Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Viertes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Die angekündigte Reform im Lohrplrmc der Gymnasien,

das praktische Bedürfniß, welches früher zum Studium der lateinischen Sprache
antrieb, im Verlauf der Zeit weit geringer geworden ist. Für die ethische und
ästhetische Bildung des Geistes aber ist die griechische Literatur von weit grö¬
ßerer Bedeutung als die lateinische. In ihr vor allem liegt die Ergänzung,
welche das Alterthum zu dem modernen Leben bietet. Keinesfalls darf deshalb
das Gymnasium in Bezug auf die Kenntniß der griechischen Literatur seine For¬
derungen herabsetzen; im Gegentheil, es muß sie steigern. Die ethischen und
ästhetischen Anschauungen, welche die griechische Literatur uns vermittelt, sind
zumeist der Art, daß die Schule nur auf sie hinweisen und das Interesse an
ihnen wecken kann; die rechte Frucht pflückt erst der, welcher nach der Schule
sich weiter mit ihnen beschäftigt. Die politischen und sittlichen Vorschriften grie¬
chischer Redner und Denker, den Gegensatz zwischer antiker und moderner Welt¬
anschauung erfaßt nur ein gereiftes Denken; um zum wahren Genuß an den
naiven griechischen Dichtern zu gelangen, ist es nöthig, mit der modernen Lite¬
ratur und ihren Kunstprincipien sich näher beschäftigt und seinen Sinn für for¬
male Schönheit ausgebildet zu haben. Die Schule kann eine geistige Reife nicht
geben, die erst mit den Jahren und für viele überhaupt nicht kommt; aber ihre
Aufgabe ist es, dem Geiste wenigstens die Richtung darauf zu geben. Wie sie
dieser Aufgabe noch mehr als bisher gerecht werden könne, darüber haben ihre
Vertreter nachzudenken; bei einer Verringerung der auf das Griechische ge¬
wendeten Unterrichtszeit läßt sich dies aber sicherlich nicht erreichen.

Was bedeutet nun die Verdrängung des griechischen Unterrichts aus Quarta?
Sie bedeutet, daß anstatt sieben Jahre das Griechische auf dem Gymnasium nur
noch sechs betrieben wird. Für den Fachmann ist das schwerwiegender als der
Laie vielleicht glaubt. Auch wenn in Tertia das Griechische etwa mit neun an¬
statt wie bisher mit sechs Stunden in Angriff genommen würde, so ersetzte dies
doch bei weitem nicht den Wegfall eines Jahres. Denn einerseits wäre kaum
abzusehen, wie die größere Zahl der Stunden gewonnen werden sollte. Die
Tertia, in welche die Knaben bei normalem Fortschritt mit dem zwölften oder
dreizehnten Jahre eintreten, ist so recht die geeignete Klasse, die lateinische Shntax
einzuüben und durch sie den Geist der Knaben zu Schulen. Selbst eine oder
zwei Stunden ließen sich hier dem lateinischen Unterricht nicht ohne Schwierig¬
keit, mehr als zwei sogar nicht ohne Schaden entziehen. Für den mathema¬
tischen Unterricht hat diese Klasse überhaupt nur drei Stunden Raum, und etwa
den naturwissenschaftlichen Unterricht aus Tertia nach Quarta zu verlegen, hieße
doch die berechtigten Anforderungen dieser Disciplin geradezu vernachlässigen.
Aber auch wenn die Stunden gewonnen würden, böten sie keinen Ersatz für den
Wegfall des Jahres in Quarta, selbst dann nicht, wenn in allen Klassen von
Tertia bis Prima wöchentlich sieben Stunden auf das Griechische verwandt würden.
Mit Recht bestritt Geheimrath Bonitz auf der Octoberconferenz im Jahre 1873
die Anwendbarkeit des unbestreitbaren arithmetischen Satzes, daß 6><7 ^ 7X6


