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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Viertes Quartal.

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Lyrisches in Shakespeare.

entlehnt zu sein; gewiß wenigstens ist er von diesen schon weit früher im Drama
angewendet worden (von Trisseno 1524). Indessen hat der Reim von jeher
sowohl bei den Italienern wie bei den Engländern in der Lyrik Anwendung
gefunden, und die Ausnahme des Sonetts und des nationalen Volkslieds in
sein Drama beweist, daß Shakespeare auch hierbei aus beiden Quellen geschöpft
hat. Wenn er den Reim in seinen spätern Stücken wieder häufig anwendete,
so beweist das nicht, daß sie durchgehend von minderen lyrischen Gehalt sind;
ihr ernsterer, männlicherer Charakter und die größere Strenge ihres dramatischen
Ausdrucks sind allein schon hinreichende Gründe dafür. Auch hier aber band
er sich nie an eine bestimmte Regel, wie ja sein muthmaßlich frühestes, sich an
Marlowe anlehnendes Drama "Titus Andronicus" ganz in reimlosen Jamben
geschrieben ist. Die größere oder mindere Anwendung des Reims bietet demnach
allein noch kein sicheres Merkmal sür die Altersbestimmung der Shakespearischen
Stücke.

Das Lyrische im Drama ist bei einem Dichter wie Shakespeare, der durch
und durch dramatisch ist, natürlich immer auf Handlung bezogen. Doch ist
diese selbst nicht immer in gleichem Fluß, sie hat ihr Wachsen und Fallen, ihre
Höhe- und ihre Ruhepunkte. Auch kaun jene Beziehung bald eine mehr, bald
eine weniger unmittelbare sein. Das Lyrische tritt entweder ganz unmittelbar
als Empfindung aus dem Zustande des Handelnden hervor, oder es entsteht
durch die nur beziehungsweise Darstellung dieser Empfindung und dieses Zu¬
standes. Zu letzterm rechnet Steuerwald die Schilderungen, welche der Dichter
von der äußern Situation der Handelnden entwirft, um den Zuschauer ganz in
den innern Zustand derselben zu versetzen. Doch auch das, was er unter Be¬
trachtungen und Meditationen versteht, gehört mit hierher. Auch sie werden
nur durch die Beziehung auf den äußern und innern Zustand der Handelnden
lyrisch oder stimmungsvoll. Wie die Rede und die Erzählung, erlangen sie erst
durch die Wirkungen, welche sie ausüben, und die Ursachen, die sie hervorrufen,
einen dramatischen, sei es nnn tragischen oder komischen Charakter. Shakespeare
war Meister in der Behandlung und Verwendung aller dieser verschiedenen
Formen, gab aber, wie Steuerwald hervorhebt, in seinen frühern Werken dem
Lyrischen der unmittelbaren Empfindung, in seinen spätern dem Lyrischen der
reflectirten Empfindung, der Schilderung und Betrachtung, den größern Spiel¬
raum.

Am reinsten und selbständigsten kann das Lyrische in denjenigen Partien
zum Ausdruck kommen, welche Steuerwald als lyrische Einlagen bezeichnet und
worunter er "Prolog, Epilog, Chorus, Maske, Jig, Lied, Ballade, Gedicht,
Beschwörungsformel, Zauber- und Hexenspruchartiges, Sinn- und Denkspruch,
Räthsel, Märchenhaftes, lyrische Volkssage" versteht. Einlagen unterscheiden sich
dadurch von den dem Dialog oder Monolog unmittelbar zugehörenden Stellen,
daß sie auch abgelöst vom Drama eine selbständige Bedeutung behaupten. Es


Lyrisches in Shakespeare.

entlehnt zu sein; gewiß wenigstens ist er von diesen schon weit früher im Drama
angewendet worden (von Trisseno 1524). Indessen hat der Reim von jeher
sowohl bei den Italienern wie bei den Engländern in der Lyrik Anwendung
gefunden, und die Ausnahme des Sonetts und des nationalen Volkslieds in
sein Drama beweist, daß Shakespeare auch hierbei aus beiden Quellen geschöpft
hat. Wenn er den Reim in seinen spätern Stücken wieder häufig anwendete,
so beweist das nicht, daß sie durchgehend von minderen lyrischen Gehalt sind;
ihr ernsterer, männlicherer Charakter und die größere Strenge ihres dramatischen
Ausdrucks sind allein schon hinreichende Gründe dafür. Auch hier aber band
er sich nie an eine bestimmte Regel, wie ja sein muthmaßlich frühestes, sich an
Marlowe anlehnendes Drama „Titus Andronicus" ganz in reimlosen Jamben
geschrieben ist. Die größere oder mindere Anwendung des Reims bietet demnach
allein noch kein sicheres Merkmal sür die Altersbestimmung der Shakespearischen
Stücke.

