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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Viertes Quartal.

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(Lduard von Hartmann als Politiker.

liebe" Jnteressenschacher (z. B. beim Zolltarif) ... Die werthvollsten Gesetze
scheitern nicht selten daran, daß jedes Amendement Majoritäten andrer Art
gegen sich vereinigt, und so wird jedes Ergebniß zu einem unberechenbaren
Würfelspiel. Ist es da ein Wunder, wenn das Volk längst müde ist, diesen
ursachlichen Parteihader und dieses unfruchtbare Parteigezänk zu verfolgen?
Wer kümmert sich um stenographische Berichte, wer liest auch nur -- wenn der
Kanzler sich nicht an der Debatte betheiligt hat, fügen wir hinzu -- die aus¬
führlichen Berichte der Zeitungen, es sei denn, daß gerade ausnahmsweise ein
besonders wichtiger Gegenstand vorliegt? Wer athmet nicht erleichtert auf, wenn
die Parlamentsferien beginnen? ...

Der Parlamentarismus hat längst aufgehört, ein Ideal des deutschen Volles
zu sein, seit es mit demselben practisch vertraut geworden ist. ... Es sieht in
den Intentionen der Regierung Einheit, Stetigkeit des Willens, planvolle An¬
sicht und technische Tüchtigkeit, in den Durchkreuzungen von feiten des Parla¬
ments Uneinigkeit, Unklarheit, Unsicherheit, Schwanken und Unberechenbarkeit,
nicht selten gepaart mit ursachlichen Entscheidungsmotiven und Unzulänglichkeit
des technischen Wollens und Könnens. Es hat deshalb im ganzen Vertrauen
zur Regierung, aber gerechtfertiges Mißtrauen gegen die Ergebnisse des parla¬
mentarischen Parteischachers und Abstimmungswürfelspiels. Bei solcher Stim¬
mung ist es weit davon entfernt, sich mit dem Liberalismus für eine Stärkung
der Parlcuneutsmacht und eine Schmälerung der Regierungsgewalt zu begeistern
und auf solche hinarbeiten zu wollen. Wenn in der ältern Generation noch
solche Neigungen bestehen, so finden sie unter der jüngern desto weniger Boden--
Die Beispiele von Italien, Oesterreich, Griechenland, Rumänien und Bulgarien
haben eine wesentlich andre Meinung über den Werth der parlamentarischen
Regierungsform verbreiten helfen, als unsre Väter Gelegenheit hatten, sich zu
bilden. Ja sogar der Musterstaat des Constitutionalismus hat uns erst kürzlich
in dem plötzlichen Umsturze der gesammten äußern Politik durch einen Wechsel
der Parlamcntsmajorität die Schattenseiten des Systems kennen gelehrt und
zeigt uns drohend im geschichtlichen Hintergrunde nach Beendigung des unvermeid¬
lichen Fortganges der Wahlreform eine Zeit, wo das System auch da aufhören
muß, passend zu sein, wo es naturgemäß erwachsen ist. Frankreich endlich . , .
giebt uns eben jetzt wieder ein Beispiel, daß der Genius des französischen Volkes
immer von neuem dahin strebt, die doctrinären Fesseln der parlamentarischen
Schablone zu zerbrechen und das Volksgeschick einem Dictator anzuvertrauen....

Das deutsche Volk besinnt sich nachgerade darauf, daß etwas noch nicht das
wahre Heilmittel seiner politischen Schäden zu sein braucht, wenn es unter ganz
andern Voraussetzungen in England dafür gegolten hat; es fängt an zu ahnen,
daß es seiner würdiger ist, die Formen seines Staatslebens organisch aus seineu
eignen geschichtlichen Voraussetzungen zu erzeugen, als sie von auswärts zu be¬
ziehen. Es begreift nach und uach, daß ein Hauptvortheil seiner Politik gegen


Ärenzboten IV. 1881.
(Lduard von Hartmann als Politiker.

liebe» Jnteressenschacher (z. B. beim Zolltarif) ... Die werthvollsten Gesetze
scheitern nicht selten daran, daß jedes Amendement Majoritäten andrer Art
gegen sich vereinigt, und so wird jedes Ergebniß zu einem unberechenbaren
Würfelspiel. Ist es da ein Wunder, wenn das Volk längst müde ist, diesen
ursachlichen Parteihader und dieses unfruchtbare Parteigezänk zu verfolgen?
Wer kümmert sich um stenographische Berichte, wer liest auch nur — wenn der
Kanzler sich nicht an der Debatte betheiligt hat, fügen wir hinzu — die aus¬
führlichen Berichte der Zeitungen, es sei denn, daß gerade ausnahmsweise ein
besonders wichtiger Gegenstand vorliegt? Wer athmet nicht erleichtert auf, wenn
die Parlamentsferien beginnen? ...

Der Parlamentarismus hat längst aufgehört, ein Ideal des deutschen Volles
zu sein, seit es mit demselben practisch vertraut geworden ist. ... Es sieht in
den Intentionen der Regierung Einheit, Stetigkeit des Willens, planvolle An¬
sicht und technische Tüchtigkeit, in den Durchkreuzungen von feiten des Parla¬
ments Uneinigkeit, Unklarheit, Unsicherheit, Schwanken und Unberechenbarkeit,
nicht selten gepaart mit ursachlichen Entscheidungsmotiven und Unzulänglichkeit
des technischen Wollens und Könnens. Es hat deshalb im ganzen Vertrauen
zur Regierung, aber gerechtfertiges Mißtrauen gegen die Ergebnisse des parla¬
mentarischen Parteischachers und Abstimmungswürfelspiels. Bei solcher Stim¬
mung ist es weit davon entfernt, sich mit dem Liberalismus für eine Stärkung
der Parlcuneutsmacht und eine Schmälerung der Regierungsgewalt zu begeistern
und auf solche hinarbeiten zu wollen. Wenn in der ältern Generation noch
solche Neigungen bestehen, so finden sie unter der jüngern desto weniger Boden—
Die Beispiele von Italien, Oesterreich, Griechenland, Rumänien und Bulgarien
haben eine wesentlich andre Meinung über den Werth der parlamentarischen
Regierungsform verbreiten helfen, als unsre Väter Gelegenheit hatten, sich zu
bilden. Ja sogar der Musterstaat des Constitutionalismus hat uns erst kürzlich
in dem plötzlichen Umsturze der gesammten äußern Politik durch einen Wechsel
der Parlamcntsmajorität die Schattenseiten des Systems kennen gelehrt und
zeigt uns drohend im geschichtlichen Hintergrunde nach Beendigung des unvermeid¬
lichen Fortganges der Wahlreform eine Zeit, wo das System auch da aufhören
muß, passend zu sein, wo es naturgemäß erwachsen ist. Frankreich endlich . , .
giebt uns eben jetzt wieder ein Beispiel, daß der Genius des französischen Volkes
immer von neuem dahin strebt, die doctrinären Fesseln der parlamentarischen
Schablone zu zerbrechen und das Volksgeschick einem Dictator anzuvertrauen....

Das deutsche Volk besinnt sich nachgerade darauf, daß etwas noch nicht das
wahre Heilmittel seiner politischen Schäden zu sein braucht, wenn es unter ganz
andern Voraussetzungen in England dafür gegolten hat; es fängt an zu ahnen,
daß es seiner würdiger ist, die Formen seines Staatslebens organisch aus seineu
eignen geschichtlichen Voraussetzungen zu erzeugen, als sie von auswärts zu be¬
ziehen. Es begreift nach und uach, daß ein Hauptvortheil seiner Politik gegen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157970/547>, abgerufen am 15.05.2024.