Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Viertes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Lin nationales Bühnonspiel.

Der erste Act spielt zunächst im Pfarrhause zu Kamenz. Justine, Lessings
Schwester, hat eben im Auftrage ihrer Mutter einen Weihnachtskuchen für den
Bruder gebacken und ist damit beschäftigt, ihn für die Post zurecht zu machen.
Sie thut das nicht in der besten Laune, denn sie liebt ihren Bruder nicht be¬
sonders zärtlich, weil sie ihrer Eitelkeit wegen früher oft von ihm geneckt worden
ist, sie ist auch neidisch auf ihn, weil er ihrer Meinung nach von der Mutter
verwöhnt wird, und sie hat endlich neuerdings von dem Cantor Fuchs, dem
Herrn Gevatter, dessen Neffe Dämon mit Lessing zusammen auf der Universität
in Leipzig ist, gehört, warum der Bruder so selten schreibe: er verkehre mit
lüderlichem Volk, mit Komödianten, mit denen er die Weihnachts- und Oster-
kuchen der Mutter theile. So begreift man denn das folgende Gespräch zwischen
Mutter und Tochter:


Ist das ein Volk, die Leipziger Studenten!
O! es giebt gar nichts Ärgres in der Welt!

Justine.

Was die nicht weiß!

Die Mutter.
Justine.

Sie leben wie die Heiden,
Sie schlagen sich mit Schlägern vor den Kops,
Sie rauchen keck aus ellenlangen Pfeifen,
Sie kleiden sich ganz närrisch und verrückt,
Sie gehn einher in meilenlangen Stiefeln,
Und jeder kämmt sein Haar bloß mit der Hand.


Die Mutter.

Es wird nicht gar so schrecklich sein, Justiuchen,
Und unser Gotthold macht uicht alles mit.


Diese Verse geben zugleich eine charakteristische Probe von der Umgangssprache,
die im Kamenzer Pfarrhause üblich ist. "Was die nicht weiß" -- "ganz
närrisch und verrückt" -- "unser Gotthold macht nicht alles mit" -- dergleichen
Wendungen nehmen sich freilich in fünffüßigen Jamben wunderlich genug aus;
allein was kann der Dichter dafür, wenn sich die Frau Pfarrerin und ihr Fräu¬
lein Tochter so vulgär unterhalten? Noch wunderlicher sind neben den "ellen¬
langen Pfeifen" die "meilenlangen Stiefel." Vermuthlich hat Herr Keim einmal
etwas von Siebenmeilenstiefeln gehört und sich darunter Stiefel von ungeheurer
Länge vorgestellt.

Während Mutter und Tochter noch ihre Meinungen austauschen, bringt
Pastor Lessing den Cantor Fuchs, der im Begriff ist mit der Post nach Leipzig
zu fahren und den Kuchen mitnehmen soll. Der Herr Gevatter hat dem Pastor
gegenüber etwas auf dem Herzen. Nachdem daher die Frauen weggeschickt sind,
um die Kuchenschachtel nach dem Postwagen zu bringen, vertraut der Cantor
dem Freunde an, daß das Stipendium, welches Gotthold als 8tnäiosu8 tusoloßis-s
von den Vätern der Gemeinde beziehe, auf dem Spiele stehe infolge der schlimmen
Nachrichten, die über Gottholds Leben in Leipzig eingelaufen seien. Gotthold
sei gar kein Theolog, er habe "eine eigne Facultät." Damit zieht der Cantor
ein Briefchen von Lessinas Hand hervor, welches Dämon gefunden und dem
Oheim als Beleg nach Kamenz geschickt hat, und welches lautet:


Lin nationales Bühnonspiel.

