicht mitsängen, sondern nur controlirten und den Tact angaben. Die Kinder corrigirten einander selbst. Als eine sehr nachahmungswerthe Einrichtung führt Herr Hullah an, daß in einer Schule im Haag statt zwei ganzer Stunden wöchentlich vier halbe ertheilt wurden. Den einzigen Anlaß zum Tadel giebt ihm in Holland der Fall, daß in einer Klasse zuviel auf die Dynamik gesehen wurde. Infolge dessen, sagt Herr Hnllcch, waren die Kinder im Singen vom Blatte nicht so gut als sonst in diesem Lande. Während es in den Schweizer Schulen — in den Elementar¬ schulen — keine speciellen Gesanglehrer gab, sondern der Klassenlehrer immer auch den Singunterricht ertheilte, waren in den holländischen und belgischen Schulen für die oberen Klassen Fachmänner angestellt. Den belgischen Schulen giebt Hullah den Preis vor allen. Mit Recht legt er sehr großen Werth darauf, daß in diesem Lande der Gesangunterricht unter die besondre Inspection eines von der Behörde eingesetzten Musikers von Autorität gestellt ist. Wenn wir nicht irren, ist diese Maßregel auch in einzelnen Schweizer Cantonen getroffen. Bei dein Schlußvergleiche, welchen Herr Hullah über die Ergebnisse seiner Beobachtungen in den verschiedenen Ländern zieht, kommen wir Deutschen nicht gut weg. „In Deutschland," sagt er, „sind die Resultate des Unterrichts im allgemeinen die denkbar ärmlichsten, während sie in der Schweiz, in Holland und in Belgien in hohem Grade zufriedenstellend sind. Besonders die Schulen von

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157970/181>, abgerufen am 04.06.2024.