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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Viertes Quartal.

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Die angekündigte Reform im Lehrplane der Gymnasien.

sei, auf die didaktische Frage. Jetzt wird jeden Tag eine Stunde Griechisch
unterrichtet, der Lehrer hat die Möglichkeit, vou einem Tage zum andern zwanzig
bis dreißig Minuten häuslicher Arbeit zu fordern, und der Schüler hat Zeit,
das Gelernte zu verdauen. Bei einer Steigerung der Stundenzahl lassen sich
nicht in gleichem Verhältniß die Anforderungen an die häusliche Arbeit steigern.
Ueberdies ist es eine alte Erfahrung, daß die formalen Schwierigkeiten bei der
Erlernung einer Sprache in den obern Klassen für Lehrer und Schüler weit
schwerer zu überwinden sind als in den untern. Dies war einer der haupt¬
sächlichsten Beweggründe, weshalb man den Beginn des französischen Unterrichts
von Tertia nach Quinta verlegte, und wie viel einfacher und leichter ist doch
die französische Formenlehre als die griechische! Der Einzelne lernt wohl bei
einer Sprache, die er mit Passion treibt, in gereifteren Jahren die formale
Grammatik und die Vokabeln leichter und schneller als in früheren, die Masse
der Schüler aber hat in Tertia weit mehr als in Quarta eine Abneigung, die
Anfangsgründe einer fremden Sprache, welche so viel Schwierigkeiten wie die
griechische bietet, gedächtnißmäßig sich anzueignen und setzt dem Lehrer einen
größeren passive" Widerstand entgegen.

Schon jetzt ist es sehr mißlich, wenn beim Abiturientenexamen die Leistungen
der Schüler mehr nach der Correctheit des griechischen Seriptums als nach der
Fertigkeit im Uebersetzen und dem Verständniß der Autoren gemessen werden.
Auch der beschränktere, mehr mit dem Gedächtniß als mit dem Verstände ar¬
beitende Kopf eignet sich, wenn die Lehrer mit Eifer und Geschick ihre Aufgabe
betreiben, unschwer das an, was billigerweise bei einem solchem scriptum oder
Extemporale zu fordern ist. Aber wie mancher entspricht dieser Forderung, der
für die Lectüre weder Interesse noch das rechte Verständniß hat! Werden nun
künftig in Bezug auf das Extemporale dieselben Anforderungen beim Abitu-
rientenexamen wie bisher gestellt, so trifft der ganze Ausfall, der durch den
spätern Anfang des griechischen Unterrichts entsteht, den Umfang der Lectüre,
die Gewandtheit im Uebersetzen und somit die allgemeine geistige Reife, und wie
sehr dies zu beklagen mare, liegt auf der Hand. Andrerseits, wenn die An¬
forderungen an die formale Sicherheit herabgesetzt werden, so leidet darunter
anch die Lcetttre. Ein tieferes Eingehen auf die formale Schönheit der Sprache
ist kaum möglich, und an Stelle des soliden Verständnisses tritt ein Errathen
des Sinnes.

Fallen dagegen die Vortheile, welche die neue Einrichtung bieten soll, wirklich
so sehr ins Gewicht? Die angeführten Uebelstände im Lehrplane der Gymnasien
würden sich auch auf andre Weise beseitigen lassen, worauf hier näher einzu¬
gehen nicht am Platze ist. Der Uebergang aber von einer Art von Schule"
zu der andern kommt anch in solchen Städten, in denen beide Arten von
Schulen neben einander bestehen, nicht so häufig vor, als man wohl annimmt.
Wenn Knaben sich für die Erlernung der alten Sprachen weniger eignen, so


Die angekündigte Reform im Lehrplane der Gymnasien.

sei, auf die didaktische Frage. Jetzt wird jeden Tag eine Stunde Griechisch
unterrichtet, der Lehrer hat die Möglichkeit, vou einem Tage zum andern zwanzig
bis dreißig Minuten häuslicher Arbeit zu fordern, und der Schüler hat Zeit,
das Gelernte zu verdauen. Bei einer Steigerung der Stundenzahl lassen sich
nicht in gleichem Verhältniß die Anforderungen an die häusliche Arbeit steigern.
Ueberdies ist es eine alte Erfahrung, daß die formalen Schwierigkeiten bei der
Erlernung einer Sprache in den obern Klassen für Lehrer und Schüler weit
schwerer zu überwinden sind als in den untern. Dies war einer der haupt¬
sächlichsten Beweggründe, weshalb man den Beginn des französischen Unterrichts
von Tertia nach Quinta verlegte, und wie viel einfacher und leichter ist doch
die französische Formenlehre als die griechische! Der Einzelne lernt wohl bei
einer Sprache, die er mit Passion treibt, in gereifteren Jahren die formale
Grammatik und die Vokabeln leichter und schneller als in früheren, die Masse
der Schüler aber hat in Tertia weit mehr als in Quarta eine Abneigung, die
Anfangsgründe einer fremden Sprache, welche so viel Schwierigkeiten wie die
griechische bietet, gedächtnißmäßig sich anzueignen und setzt dem Lehrer einen
größeren passive» Widerstand entgegen.