Der erste Act spielt zunächst im Pfarrhause zu Kamenz. Justine, Lessings
Schwester, hat eben im Auftrage ihrer Mutter einen Weihnachtskuchen für den
Bruder gebacken und ist damit beschäftigt, ihn für die Post zurecht zu machen.
Sie thut das nicht in der besten Laune, denn sie liebt ihren Bruder nicht be¬
sonders zärtlich, weil sie ihrer Eitelkeit wegen früher oft von ihm geneckt worden
ist, sie ist auch neidisch auf ihn, weil er ihrer Meinung nach von der Mutter
verwöhnt wird, und sie hat endlich neuerdings von dem Cantor Fuchs, dem
Herrn Gevatter, dessen Neffe Dämon mit Lessing zusammen auf der Universität
in Leipzig ist, gehört, warum der Bruder so selten schreibe: er verkehre mit
lüderlichem Volk, mit Komödianten, mit denen er die Weihnachts- und Oster-
kuchen der Mutter theile. So begreift man denn das folgende Gespräch zwischen
Mutter und Tochter:


Ist das ein Volk, die Leipziger Studenten!
O! es giebt gar nichts Ärgres in der Welt!

Justine.

Was die nicht weiß!

Die Mutter.
Justine.

Sie leben wie die Heiden,
Sie schlagen sich mit Schlägern vor den Kops,
Sie rauchen keck aus ellenlangen Pfeifen,
Sie kleiden sich ganz närrisch und verrückt,
Sie gehn einher in meilenlangen Stiefeln,
Und jeder kämmt sein Haar bloß mit der Hand.


Die Mutter.

Es wird nicht gar so schrecklich sein, Justiuchen,
Und unser Gotthold macht uicht alles mit.


Diese Verse geben zugleich eine charakteristische Probe von der Umgangssprache,
die im Kamenzer Pfarrhause üblich ist. „Was die nicht weiß" — „ganz
närrisch und verrückt" — „unser Gotthold macht nicht alles mit" — dergleichen
Wendungen nehmen sich freilich in fünffüßigen Jamben wunderlich genug aus;
allein was kann der Dichter dafür, wenn sich die Frau Pfarrerin und ihr Fräu¬
lein Tochter so vulgär unterhalten? Noch wunderlicher sind neben den „ellen¬
langen Pfeifen" die „meilenlangen Stiefel." Vermuthlich hat Herr Keim einmal
etwas von Siebenmeilenstiefeln gehört und sich darunter Stiefel von ungeheurer
Länge vorgestellt.

Während Mutter und Tochter noch ihre Meinungen austauschen, bringt
Pastor Lessing den Cantor Fuchs, der im Begriff ist mit der Post nach Leipzig
zu fahren und den Kuchen mitnehmen soll. Der Herr Gevatter hat dem Pastor
gegenüber etwas auf dem Herzen. Nachdem daher die Frauen weggeschickt sind,
um die Kuchenschachtel nach dem Postwagen zu bringen, vertraut der Cantor
dem Freunde an, daß das Stipendium, welches Gotthold als 8tnäiosu8 tusoloßis-s
von den Vätern der Gemeinde beziehe, auf dem Spiele stehe infolge der schlimmen
Nachrichten, die über Gottholds Leben in Leipzig eingelaufen seien. Gotthold
sei gar kein Theolog, er habe „eine eigne Facultät." Damit zieht der Cantor
ein Briefchen von Lessinas Hand hervor, welches Dämon gefunden und dem
Oheim als Beleg nach Kamenz geschickt hat, und welches lautet:


