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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Viertes Quartal.

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Die sociale Frage im Roman.

über den Fluch der Lächerlichkeit hinwegzusetzen und das brave Mädchen zur
Frau zu nehmen, sondern kommt betrunken an Bord des Auswandererschiffcs,
auf dem Doctor Johann mit seiner Schwester davonfährt. Es ist eine un¬
zweifelhafte Schärfe der Beobachtung in diesen sämmtlichen Darstellungen und
Scenen, jeden einzelnen Zug kauu man als wahr und lebensvoll gelten lassen.
Aber die Verbindung dieser Züge zum Ganzen ist unwahr und tendenziös. Es
giebt kein Land der Welt, wo so genährte Drohnen so armen und hilflosen
Arbeitsbienen gegenüberstanden, wie es nach Kiellands Roman den Anschein ge¬
winnt. Will der Verfasser mit seiner Darstellung sagen, daß die sogenannte
geistige Arbeit, die gar oft keine Arbeit ist, und der geschäftige Müßiggang zu
hoch im Preise stehen und die schlichte Arbeit der Hand zu niedrig -- so ist
dies eine Wahrheit, wenn auch keine poetische, will er glauben machen, daß zwei
Gegensätze wie Njcidel Vatnemo und Andreas Mob zwei große unversöhnbare
Gegensätze des Volkslebens darstellen, so widerspricht ihm jeder schlichte Blick
auf das Leben in seiner Fülle und Mannichfaltigkeit. Der Roman Kiellands
behandelt die sociale Frage mit einer erschreckenden Einseitigkeit und deutet auch
nicht entfernt an, wie die Wirrniß dieser Zustände im guten gelöst werden soll.

Rein als Kunstschöpfung behandelt, sind Kiellands "Arbeiter" ein inter¬
essantes Zeugniß für die Weiterwirkung des neuesten französischen, durch Zola
reprüscntirten und zu einem ästhetischen Evangelium erhobenen Naturalismus.
Die "analytische" Methode, die "wissenschaftliche" Menschenbeobachtung, welche
hier von keinem unbedeutenden und unebenbürtiger Nachfolger des großen Na¬
turalisten angewandt wird, scheint sich im wesentlichen nur mit den häßlichsten
Auswüchsen des socialen Organismus beschäftigen zu wollen und zu können-
Diese Darstellungen wirken in ihrer Vorliebe für das absolut widrige und
schlechthin abstoßende im höchsten Maße peinlich. Die originellen Schilderungen
können darüber nicht hinaushelfen, selbst Meisterstücke in ihrer Art wie z. B.
die Darstellung des Hochzeitsmahles von Andreas Mob oder des Gabelfrüh¬
stücks im Hause des Ministers beim Einzuge des Königs in Christiania wirken
nur peinlich, weil das Auge des Verfassers nirgend ein Licht, nirgend einen
freundlichen und gewinnenden Zug zu entdecken weiß. Andre Schilderungen
wie die des Aufbruchs der Wandervögel von Aegypten nach dem Norden, des
Postschiffes und der Postkajüte, die überall von einem ungemeinen Talent zeugen,
gehören doch eigentlich kaum in den Rahmen der "Arbeiter." Sie unterbrechen
die düstre, durch und durch verbitterte Weltdarstellung, in welcher sich Kielland
gefällt, aber sie söhnen den feiner empfindende", von andern Kunstüberzeugungen
beseelten Leser weder mit der literarischen Richtung noch mit der socialpolitischen
Tendenz des norwegischen Dichters aus.




Die sociale Frage im Roman.

über den Fluch der Lächerlichkeit hinwegzusetzen und das brave Mädchen zur
Frau zu nehmen, sondern kommt betrunken an Bord des Auswandererschiffcs,
auf dem Doctor Johann mit seiner Schwester davonfährt. Es ist eine un¬
zweifelhafte Schärfe der Beobachtung in diesen sämmtlichen Darstellungen und
Scenen, jeden einzelnen Zug kauu man als wahr und lebensvoll gelten lassen.
Aber die Verbindung dieser Züge zum Ganzen ist unwahr und tendenziös. Es
giebt kein Land der Welt, wo so genährte Drohnen so armen und hilflosen
Arbeitsbienen gegenüberstanden, wie es nach Kiellands Roman den Anschein ge¬
winnt. Will der Verfasser mit seiner Darstellung sagen, daß die sogenannte
geistige Arbeit, die gar oft keine Arbeit ist, und der geschäftige Müßiggang zu
hoch im Preise stehen und die schlichte Arbeit der Hand zu niedrig — so ist
dies eine Wahrheit, wenn auch keine poetische, will er glauben machen, daß zwei
Gegensätze wie Njcidel Vatnemo und Andreas Mob zwei große unversöhnbare
Gegensätze des Volkslebens darstellen, so widerspricht ihm jeder schlichte Blick
auf das Leben in seiner Fülle und Mannichfaltigkeit. Der Roman Kiellands
behandelt die sociale Frage mit einer erschreckenden Einseitigkeit und deutet auch
nicht entfernt an, wie die Wirrniß dieser Zustände im guten gelöst werden soll.

Rein als Kunstschöpfung behandelt, sind Kiellands „Arbeiter" ein inter¬
essantes Zeugniß für die Weiterwirkung des neuesten französischen, durch Zola
reprüscntirten und zu einem ästhetischen Evangelium erhobenen Naturalismus.
Die „analytische" Methode, die „wissenschaftliche" Menschenbeobachtung, welche
hier von keinem unbedeutenden und unebenbürtiger Nachfolger des großen Na¬
turalisten angewandt wird, scheint sich im wesentlichen nur mit den häßlichsten
Auswüchsen des socialen Organismus beschäftigen zu wollen und zu können-
Diese Darstellungen wirken in ihrer Vorliebe für das absolut widrige und
schlechthin abstoßende im höchsten Maße peinlich. Die originellen Schilderungen
können darüber nicht hinaushelfen, selbst Meisterstücke in ihrer Art wie z. B.
die Darstellung des Hochzeitsmahles von Andreas Mob oder des Gabelfrüh¬
stücks im Hause des Ministers beim Einzuge des Königs in Christiania wirken
nur peinlich, weil das Auge des Verfassers nirgend ein Licht, nirgend einen
freundlichen und gewinnenden Zug zu entdecken weiß. Andre Schilderungen
wie die des Aufbruchs der Wandervögel von Aegypten nach dem Norden, des
Postschiffes und der Postkajüte, die überall von einem ungemeinen Talent zeugen,
gehören doch eigentlich kaum in den Rahmen der „Arbeiter." Sie unterbrechen
die düstre, durch und durch verbitterte Weltdarstellung, in welcher sich Kielland
gefällt, aber sie söhnen den feiner empfindende», von andern Kunstüberzeugungen
beseelten Leser weder mit der literarischen Richtung noch mit der socialpolitischen
Tendenz des norwegischen Dichters aus.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157970/38>, abgerufen am 14.05.2024.