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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Viertes Quartal.

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vom Reichskanzler und vom Reichstage,

und gegen dessen Wunsch und Ueberzeugung verfolgen sollte, und jetzt findet sie
es nicht in der Ordnung, wenn die Botschaft diese Behauptung der Unwahrheit
zeiht. Zweitens aber verwechselt diese Partei das, was sie möchte, mit dem,
was thaisächlich existirt. In Deutschland wird wie in Preußen constitutionell,
aber nicht parlamentarisch regiert. Der Monarch ist nach unsrer Verfassung
kein Schatten, sondern eine Persönlichkeit mit lebendigem nud schwerwiegenden
Willen. Das Parlament ist ein mitbeschließcnder Factor bei der Gesetzgebung,
die von seiner Mehrheit vertretene Meinung aber kann, wie sie dem Souverän
nicht Minister ans der Mitte dieser Mehrheit aufdrängen kann, ihn auch nicht
hindern, seiner Ueberzeugung in kritischen Augenblicken öffentlich und feierlich
Worte zu geben und dieselbe so in die schwankende Wagschale zu werfen. Wer
dieses Recht des Monarchen angreift, versucht seine gesetzliche Macht zu schmälern
und die Volkssouveränetät auf den Thron zu setzen, die freilich der Ausgangs-
punkt des politischen Denkens und das Ziel des politischen Strebens der Fort¬
schrittspartei und ihres seecssionistischen Anhangs ist.

Wie man hört, werden die Liberalen oder ein Theil derselben den Rechen¬
schaftsbericht über die Ausführung des Socialistengesetzes in Preußen, Sachsen
und Hamburg benutzen, um auf Abschaffung desselben anzutragen. Dieser Rechen¬
schaftsbericht hat nun in der That nicht viel erfreuliches zu melden. Das
Gesetz, bekanntlich im October 1873 ergangen und bis Ende September 1884
giltig, hat kein Erlöschen des socialdemokratischen Brandes zur Folge gehabt,
derselbe schwebte vielmehr heimlich fort. Die Partei ist nach wie vor organisirt,
die Agitation wird durch Flugschriften und nichtöffentliche Zusammenkünfte
fortbetrieben. Man hat Versuche gemacht, sie auf das Heer auszudehnen. Das
spricht in der That nicht für eine starke Wirkung des genannten Gesetzes. Allein
anderseits ist zu beachten, daß eine so geschickt zerstreute, so weit verbreitete
und, was die Hauptsache ist, in einen so sehr durch wirkliche Noth gelockerten
und empfänglich gemachten Boden versenkte Saat schwer und erst nach vielen
Jahren auszurotten sein wird, wenn nicht die socialen Reformen, mit denen der
Reichskanzler jener Noth abhelfen will, verwirklicht werden; auch darf man
wohl sagen: Besäßen wir das Socialistengesetz nicht, so stünden wir gegenwärtig
aller Wahrscheinlichkeit nach vor Zuständen, mit denen verglichen die jetzt herr¬
schenden als außerordentlich günstige zu bezeichnen sein würden.

Wie wir ferner erfahre,?, wird die in den Etat des Reichsamtes des Innern
eingestellte Forderung von 35 000 Mark für den deutschen Volkswirthschafts¬
rath, die ni der letzten Session abgelehnt wurde und nnn wiederkehrt, auf selten
der Liberalen, welche diese Institution als eine politische betrachten und in ihr
eine Concnrrentin des Reichstages erblicken, lebhaftem Widerspruch begegnen.
Dieser Widerspruch beruht aber vorwiegend auf irrthümlicher Ansicht. Die Re¬
gierung denkt nicht daran, mit dem Vvlksivirthschaftsrath zwischen den Bundes¬
rath und den Reichstag eine neue Körperschaft mit politischen Befugnissen ein-


vom Reichskanzler und vom Reichstage,

und gegen dessen Wunsch und Ueberzeugung verfolgen sollte, und jetzt findet sie
es nicht in der Ordnung, wenn die Botschaft diese Behauptung der Unwahrheit
zeiht. Zweitens aber verwechselt diese Partei das, was sie möchte, mit dem,
was thaisächlich existirt. In Deutschland wird wie in Preußen constitutionell,
aber nicht parlamentarisch regiert. Der Monarch ist nach unsrer Verfassung
kein Schatten, sondern eine Persönlichkeit mit lebendigem nud schwerwiegenden
Willen. Das Parlament ist ein mitbeschließcnder Factor bei der Gesetzgebung,
die von seiner Mehrheit vertretene Meinung aber kann, wie sie dem Souverän
nicht Minister ans der Mitte dieser Mehrheit aufdrängen kann, ihn auch nicht
hindern, seiner Ueberzeugung in kritischen Augenblicken öffentlich und feierlich
Worte zu geben und dieselbe so in die schwankende Wagschale zu werfen. Wer
dieses Recht des Monarchen angreift, versucht seine gesetzliche Macht zu schmälern
und die Volkssouveränetät auf den Thron zu setzen, die freilich der Ausgangs-
punkt des politischen Denkens und das Ziel des politischen Strebens der Fort¬
schrittspartei und ihres seecssionistischen Anhangs ist.

Wie man hört, werden die Liberalen oder ein Theil derselben den Rechen¬
schaftsbericht über die Ausführung des Socialistengesetzes in Preußen, Sachsen
und Hamburg benutzen, um auf Abschaffung desselben anzutragen. Dieser Rechen¬
schaftsbericht hat nun in der That nicht viel erfreuliches zu melden. Das
Gesetz, bekanntlich im October 1873 ergangen und bis Ende September 1884
giltig, hat kein Erlöschen des socialdemokratischen Brandes zur Folge gehabt,
derselbe schwebte vielmehr heimlich fort. Die Partei ist nach wie vor organisirt,
die Agitation wird durch Flugschriften und nichtöffentliche Zusammenkünfte
fortbetrieben. Man hat Versuche gemacht, sie auf das Heer auszudehnen. Das
spricht in der That nicht für eine starke Wirkung des genannten Gesetzes. Allein
anderseits ist zu beachten, daß eine so geschickt zerstreute, so weit verbreitete
und, was die Hauptsache ist, in einen so sehr durch wirkliche Noth gelockerten
und empfänglich gemachten Boden versenkte Saat schwer und erst nach vielen
Jahren auszurotten sein wird, wenn nicht die socialen Reformen, mit denen der
Reichskanzler jener Noth abhelfen will, verwirklicht werden; auch darf man
wohl sagen: Besäßen wir das Socialistengesetz nicht, so stünden wir gegenwärtig
aller Wahrscheinlichkeit nach vor Zuständen, mit denen verglichen die jetzt herr¬
schenden als außerordentlich günstige zu bezeichnen sein würden.

Wie wir ferner erfahre,?, wird die in den Etat des Reichsamtes des Innern
eingestellte Forderung von 35 000 Mark für den deutschen Volkswirthschafts¬
rath, die ni der letzten Session abgelehnt wurde und nnn wiederkehrt, auf selten
der Liberalen, welche diese Institution als eine politische betrachten und in ihr
eine Concnrrentin des Reichstages erblicken, lebhaftem Widerspruch begegnen.
Dieser Widerspruch beruht aber vorwiegend auf irrthümlicher Ansicht. Die Re¬
gierung denkt nicht daran, mit dem Vvlksivirthschaftsrath zwischen den Bundes¬
rath und den Reichstag eine neue Körperschaft mit politischen Befugnissen ein-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157970/398>, abgerufen am 14.05.2024.