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0268" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/150990"/>
          <fw type="header" place="top"> Lin nationales Bühnonspiel.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_874"> Der erste Act spielt zunächst im Pfarrhause zu Kamenz. Justine, Lessings<lb/>
Schwester, hat eben im Auftrage ihrer Mutter einen Weihnachtskuchen für den<lb/>
Bruder gebacken und ist damit beschäftigt, ihn für die Post zurecht zu machen.<lb/>
Sie thut das nicht in der besten Laune, denn sie liebt ihren Bruder nicht be¬<lb/>
sonders zärtlich, weil sie ihrer Eitelkeit wegen früher oft von ihm geneckt worden<lb/>
ist, sie ist auch neidisch auf ihn, weil er ihrer Meinung nach von der Mutter<lb/>
verwöhnt wird, und sie hat endlich neuerdings von dem Cantor Fuchs, dem<lb/>
Herrn Gevatter, dessen Neffe Dämon mit Lessing zusammen auf der Universität<lb/>
in Leipzig ist, gehört, warum der Bruder so selten schreibe: er verkehre mit<lb/>
lüderlichem Volk, mit Komödianten, mit denen er die Weihnachts- und Oster-<lb/>
kuchen der Mutter theile. So begreift man denn das folgende Gespräch zwischen<lb/>
Mutter und Tochter:</p><lb/>
          <quote>
            <p xml:id="ID_875"> Ist das ein Volk, die Leipziger Studenten!<lb/>
O! es giebt gar nichts Ärgres in der Welt!</p>
            <note type="speaker"> Justine. </note>
            <p xml:id="ID_876"> Was die nicht weiß!</p>
            <note type="speaker"> Die Mutter. </note><lb/>
            <note type="speaker"> Justine.</note>
            <p xml:id="ID_877"> Sie leben wie die Heiden,<lb/>
Sie schlagen sich mit Schlägern vor den Kops,<lb/>
Sie rauchen keck aus ellenlangen Pfeifen,<lb/>
Sie kleiden sich ganz närrisch und verrückt,<lb/>
Sie gehn einher in meilenlangen Stiefeln,<lb/>
Und jeder kämmt sein Haar bloß mit der Hand.</p><lb/>
            <note type="speaker"> Die Mutter.</note>
            <p xml:id="ID_878" next="#ID_879"> Es wird nicht gar so schrecklich sein, Justiuchen,<lb/>
Und unser Gotthold macht uicht alles mit.</p>
          </quote><lb/>
          <p xml:id="ID_879" prev="#ID_878"> Diese Verse geben zugleich eine charakteristische Probe von der Umgangssprache,<lb/>
die im Kamenzer Pfarrhause üblich ist.  &#x201E;Was die nicht weiß" &#x2014; &#x201E;ganz<lb/>
närrisch und verrückt" &#x2014; &#x201E;unser Gotthold macht nicht alles mit" &#x2014; dergleichen<lb/>
Wendungen nehmen sich freilich in fünffüßigen Jamben wunderlich genug aus;<lb/>
allein was kann der Dichter dafür, wenn sich die Frau Pfarrerin und ihr Fräu¬<lb/>
lein Tochter so vulgär unterhalten? Noch wunderlicher sind neben den &#x201E;ellen¬<lb/>
langen Pfeifen" die &#x201E;meilenlangen Stiefel."  Vermuthlich hat Herr Keim einmal<lb/>
etwas von Siebenmeilenstiefeln gehört und sich darunter Stiefel von ungeheurer<lb/>
Länge vorgestellt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_880" next="#ID_881"> Während Mutter und Tochter noch ihre Meinungen austauschen, bringt<lb/>
Pastor Lessing den Cantor Fuchs, der im Begriff ist mit der Post nach Leipzig<lb/>
zu fahren und den Kuchen mitnehmen soll. Der Herr Gevatter hat dem Pastor<lb/>
gegenüber etwas auf dem Herzen. Nachdem daher die Frauen weggeschickt sind,<lb/>
um die Kuchenschachtel nach dem Postwagen zu bringen, vertraut der Cantor<lb/>
dem Freunde an, daß das Stipendium, welches Gotthold als 8tnäiosu8 tusoloßis-s<lb/>
von den Vätern der Gemeinde beziehe, auf dem Spiele stehe infolge der schlimmen<lb/>
