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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Viertes Quartal.

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Shakespeare in Frankreich.

wähnt werden mögen, die zwar sämmtlich aufgeführt wurden, aber bald wieder
von der Bühne verschwanden. Ihnen folgte eine wortgetreue Uebersetzung des
^ulös von Auguste Barbier, des lioi -IsZ-n und der ^o^susss bourg'voisv"
ä"z 'Winäsor von Erneste Prarond, des Kiön^ra III. von S6jour, des
(!omws it von" Mirs, von Georges Sand, des Ottisllo von Ayeard n. f. w.
Daneben liefen eine Menge Shakespeare-Studien her, bei denen man den Namen
von Amadse Pichvt, Georges Sand, Villcmcmi, Chasles, Edgar Qninet, Lemoine,
Se. Marc Girardin, Ste. Beuve, Jules Janin, Hippolyte Lucas begegnet. Be¬
sondere Hervorhebung mag ^Villmna LnÄcssxöM von Victor Hugo (1864) noch
finden; sowie Mcziöres mit seinem LlmKöspeM'S, Los amorph se 868 sorits (1861),
Alexandre Büchner mit I^Sö oowöäiös as 8IiÄ(08xöMg (1865), und endlich H.
Taine mit seiner Histoirs cis 1s littgi^ore anFlNss.

So geistvoll die Bemerkungen sind, welche der letztgenannte glänzende
Literarhistoriker an seine Betrachtung der Erscheinung Shakespeares geknüpft, so
vieles Treffende und Tiefsinnige dieselben enthalten, so groß und warm die sich
darin manifestirende Begeisterung für dessen Werke ist, so läßt sich darin doch
im ganzen ein Rückschritt gegen die Auffassung Guizots nicht verkennen. Taine
hält Shakespeare zuletzt doch wieder wie Voltaire für ein bloßes Naturgenie,
nur daß dieses nach seiner Meinung überall das Rechte trifft. Dagegen spricht
er seinen Dramen jede eigentliche künstlerische Organisation ab; sie sind ihm
entweder nur chronikalische Berichte oder in Scenen und Acte abgetheilte No¬
vellen in dialogisch-dramatischer Form. Trotz ihrer außerordentlichen indivi¬
duellen Verschiedenheit sollen Shakespeares Menschen doch nur alle derselben Fa¬
milie angehören. Gut oder schlecht, roh oder zart, geistvoll oder beschränkt, habe
er ihnen allen nur einerlei Art von Natur gegeben, und diese sei seine eigne.
Er habe sie alle zu Leuten gemacht, die ganz unter der Herrschaft der Ein¬
bildungskraft stehen, wie des Willens und der Vernunft beraubt, ohne
Sittlichkeit und Gewissen, nur von den Antrieben ihrer Natur im Guten und
Bösen bewegt werden und, sich dabei hart gegeneinanderftoßend, dem Auge einen
Einblick in das Innerste der Natur und das geheimste Wesen des Menschen
verstatten. Denn dieses Ueberwiegen der Einbildungskraft soll nach Taine wie
gegen Ende des 16. Jahrhunderts der Grundzug der Menschen englischer Race,
so auch Shakespeares sein.

Gewiß steht in der dichterischen Thätigkeit dieses letztern die Phantasie
obenan, doch nicht mehr, als es in der Natur dieser Thätigkeit liegt. Nicht
minder erscheinen bei ihm alle andern dabei wirksamen Thätigkeiten des Geistes
daneben entwickelt. Insbesondre hat es ihm nie, wo er es mit der Darstellung
der sittlichen Seite des Menschen zu thun hatte, an sittlichem Pathos gefehlt-
Die tief ethische Natur dieses Dichters, die gerade das ist, was ihn über alle
andern Dramatiker der Zeit erhebt, offenbart sich freilich nicht sowohl in den
einzelnen Charakteren, obschon es, wie Hamlet, Macbeth, Brutus, Heinrich I V.