Das Lyrische im Drama ist bei einem Dichter wie Shakespeare, der durch
und durch dramatisch ist, natürlich immer auf Handlung bezogen. Doch ist
diese selbst nicht immer in gleichem Fluß, sie hat ihr Wachsen und Fallen, ihre
Höhe- und ihre Ruhepunkte. Auch kaun jene Beziehung bald eine mehr, bald
eine weniger unmittelbare sein. Das Lyrische tritt entweder ganz unmittelbar
als Empfindung aus dem Zustande des Handelnden hervor, oder es entsteht
durch die nur beziehungsweise Darstellung dieser Empfindung und dieses Zu¬
standes. Zu letzterm rechnet Steuerwald die Schilderungen, welche der Dichter
von der äußern Situation der Handelnden entwirft, um den Zuschauer ganz in
den innern Zustand derselben zu versetzen. Doch auch das, was er unter Be¬
trachtungen und Meditationen versteht, gehört mit hierher. Auch sie werden
nur durch die Beziehung auf den äußern und innern Zustand der Handelnden
lyrisch oder stimmungsvoll. Wie die Rede und die Erzählung, erlangen sie erst
durch die Wirkungen, welche sie ausüben, und die Ursachen, die sie hervorrufen,
einen dramatischen, sei es nnn tragischen oder komischen Charakter. Shakespeare
war Meister in der Behandlung und Verwendung aller dieser verschiedenen
Formen, gab aber, wie Steuerwald hervorhebt, in seinen frühern Werken dem
Lyrischen der unmittelbaren Empfindung, in seinen spätern dem Lyrischen der
reflectirten Empfindung, der Schilderung und Betrachtung, den größern Spiel¬
raum.

Am reinsten und selbständigsten kann das Lyrische in denjenigen Partien
zum Ausdruck kommen, welche Steuerwald als lyrische Einlagen bezeichnet und
worunter er „Prolog, Epilog, Chorus, Maske, Jig, Lied, Ballade, Gedicht,
Beschwörungsformel, Zauber- und Hexenspruchartiges, Sinn- und Denkspruch,
Räthsel, Märchenhaftes, lyrische Volkssage" versteht. Einlagen unterscheiden sich
dadurch von den dem Dialog oder Monolog unmittelbar zugehörenden Stellen,
daß sie auch abgelöst vom Drama eine selbständige Bedeutung behaupten. Es


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[0255] Lyrisches in Shakespeare. entlehnt zu sein; gewiß wenigstens ist er von diesen schon weit früher im Drama angewendet worden (von Trisseno 1524). Indessen hat der Reim von jeher sowohl bei den Italienern wie bei den Engländern in der Lyrik Anwendung gefunden, und die Ausnahme des Sonetts und des nationalen Volkslieds in sein Drama beweist, daß Shakespeare auch hierbei aus beiden Quellen geschöpft hat. Wenn er den Reim in seinen spätern Stücken wieder häufig anwendete, so beweist das nicht, daß sie durchgehend von minderen lyrischen Gehalt sind; ihr ernsterer, männlicherer Charakter und die größere Strenge ihres dramatischen Ausdrucks sind allein schon hinreichende Gründe dafür. Auch hier aber band er sich nie an eine bestimmte Regel, wie ja sein muthmaßlich frühestes, sich an Marlowe anlehnendes Drama „Titus Andronicus" ganz in reimlosen Jamben geschrieben ist. Die größere oder mindere Anwendung des Reims bietet demnach allein noch kein sicheres Merkmal sür die Altersbestimmung der Shakespearischen Stücke. Das Lyrische im Drama ist bei einem Dichter wie Shakespeare, der durch und durch dramatisch ist, natürlich immer auf Handlung bezogen. Doch ist diese selbst nicht immer in gleichem Fluß, sie hat ihr Wachsen und Fallen, ihre Höhe- und ihre Ruhepunkte. Auch kaun jene Beziehung bald eine mehr, bald eine weniger unmittelbare sein. Das Lyrische tritt entweder ganz unmittelbar als Empfindung aus dem Zustande des Handelnden hervor, oder es entsteht durch die nur beziehungsweise Darstellung dieser Empfindung und dieses Zu¬ standes. Zu letzterm rechnet Steuerwald die Schilderungen, welche der Dichter von der äußern Situation der Handelnden entwirft, um den Zuschauer ganz in den innern Zustand derselben zu versetzen. Doch auch das, was er unter Be¬ trachtungen und Meditationen versteht, gehört mit hierher. Auch sie werden nur durch die Beziehung auf den äußern und innern Zustand der Handelnden lyrisch oder stimmungsvoll. Wie die Rede und die Erzählung, erlangen sie erst durch die Wirkungen, welche sie ausüben, und die Ursachen, die sie hervorrufen, einen dramatischen, sei es nnn tragischen oder komischen Charakter. Shakespeare war Meister in der Behandlung und Verwendung aller dieser verschiedenen Formen, gab aber, wie Steuerwald hervorhebt, in seinen frühern Werken dem Lyrischen der unmittelbaren Empfindung, in seinen spätern dem Lyrischen der reflectirten Empfindung, der Schilderung und Betrachtung, den größern Spiel¬ raum. Am reinsten und selbständigsten kann das Lyrische in denjenigen Partien zum Ausdruck kommen, welche Steuerwald als lyrische Einlagen bezeichnet und worunter er „Prolog, Epilog, Chorus, Maske, Jig, Lied, Ballade, Gedicht, Beschwörungsformel, Zauber- und Hexenspruchartiges, Sinn- und Denkspruch, Räthsel, Märchenhaftes, lyrische Volkssage" versteht. Einlagen unterscheiden sich dadurch von den dem Dialog oder Monolog unmittelbar zugehörenden Stellen, daß sie auch abgelöst vom Drama eine selbständige Bedeutung behaupten. Es

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157970/255>, abgerufen am 31.05.2024.