Nachrichten, die über Gottholds Leben in Leipzig eingelaufen seien. Gotthold<lb/>
sei gar kein Theolog, er habe &#x201E;eine eigne Facultät." Damit zieht der Cantor<lb/>
ein Briefchen von Lessinas Hand hervor, welches Dämon gefunden und dem<lb/>
Oheim als Beleg nach Kamenz geschickt hat, und welches lautet:</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0268] Lin nationales Bühnonspiel. Der erste Act spielt zunächst im Pfarrhause zu Kamenz. Justine, Lessings Schwester, hat eben im Auftrage ihrer Mutter einen Weihnachtskuchen für den Bruder gebacken und ist damit beschäftigt, ihn für die Post zurecht zu machen. Sie thut das nicht in der besten Laune, denn sie liebt ihren Bruder nicht be¬ sonders zärtlich, weil sie ihrer Eitelkeit wegen früher oft von ihm geneckt worden ist, sie ist auch neidisch auf ihn, weil er ihrer Meinung nach von der Mutter verwöhnt wird, und sie hat endlich neuerdings von dem Cantor Fuchs, dem Herrn Gevatter, dessen Neffe Dämon mit Lessing zusammen auf der Universität in Leipzig ist, gehört, warum der Bruder so selten schreibe: er verkehre mit lüderlichem Volk, mit Komödianten, mit denen er die Weihnachts- und Oster- kuchen der Mutter theile. So begreift man denn das folgende Gespräch zwischen Mutter und Tochter: Ist das ein Volk, die Leipziger Studenten! O! es giebt gar nichts Ärgres in der Welt! Justine. Was die nicht weiß! Die Mutter. Justine. Sie leben wie die Heiden, Sie schlagen sich mit Schlägern vor den Kops, Sie rauchen keck aus ellenlangen Pfeifen, Sie kleiden sich ganz närrisch und verrückt, Sie gehn einher in meilenlangen Stiefeln, Und jeder kämmt sein Haar bloß mit der Hand. Die Mutter. Es wird nicht gar so schrecklich sein, Justiuchen, Und unser Gotthold macht uicht alles mit. Diese Verse geben zugleich eine charakteristische Probe von der Umgangssprache, die im Kamenzer Pfarrhause üblich ist. „Was die nicht weiß" — „ganz närrisch und verrückt" — „unser Gotthold macht nicht alles mit" — dergleichen Wendungen nehmen sich freilich in fünffüßigen Jamben wunderlich genug aus; allein was kann der Dichter dafür, wenn sich die Frau Pfarrerin und ihr Fräu¬ lein Tochter so vulgär unterhalten? Noch wunderlicher sind neben den „ellen¬ langen Pfeifen" die „meilenlangen Stiefel." Vermuthlich hat Herr Keim einmal etwas von Siebenmeilenstiefeln gehört und sich darunter Stiefel von ungeheurer Länge vorgestellt. Während Mutter und Tochter noch ihre Meinungen austauschen, bringt Pastor Lessing den Cantor Fuchs, der im Begriff ist mit der Post nach Leipzig zu fahren und den Kuchen mitnehmen soll. Der Herr Gevatter hat dem Pastor gegenüber etwas auf dem Herzen. Nachdem daher die Frauen weggeschickt sind, um die Kuchenschachtel nach dem Postwagen zu bringen, vertraut der Cantor dem Freunde an, daß das Stipendium, welches Gotthold als 8tnäiosu8 tusoloßis-s von den Vätern der Gemeinde beziehe, auf dem Spiele stehe infolge der schlimmen Nachrichten, die über Gottholds Leben in Leipzig eingelaufen seien. Gotthold sei gar kein Theolog, er habe „eine eigne Facultät." Damit zieht der Cantor ein Briefchen von Lessinas Hand hervor, welches Dämon gefunden und dem Oheim als Beleg nach Kamenz geschickt hat, und welches lautet:

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157970
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157970/268
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157970/268>, abgerufen am 15.05.2024.