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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Viertes Quartal.

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von? Reichskanzler und vom Reichstage.

loszusteuern hat, werden die jeweiligen Conjnucturen ihr zeigen; sicher ist für
jetzt nur, daß sie jenes Ziel unverrückt und unter allen Umständen im Ange
behalten wird. Der Reichskanzler hat in der Conflictszeit standhaft sich be¬
müht, seiner Ueberzeugung Geltung zu verschaffen, und er wird dies auch jetzt
thun. Er hat damals seinen König nicht verlassen, er wird auch in der gegen¬
wärtigen Verwicklung an seiner Seite bleiben, so lange dieser ihm nicht erlaubt,
zurückzutreten. Er denkt für den Fall der Ablehnung seiner Pläne nicht an
Auflösung des Reichstages, zumal da ihm das Ergebniß der letzten Wahlen
bei näherer Betrachtung nicht als Verurtheilung der Negiernngsvvlitik erscheint;
denn nicht nach der Zahl der gewählten Abgeordneten ist, wie er meint, zu
urtheilen, sondern nach der bei den ersten Wahlen constatirten Summe der Gc-
scnnmtstimmcn, und da ergiebt sich, daß für alle Parteien mit Ausnahme der
Conservativen, der Polen und der Volkspartei diesmal weniger Stimmen ab¬
gegeben worden sind als früher. Mit der Zeit, so hofft er, wird die Bevölkerung
der Agitation der oppositionellen Parteien nicht mehr folgen, auch wird, wie
er weiter erwartet, der Reichstag sich mehr und mehr mit deu in der Votschaft
empfohlenen Plänen befreunden.

Mißverständniß oder Deutung nach liberalen Wünschen scheint es, wenn
der Kanzler gesagt haben soll, "falls er seine Projecte nicht durchführen könne,
so werde er sich mit dem Altcntheile der auswärtigen Angelegenheiten begnügen
und sür das Innere einen Vicekanzler schaffen, das Stellvertretungsgcsetz würde
dann hier eintreten können." Hier läßt das Referat ohne Zweifel absichtlich
oder unabsichtlich etwas aus, oder der Kanzler hat sich nicht vollständig aus¬
gesprochen. Eine solche Stellvertretung widerspräche der Thatsache, daß der
Reichskanzler allein die Verantwortlichkeit trägt, und so lange das nicht ge¬
ändert wäre, würde der neue NeichSmiuister für das Innere vom Willen des
Kanzlers abhängig, also in Wahrheit nur eine Art Stantssceretär sein. Ans
Dauer der neuen Einrichtung wäre ferner so wenig zu rechnen wie früher ans
mehr als vorübergehenden Rücktritt des Fürsten von der Ministerpräsidentschaft;
denn Inneres und Aeußeres sind im Reiche schwer oder gar nicht zu trennen.
Uebrigens läge die Verwirklichung des Gedankens, wenn er überhaupt mit den
oben angeführten Worten genau wiedergegeben wäre, da im diesmaligen Etat
für den Reichskanzler und die Reichskanzlei ein Gehaltssatz für den "Vicekanzler"
oder einen ähnlichen Reichsbeamten nicht zu finden ist, in so weiter Ferne, daß
inzwischen hundert Ereignisse verschiedenster Art eintreten könnten, vor welchen
man davon absehen müßte.

Am 24. November begann der Reichstag die Generaldiscussion des Neichs-
ctats. Nach Absicht der liberalen Fractionen sollte es ein großer Tag werden,
ein Schauspiel für Götter und Menschen, von dem ihnen noch lange die Ohren
klingen würden. Alles wurde bestens zugerüstet, organisirt und vertheilt. Man
verständigte sich über die Rollen, welche die Matadore spielen, und über die


von? Reichskanzler und vom Reichstage.

loszusteuern hat, werden die jeweiligen Conjnucturen ihr zeigen; sicher ist für
jetzt nur, daß sie jenes Ziel unverrückt und unter allen Umständen im Ange
behalten wird. Der Reichskanzler hat in der Conflictszeit standhaft sich be¬
müht, seiner Ueberzeugung Geltung zu verschaffen, und er wird dies auch jetzt
thun. Er hat damals seinen König nicht verlassen, er wird auch in der gegen¬
wärtigen Verwicklung an seiner Seite bleiben, so lange dieser ihm nicht erlaubt,
zurückzutreten. Er denkt für den Fall der Ablehnung seiner Pläne nicht an
Auflösung des Reichstages, zumal da ihm das Ergebniß der letzten Wahlen
bei näherer Betrachtung nicht als Verurtheilung der Negiernngsvvlitik erscheint;
denn nicht nach der Zahl der gewählten Abgeordneten ist, wie er meint, zu
urtheilen, sondern nach der bei den ersten Wahlen constatirten Summe der Gc-
scnnmtstimmcn, und da ergiebt sich, daß für alle Parteien mit Ausnahme der
Conservativen, der Polen und der Volkspartei diesmal weniger Stimmen ab¬
gegeben worden sind als früher. Mit der Zeit, so hofft er, wird die Bevölkerung
der Agitation der oppositionellen Parteien nicht mehr folgen, auch wird, wie
er weiter erwartet, der Reichstag sich mehr und mehr mit deu in der Votschaft
empfohlenen Plänen befreunden.

Mißverständniß oder Deutung nach liberalen Wünschen scheint es, wenn
der Kanzler gesagt haben soll, „falls er seine Projecte nicht durchführen könne,
so werde er sich mit dem Altcntheile der auswärtigen Angelegenheiten begnügen
und sür das Innere einen Vicekanzler schaffen, das Stellvertretungsgcsetz würde
dann hier eintreten können." Hier läßt das Referat ohne Zweifel absichtlich
oder unabsichtlich etwas aus, oder der Kanzler hat sich nicht vollständig aus¬
gesprochen. Eine solche Stellvertretung widerspräche der Thatsache, daß der
Reichskanzler allein die Verantwortlichkeit trägt, und so lange das nicht ge¬
ändert wäre, würde der neue NeichSmiuister für das Innere vom Willen des
Kanzlers abhängig, also in Wahrheit nur eine Art Stantssceretär sein. Ans
Dauer der neuen Einrichtung wäre ferner so wenig zu rechnen wie früher ans
mehr als vorübergehenden Rücktritt des Fürsten von der Ministerpräsidentschaft;
denn Inneres und Aeußeres sind im Reiche schwer oder gar nicht zu trennen.
Uebrigens läge die Verwirklichung des Gedankens, wenn er überhaupt mit den
oben angeführten Worten genau wiedergegeben wäre, da im diesmaligen Etat
für den Reichskanzler und die Reichskanzlei ein Gehaltssatz für den „Vicekanzler"
oder einen ähnlichen Reichsbeamten nicht zu finden ist, in so weiter Ferne, daß
inzwischen hundert Ereignisse verschiedenster Art eintreten könnten, vor welchen
man davon absehen müßte.

Am 24. November begann der Reichstag die Generaldiscussion des Neichs-
ctats. Nach Absicht der liberalen Fractionen sollte es ein großer Tag werden,
ein Schauspiel für Götter und Menschen, von dem ihnen noch lange die Ohren
klingen würden. Alles wurde bestens zugerüstet, organisirt und vertheilt. Man
verständigte sich über die Rollen, welche die Matadore spielen, und über die


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157970/396>, abgerufen am 14.05.2024.