Shakespeare in Frankreich.

wähnt werden mögen, die zwar sämmtlich aufgeführt wurden, aber bald wieder
von der Bühne verschwanden. Ihnen folgte eine wortgetreue Uebersetzung des
^ulös von Auguste Barbier, des lioi -IsZ-n und der ^o^susss bourg'voisv«
ä«z 'Winäsor von Erneste Prarond, des Kiön^ra III. von S6jour, des
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Daneben liefen eine Menge Shakespeare-Studien her, bei denen man den Namen
von Amadse Pichvt, Georges Sand, Villcmcmi, Chasles, Edgar Qninet, Lemoine,
Se. Marc Girardin, Ste. Beuve, Jules Janin, Hippolyte Lucas begegnet. Be¬
sondere Hervorhebung mag ^Villmna LnÄcssxöM von Victor Hugo (1864) noch
finden; sowie Mcziöres mit seinem LlmKöspeM'S, Los amorph se 868 sorits (1861),
Alexandre Büchner mit I^Sö oowöäiös as 8IiÄ(08xöMg (1865), und endlich H.
Taine mit seiner Histoirs cis 1s littgi^ore anFlNss.

So geistvoll die Bemerkungen sind, welche der letztgenannte glänzende
Literarhistoriker an seine Betrachtung der Erscheinung Shakespeares geknüpft, so
vieles Treffende und Tiefsinnige dieselben enthalten, so groß und warm die sich
darin manifestirende Begeisterung für dessen Werke ist, so läßt sich darin doch
im ganzen ein Rückschritt gegen die Auffassung Guizots nicht verkennen. Taine
hält Shakespeare zuletzt doch wieder wie Voltaire für ein bloßes Naturgenie,
nur daß dieses nach seiner Meinung überall das Rechte trifft. Dagegen spricht
er seinen Dramen jede eigentliche künstlerische Organisation ab; sie sind ihm
entweder nur chronikalische Berichte oder in Scenen und Acte abgetheilte No¬
vellen in dialogisch-dramatischer Form. Trotz ihrer außerordentlichen indivi¬
duellen Verschiedenheit sollen Shakespeares Menschen doch nur alle derselben Fa¬
milie angehören. Gut oder schlecht, roh oder zart, geistvoll oder beschränkt, habe
er ihnen allen nur einerlei Art von Natur gegeben, und diese sei seine eigne.
Er habe sie alle zu Leuten gemacht, die ganz unter der Herrschaft der Ein¬
bildungskraft stehen, wie des Willens und der Vernunft beraubt, ohne
Sittlichkeit und Gewissen, nur von den Antrieben ihrer Natur im Guten und
Bösen bewegt werden und, sich dabei hart gegeneinanderftoßend, dem Auge einen
Einblick in das Innerste der Natur und das geheimste Wesen des Menschen
verstatten. Denn dieses Ueberwiegen der Einbildungskraft soll nach Taine wie
gegen Ende des 16. Jahrhunderts der Grundzug der Menschen englischer Race,
so auch Shakespeares sein.

Gewiß steht in der dichterischen Thätigkeit dieses letztern die Phantasie
obenan, doch nicht mehr, als es in der Natur dieser Thätigkeit liegt. Nicht
minder erscheinen bei ihm alle andern dabei wirksamen Thätigkeiten des Geistes
daneben entwickelt. Insbesondre hat es ihm nie, wo er es mit der Darstellung
der sittlichen Seite des Menschen zu thun hatte, an sittlichem Pathos gefehlt-
Die tief ethische Natur dieses Dichters, die gerade das ist, was ihn über alle
andern Dramatiker der Zeit erhebt, offenbart sich freilich nicht sowohl in den
einzelnen Charakteren, obschon es, wie Hamlet, Macbeth, Brutus, Heinrich I V.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157970/32>, abgerufen am 15.05.2024.