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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Viertes Quartal.

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Shakespeare in Frankreich.

Rückkehr zur Einfachheit in ihren Productionen zu zwingen. Doch dürften diese
von ihren Vorgängern den Vortheil voraushaben, weniger zaghaft in ihren
Gemälden, weniger manierirt in der Ausführung, energischer in der
Behandlung des einzelnen zu sein."

Der Kampf der Parteien sollte nur zu bald ein immer erbitterterer werden.
Noch im Jahre 1823 war die öffentliche Meinung so überwiegend von den An¬
sichten der classischen Schule beherrscht gewesen, daß eine englische Schauspieler¬
gesellschaft, welche die Pariser auch von der Bühne herab mit Shakespeare ver¬
traut machen wollte, vom Spotte des Parterre von derselben vertrieben worden
war. Nur kurze Zeit später aber hatte eine andre Gesellschaft, welche allerdings
die besten Kräfte des Drurylane- und Coventgardentheaters, Kemble, Macready,
Mrs. Vaugha", Mrs. Smithson, in sich vereinigte, mit den Meisterwerken Shake¬
speares eine Reihe der sensationellsten Erfolge. 1827 veröffentlichte Victor Hugo
den vroiQvsll. Das Stück war nicht für die Aufführung bestimmt. Auch ist
die Vorrede fast wichtiger als das Drama selbst, welches in seiner Ausdehnung,
in seiner epischen, episodenreichen Breite, in dem Ueberwuchern des anekdotischen
Details, in der zum Theil geschmacklosen Anwendung, welche der Dichter darin
von dem, was er das Burleske nennt, gemacht hatte, mit einem Worte in seiner
Formlosigkeit von seinem dramatischen Talent nur im einzelnen einen bedeu¬
tendem Begriff geben konnte. Das Vorwort brachte dagegen die Bestrebungen
der neuen dramatischen Schule zu beredtestem Ausdruck. Es war ein Absage¬
brief an die alte Doctrin, der darin eine neue entgegengestellt wurde.

Hiernach sollte der Grundcharakter des neuen Dramas der des Wirklichen
(rgöl) sein, des Wirklichen, als der natürliche" Vereinigung des Erhabenen und
Grotesken, die sich in ihm wie im Leben durcheinander zu schlingen hätten, wie
ja die wahre, vollkommene Poesie überhaupt immer nur aus der Harmonie der
Gegensätze hervorgehe. "Es ist Zeit, es auszusprechen -- heißt es wörtlich --,
daß gerade hier die Ausnahmen nur die Regel bestätigen. Alles was in der
Natur ist, gehört in die Kunst. So lange das Drama das Erhabene und Groteske
gesondert darstellte, mußte es sich in Abstractionen bewegen. Das Wirkliche liegt
Mischen beiden. Nach den classischen Dichtern erübrigt es nur noch den Men¬
schen selbst in seiner vollen Wirklichkeit darzustellen, nach ihrer Tragödie und
Komödie das Drama (Is arg-ins), Shakespeare, dieser Gott des Theaters, ver¬
einigte in sich zugleich Corneille, Mvlisre und Beaumarchais, Er ist das Leben
gewordene Drama, das Drama, welches mit einem Athemzuge das Erhabene und
das Groteske, das Possenhafte und das Furchtbare, die Tragödie und die Ko¬
mödie mit einander verschmilzt."

Victor Hugo wendet sich nun gegen die Einheiten, für welche man sich auf
die Wahrscheinlichkeit zu stützen vorgehe, während sie doch diese allenthalben
verletzten und das Wichtigste erzählen zu lassen nöthigten, so daß man den Dich¬
tern zurufen möchte: "Wahrhaftig! so führt uns doch selber dahin, man muß


Shakespeare in Frankreich.

Rückkehr zur Einfachheit in ihren Productionen zu zwingen. Doch dürften diese
von ihren Vorgängern den Vortheil voraushaben, weniger zaghaft in ihren
Gemälden, weniger manierirt in der Ausführung, energischer in der
Behandlung des einzelnen zu sein."

Der Kampf der Parteien sollte nur zu bald ein immer erbitterterer werden.
Noch im Jahre 1823 war die öffentliche Meinung so überwiegend von den An¬
sichten der classischen Schule beherrscht gewesen, daß eine englische Schauspieler¬
gesellschaft, welche die Pariser auch von der Bühne herab mit Shakespeare ver¬
traut machen wollte, vom Spotte des Parterre von derselben vertrieben worden
war. Nur kurze Zeit später aber hatte eine andre Gesellschaft, welche allerdings
die besten Kräfte des Drurylane- und Coventgardentheaters, Kemble, Macready,
Mrs. Vaugha», Mrs. Smithson, in sich vereinigte, mit den Meisterwerken Shake¬
speares eine Reihe der sensationellsten Erfolge. 1827 veröffentlichte Victor Hugo
den vroiQvsll. Das Stück war nicht für die Aufführung bestimmt. Auch ist
die Vorrede fast wichtiger als das Drama selbst, welches in seiner Ausdehnung,
in seiner epischen, episodenreichen Breite, in dem Ueberwuchern des anekdotischen
Details, in der zum Theil geschmacklosen Anwendung, welche der Dichter darin
von dem, was er das Burleske nennt, gemacht hatte, mit einem Worte in seiner
Formlosigkeit von seinem dramatischen Talent nur im einzelnen einen bedeu¬
tendem Begriff geben konnte. Das Vorwort brachte dagegen die Bestrebungen
der neuen dramatischen Schule zu beredtestem Ausdruck. Es war ein Absage¬
brief an die alte Doctrin, der darin eine neue entgegengestellt wurde.