Schon jetzt ist es sehr mißlich, wenn beim Abiturientenexamen die Leistungen
der Schüler mehr nach der Correctheit des griechischen Seriptums als nach der
Fertigkeit im Uebersetzen und dem Verständniß der Autoren gemessen werden.
Auch der beschränktere, mehr mit dem Gedächtniß als mit dem Verstände ar¬
beitende Kopf eignet sich, wenn die Lehrer mit Eifer und Geschick ihre Aufgabe
betreiben, unschwer das an, was billigerweise bei einem solchem scriptum oder
Extemporale zu fordern ist. Aber wie mancher entspricht dieser Forderung, der
für die Lectüre weder Interesse noch das rechte Verständniß hat! Werden nun
künftig in Bezug auf das Extemporale dieselben Anforderungen beim Abitu-
rientenexamen wie bisher gestellt, so trifft der ganze Ausfall, der durch den
spätern Anfang des griechischen Unterrichts entsteht, den Umfang der Lectüre,
die Gewandtheit im Uebersetzen und somit die allgemeine geistige Reife, und wie
sehr dies zu beklagen mare, liegt auf der Hand. Andrerseits, wenn die An¬
forderungen an die formale Sicherheit herabgesetzt werden, so leidet darunter
anch die Lcetttre. Ein tieferes Eingehen auf die formale Schönheit der Sprache
ist kaum möglich, und an Stelle des soliden Verständnisses tritt ein Errathen
des Sinnes.

Fallen dagegen die Vortheile, welche die neue Einrichtung bieten soll, wirklich
so sehr ins Gewicht? Die angeführten Uebelstände im Lehrplane der Gymnasien
würden sich auch auf andre Weise beseitigen lassen, worauf hier näher einzu¬
gehen nicht am Platze ist. Der Uebergang aber von einer Art von Schule»
zu der andern kommt anch in solchen Städten, in denen beide Arten von
Schulen neben einander bestehen, nicht so häufig vor, als man wohl annimmt.
Wenn Knaben sich für die Erlernung der alten Sprachen weniger eignen, so


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[0559] Die angekündigte Reform im Lehrplane der Gymnasien. sei, auf die didaktische Frage. Jetzt wird jeden Tag eine Stunde Griechisch unterrichtet, der Lehrer hat die Möglichkeit, vou einem Tage zum andern zwanzig bis dreißig Minuten häuslicher Arbeit zu fordern, und der Schüler hat Zeit, das Gelernte zu verdauen. Bei einer Steigerung der Stundenzahl lassen sich nicht in gleichem Verhältniß die Anforderungen an die häusliche Arbeit steigern. Ueberdies ist es eine alte Erfahrung, daß die formalen Schwierigkeiten bei der Erlernung einer Sprache in den obern Klassen für Lehrer und Schüler weit schwerer zu überwinden sind als in den untern. Dies war einer der haupt¬ sächlichsten Beweggründe, weshalb man den Beginn des französischen Unterrichts von Tertia nach Quinta verlegte, und wie viel einfacher und leichter ist doch die französische Formenlehre als die griechische! Der Einzelne lernt wohl bei einer Sprache, die er mit Passion treibt, in gereifteren Jahren die formale Grammatik und die Vokabeln leichter und schneller als in früheren, die Masse der Schüler aber hat in Tertia weit mehr als in Quarta eine Abneigung, die Anfangsgründe einer fremden Sprache, welche so viel Schwierigkeiten wie die griechische bietet, gedächtnißmäßig sich anzueignen und setzt dem Lehrer einen größeren passive» Widerstand entgegen. Schon jetzt ist es sehr mißlich, wenn beim Abiturientenexamen die Leistungen der Schüler mehr nach der Correctheit des griechischen Seriptums als nach der Fertigkeit im Uebersetzen und dem Verständniß der Autoren gemessen werden. Auch der beschränktere, mehr mit dem Gedächtniß als mit dem Verstände ar¬ beitende Kopf eignet sich, wenn die Lehrer mit Eifer und Geschick ihre Aufgabe betreiben, unschwer das an, was billigerweise bei einem solchem scriptum oder Extemporale zu fordern ist. Aber wie mancher entspricht dieser Forderung, der für die Lectüre weder Interesse noch das rechte Verständniß hat! Werden nun künftig in Bezug auf das Extemporale dieselben Anforderungen beim Abitu- rientenexamen wie bisher gestellt, so trifft der ganze Ausfall, der durch den spätern Anfang des griechischen Unterrichts entsteht, den Umfang der Lectüre, die Gewandtheit im Uebersetzen und somit die allgemeine geistige Reife, und wie sehr dies zu beklagen mare, liegt auf der Hand. Andrerseits, wenn die An¬ forderungen an die formale Sicherheit herabgesetzt werden, so leidet darunter anch die Lcetttre. Ein tieferes Eingehen auf die formale Schönheit der Sprache ist kaum möglich, und an Stelle des soliden Verständnisses tritt ein Errathen des Sinnes. Fallen dagegen die Vortheile, welche die neue Einrichtung bieten soll, wirklich so sehr ins Gewicht? Die angeführten Uebelstände im Lehrplane der Gymnasien würden sich auch auf andre Weise beseitigen lassen, worauf hier näher einzu¬ gehen nicht am Platze ist. Der Uebergang aber von einer Art von Schule» zu der andern kommt anch in solchen Städten, in denen beide Arten von Schulen neben einander bestehen, nicht so häufig vor, als man wohl annimmt. Wenn Knaben sich für die Erlernung der alten Sprachen weniger eignen, so

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157970/559>, abgerufen am 30.05.2024.