Die angekündigte Reform im Lohrplrmc der Gymnasien,

das praktische Bedürfniß, welches früher zum Studium der lateinischen Sprache
antrieb, im Verlauf der Zeit weit geringer geworden ist. Für die ethische und
ästhetische Bildung des Geistes aber ist die griechische Literatur von weit grö¬
ßerer Bedeutung als die lateinische. In ihr vor allem liegt die Ergänzung,
welche das Alterthum zu dem modernen Leben bietet. Keinesfalls darf deshalb
das Gymnasium in Bezug auf die Kenntniß der griechischen Literatur seine For¬
derungen herabsetzen; im Gegentheil, es muß sie steigern. Die ethischen und
ästhetischen Anschauungen, welche die griechische Literatur uns vermittelt, sind
zumeist der Art, daß die Schule nur auf sie hinweisen und das Interesse an
ihnen wecken kann; die rechte Frucht pflückt erst der, welcher nach der Schule
sich weiter mit ihnen beschäftigt. Die politischen und sittlichen Vorschriften grie¬
chischer Redner und Denker, den Gegensatz zwischer antiker und moderner Welt¬
anschauung erfaßt nur ein gereiftes Denken; um zum wahren Genuß an den
naiven griechischen Dichtern zu gelangen, ist es nöthig, mit der modernen Lite¬
ratur und ihren Kunstprincipien sich näher beschäftigt und seinen Sinn für for¬
male Schönheit ausgebildet zu haben. Die Schule kann eine geistige Reife nicht
geben, die erst mit den Jahren und für viele überhaupt nicht kommt; aber ihre
Aufgabe ist es, dem Geiste wenigstens die Richtung darauf zu geben. Wie sie
dieser Aufgabe noch mehr als bisher gerecht werden könne, darüber haben ihre
Vertreter nachzudenken; bei einer Verringerung der auf das Griechische ge¬
wendeten Unterrichtszeit läßt sich dies aber sicherlich nicht erreichen.

Was bedeutet nun die Verdrängung des griechischen Unterrichts aus Quarta?
Sie bedeutet, daß anstatt sieben Jahre das Griechische auf dem Gymnasium nur
noch sechs betrieben wird. Für den Fachmann ist das schwerwiegender als der
Laie vielleicht glaubt. Auch wenn in Tertia das Griechische etwa mit neun an¬
statt wie bisher mit sechs Stunden in Angriff genommen würde, so ersetzte dies
doch bei weitem nicht den Wegfall eines Jahres. Denn einerseits wäre kaum
abzusehen, wie die größere Zahl der Stunden gewonnen werden sollte. Die
Tertia, in welche die Knaben bei normalem Fortschritt mit dem zwölften oder
dreizehnten Jahre eintreten, ist so recht die geeignete Klasse, die lateinische Shntax
einzuüben und durch sie den Geist der Knaben zu Schulen. Selbst eine oder
zwei Stunden ließen sich hier dem lateinischen Unterricht nicht ohne Schwierig¬
keit, mehr als zwei sogar nicht ohne Schaden entziehen. Für den mathema¬
tischen Unterricht hat diese Klasse überhaupt nur drei Stunden Raum, und etwa
den naturwissenschaftlichen Unterricht aus Tertia nach Quarta zu verlegen, hieße
doch die berechtigten Anforderungen dieser Disciplin geradezu vernachlässigen.
Aber auch wenn die Stunden gewonnen würden, böten sie keinen Ersatz für den
Wegfall des Jahres in Quarta, selbst dann nicht, wenn in allen Klassen von
Tertia bis Prima wöchentlich sieben Stunden auf das Griechische verwandt würden.
Mit Recht bestritt Geheimrath Bonitz auf der Octoberconferenz im Jahre 1873
die Anwendbarkeit des unbestreitbaren arithmetischen Satzes, daß 6><7 ^ 7X6