Hiernach sollte der Grundcharakter des neuen Dramas der des Wirklichen
(rgöl) sein, des Wirklichen, als der natürliche» Vereinigung des Erhabenen und
Grotesken, die sich in ihm wie im Leben durcheinander zu schlingen hätten, wie
ja die wahre, vollkommene Poesie überhaupt immer nur aus der Harmonie der
Gegensätze hervorgehe. „Es ist Zeit, es auszusprechen — heißt es wörtlich —,
daß gerade hier die Ausnahmen nur die Regel bestätigen. Alles was in der
Natur ist, gehört in die Kunst. So lange das Drama das Erhabene und Groteske
gesondert darstellte, mußte es sich in Abstractionen bewegen. Das Wirkliche liegt
Mischen beiden. Nach den classischen Dichtern erübrigt es nur noch den Men¬
schen selbst in seiner vollen Wirklichkeit darzustellen, nach ihrer Tragödie und
Komödie das Drama (Is arg-ins), Shakespeare, dieser Gott des Theaters, ver¬
einigte in sich zugleich Corneille, Mvlisre und Beaumarchais, Er ist das Leben
gewordene Drama, das Drama, welches mit einem Athemzuge das Erhabene und
das Groteske, das Possenhafte und das Furchtbare, die Tragödie und die Ko¬
mödie mit einander verschmilzt."

Victor Hugo wendet sich nun gegen die Einheiten, für welche man sich auf
die Wahrscheinlichkeit zu stützen vorgehe, während sie doch diese allenthalben
verletzten und das Wichtigste erzählen zu lassen nöthigten, so daß man den Dich¬
tern zurufen möchte: „Wahrhaftig! so führt uns doch selber dahin, man muß


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[0025] Shakespeare in Frankreich. Rückkehr zur Einfachheit in ihren Productionen zu zwingen. Doch dürften diese von ihren Vorgängern den Vortheil voraushaben, weniger zaghaft in ihren Gemälden, weniger manierirt in der Ausführung, energischer in der Behandlung des einzelnen zu sein." Der Kampf der Parteien sollte nur zu bald ein immer erbitterterer werden. Noch im Jahre 1823 war die öffentliche Meinung so überwiegend von den An¬ sichten der classischen Schule beherrscht gewesen, daß eine englische Schauspieler¬ gesellschaft, welche die Pariser auch von der Bühne herab mit Shakespeare ver¬ traut machen wollte, vom Spotte des Parterre von derselben vertrieben worden war. Nur kurze Zeit später aber hatte eine andre Gesellschaft, welche allerdings die besten Kräfte des Drurylane- und Coventgardentheaters, Kemble, Macready, Mrs. Vaugha», Mrs. Smithson, in sich vereinigte, mit den Meisterwerken Shake¬ speares eine Reihe der sensationellsten Erfolge. 1827 veröffentlichte Victor Hugo den vroiQvsll. Das Stück war nicht für die Aufführung bestimmt. Auch ist die Vorrede fast wichtiger als das Drama selbst, welches in seiner Ausdehnung, in seiner epischen, episodenreichen Breite, in dem Ueberwuchern des anekdotischen Details, in der zum Theil geschmacklosen Anwendung, welche der Dichter darin von dem, was er das Burleske nennt, gemacht hatte, mit einem Worte in seiner Formlosigkeit von seinem dramatischen Talent nur im einzelnen einen bedeu¬ tendem Begriff geben konnte. Das Vorwort brachte dagegen die Bestrebungen der neuen dramatischen Schule zu beredtestem Ausdruck. Es war ein Absage¬ brief an die alte Doctrin, der darin eine neue entgegengestellt wurde. Hiernach sollte der Grundcharakter des neuen Dramas der des Wirklichen (rgöl) sein, des Wirklichen, als der natürliche» Vereinigung des Erhabenen und Grotesken, die sich in ihm wie im Leben durcheinander zu schlingen hätten, wie ja die wahre, vollkommene Poesie überhaupt immer nur aus der Harmonie der Gegensätze hervorgehe. „Es ist Zeit, es auszusprechen — heißt es wörtlich —, daß gerade hier die Ausnahmen nur die Regel bestätigen. Alles was in der Natur ist, gehört in die Kunst. So lange das Drama das Erhabene und Groteske gesondert darstellte, mußte es sich in Abstractionen bewegen. Das Wirkliche liegt Mischen beiden. Nach den classischen Dichtern erübrigt es nur noch den Men¬ schen selbst in seiner vollen Wirklichkeit darzustellen, nach ihrer Tragödie und Komödie das Drama (Is arg-ins), Shakespeare, dieser Gott des Theaters, ver¬ einigte in sich zugleich Corneille, Mvlisre und Beaumarchais, Er ist das Leben gewordene Drama, das Drama, welches mit einem Athemzuge das Erhabene und das Groteske, das Possenhafte und das Furchtbare, die Tragödie und die Ko¬ mödie mit einander verschmilzt." Victor Hugo wendet sich nun gegen die Einheiten, für welche man sich auf die Wahrscheinlichkeit zu stützen vorgehe, während sie doch diese allenthalben verletzten und das Wichtigste erzählen zu lassen nöthigten, so daß man den Dich¬ tern zurufen möchte: „Wahrhaftig! so führt uns doch selber dahin, man muß

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157970/25>, abgerufen am 15.05.2024.