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0558" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/151280"/>
          <fw type="header" place="top"> Die angekündigte Reform im Lohrplrmc der Gymnasien,</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1807" prev="#ID_1806"> das praktische Bedürfniß, welches früher zum Studium der lateinischen Sprache<lb/>
antrieb, im Verlauf der Zeit weit geringer geworden ist. Für die ethische und<lb/>
ästhetische Bildung des Geistes aber ist die griechische Literatur von weit grö¬<lb/>
ßerer Bedeutung als die lateinische. In ihr vor allem liegt die Ergänzung,<lb/>
welche das Alterthum zu dem modernen Leben bietet. Keinesfalls darf deshalb<lb/>
das Gymnasium in Bezug auf die Kenntniß der griechischen Literatur seine For¬<lb/>
derungen herabsetzen; im Gegentheil, es muß sie steigern. Die ethischen und<lb/>
ästhetischen Anschauungen, welche die griechische Literatur uns vermittelt, sind<lb/>
zumeist der Art, daß die Schule nur auf sie hinweisen und das Interesse an<lb/>
ihnen wecken kann; die rechte Frucht pflückt erst der, welcher nach der Schule<lb/>
sich weiter mit ihnen beschäftigt. Die politischen und sittlichen Vorschriften grie¬<lb/>
chischer Redner und Denker, den Gegensatz zwischer antiker und moderner Welt¬<lb/>
anschauung erfaßt nur ein gereiftes Denken; um zum wahren Genuß an den<lb/>
naiven griechischen Dichtern zu gelangen, ist es nöthig, mit der modernen Lite¬<lb/>
ratur und ihren Kunstprincipien sich näher beschäftigt und seinen Sinn für for¬<lb/>
male Schönheit ausgebildet zu haben. Die Schule kann eine geistige Reife nicht<lb/>
geben, die erst mit den Jahren und für viele überhaupt nicht kommt; aber ihre<lb/>
Aufgabe ist es, dem Geiste wenigstens die Richtung darauf zu geben. Wie sie<lb/>
dieser Aufgabe noch mehr als bisher gerecht werden könne, darüber haben ihre<lb/>
Vertreter nachzudenken; bei einer Verringerung der auf das Griechische ge¬<lb/>
wendeten Unterrichtszeit läßt sich dies aber sicherlich nicht erreichen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1808" next="#ID_1809"> Was bedeutet nun die Verdrängung des griechischen Unterrichts aus Quarta?<lb/>
Sie bedeutet, daß anstatt sieben Jahre das Griechische auf dem Gymnasium nur<lb/>
noch sechs betrieben wird. Für den Fachmann ist das schwerwiegender als der<lb/>
Laie vielleicht glaubt. Auch wenn in Tertia das Griechische etwa mit neun an¬<lb/>
statt wie bisher mit sechs Stunden in Angriff genommen würde, so ersetzte dies<lb/>
doch bei weitem nicht den Wegfall eines Jahres. Denn einerseits wäre kaum<lb/>
abzusehen, wie die größere Zahl der Stunden gewonnen werden sollte. Die<lb/>
Tertia, in welche die Knaben bei normalem Fortschritt mit dem zwölften oder<lb/>
dreizehnten Jahre eintreten, ist so recht die geeignete Klasse, die lateinische Shntax<lb/>
einzuüben und durch sie den Geist der Knaben zu Schulen. Selbst eine oder<lb/>
zwei Stunden ließen sich hier dem lateinischen Unterricht nicht ohne Schwierig¬<lb/>
keit, mehr als zwei sogar nicht ohne Schaden entziehen. Für den mathema¬<lb/>
tischen Unterricht hat diese Klasse überhaupt nur drei Stunden Raum, und etwa<lb/>
den naturwissenschaftlichen Unterricht aus Tertia nach Quarta zu verlegen, hieße<lb/>
doch die berechtigten Anforderungen dieser Disciplin geradezu vernachlässigen.<lb/>
Aber auch wenn die Stunden gewonnen würden, böten sie keinen Ersatz für den<lb/>
Wegfall des Jahres in Quarta, selbst dann nicht, wenn in allen Klassen von<lb/>
Tertia bis Prima wöchentlich sieben Stunden auf das Griechische verwandt würden.<lb/>
Mit Recht bestritt Geheimrath Bonitz auf der Octoberconferenz im Jahre 1873<lb/>
die Anwendbarkeit des unbestreitbaren arithmetischen Satzes, daß 6&gt;&lt;7 ^ 7X6</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0558] Die angekündigte Reform im Lohrplrmc der Gymnasien, das praktische Bedürfniß, welches früher zum Studium der lateinischen Sprache antrieb, im Verlauf der Zeit weit geringer geworden ist. Für die ethische und ästhetische Bildung des Geistes aber ist die griechische Literatur von weit grö¬ ßerer Bedeutung als die lateinische. In ihr vor allem liegt die Ergänzung, welche das Alterthum zu dem modernen Leben bietet. Keinesfalls darf deshalb das Gymnasium in Bezug auf die Kenntniß der griechischen Literatur seine For¬ derungen herabsetzen; im Gegentheil, es muß sie steigern. Die ethischen und ästhetischen Anschauungen, welche die griechische Literatur uns vermittelt, sind zumeist der Art, daß die Schule nur auf sie hinweisen und das Interesse an ihnen wecken kann; die rechte Frucht pflückt erst der, welcher nach der Schule sich weiter mit ihnen beschäftigt. Die politischen und sittlichen Vorschriften grie¬ chischer Redner und Denker, den Gegensatz zwischer antiker und moderner Welt¬ anschauung erfaßt nur ein gereiftes Denken; um zum wahren Genuß an den naiven griechischen Dichtern zu gelangen, ist es nöthig, mit der modernen Lite¬ ratur und ihren Kunstprincipien sich näher beschäftigt und seinen Sinn für for¬ male Schönheit ausgebildet zu haben. Die Schule kann eine geistige Reife nicht geben, die erst mit den Jahren und für viele überhaupt nicht kommt; aber ihre Aufgabe ist es, dem Geiste wenigstens die Richtung darauf zu geben. Wie sie dieser Aufgabe noch mehr als bisher gerecht werden könne, darüber haben ihre Vertreter nachzudenken; bei einer Verringerung der auf das Griechische ge¬ wendeten Unterrichtszeit läßt sich dies aber sicherlich nicht erreichen. Was bedeutet nun die Verdrängung des griechischen Unterrichts aus Quarta? Sie bedeutet, daß anstatt sieben Jahre das Griechische auf dem Gymnasium nur noch sechs betrieben wird. Für den Fachmann ist das schwerwiegender als der Laie vielleicht glaubt. Auch wenn in Tertia das Griechische etwa mit neun an¬ statt wie bisher mit sechs Stunden in Angriff genommen würde, so ersetzte dies doch bei weitem nicht den Wegfall eines Jahres. Denn einerseits wäre kaum abzusehen, wie die größere Zahl der Stunden gewonnen werden sollte. Die Tertia, in welche die Knaben bei normalem Fortschritt mit dem zwölften oder dreizehnten Jahre eintreten, ist so recht die geeignete Klasse, die lateinische Shntax einzuüben und durch sie den Geist der Knaben zu Schulen. Selbst eine oder zwei Stunden ließen sich hier dem lateinischen Unterricht nicht ohne Schwierig¬ keit, mehr als zwei sogar nicht ohne Schaden entziehen. Für den mathema¬ tischen Unterricht hat diese Klasse überhaupt nur drei Stunden Raum, und etwa den naturwissenschaftlichen Unterricht aus Tertia nach Quarta zu verlegen, hieße doch die berechtigten Anforderungen dieser Disciplin geradezu vernachlässigen. Aber auch wenn die Stunden gewonnen würden, böten sie keinen Ersatz für den Wegfall des Jahres in Quarta, selbst dann nicht, wenn in allen Klassen von Tertia bis Prima wöchentlich sieben Stunden auf das Griechische verwandt würden. Mit Recht bestritt Geheimrath Bonitz auf der Octoberconferenz im Jahre 1873 die Anwendbarkeit des unbestreitbaren arithmetischen Satzes, daß 6><7 ^ 7X6

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157970
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157970/558
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157970/558>, abgerufen am 29.05.2024.