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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Viertes Quartal.

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Die angekündigte Reform im Lehrplane der Gymnasien.

zeigt sich dies entweder sogleich in Sexta oder erst nachdem zu dein Lateinischen
das Griechische hinzugekommen ist. Denn nur durch das Experiment lernen wir
die Befähigung der Knaben gehörig beurtheilen. Wenn also Gymnasien und
Realschulen in den untern drei Klassen gleich sind, werden in den meisten Fällen
Eltern, die sich in der Wahl der Anstalt vergriffen haben, nur später über ihren
Irrthum aufgeklärt werden, die Unbequemlichkeiten, die mit den Wechsel der An¬
stalten jetzt verbunden sind, werden ihnen nicht erspart bleiben.

Aber bereits handelt es sich nicht mehr bloß um den Uebergang von Gym¬
nasien zu Realschulen. In zahlreichen Städten sind höhere Gewerbeschulen und
Mittelschulen ohne Latein entstanden. Auch in ihnen den Lehrplan der untern
Klassen dem der Gymnasien gleich zu machen ist unmöglich, und gerade dieser
Art von Anstalten steht noch eine reiche Entwicklung bevor. Wer weiß, ob nicht
in vielen Städten, in denen jetzt neben den Gymnasien Realschulen bestehen,
die letztern im Laufe des nächsten Jahrzehnts in Schulen ohne Latein werden
umgewandelt werden. Auch die Frage ist zu berücksichtigen, ob nicht in den
Realschulen, welche das Latein in den obern Klassen nur in beschränkterem Um¬
fange und zum Zwecke des Verständnisses gewisser leichteren Autoren treiben,
die Methode des lateinischen Unterrichtes schon in Quarta eine andre als ans
den Gymnasien sein muß.

Die durch Beschränkung des Lateinische,, und Griechischen gewonnene Zeit
soll, wie es heißt, besonders dem Französischen und der Mathematik zu Gute,
kommen. Das Französische soll in Quinta und Quarta mit je fünf Stunden
getrieben werden, anstatt wie bisher mit drei und zwei. Wir erkennen die
Schönheit und den praktischen Nutzen der französischen Sprache vollständig an,
aber ist sie wohl imstande, die Einbuße an formaler und idealer Geistesbildung
zu ersetzen, welche die Einschränkung des griechischen Unterrichts zur Folge haben
wird? Sollte es nicht sür die Zwecke des Gymnasiums genügen, wenn die
Schüler eine gewisse Fertigkeit im Französischsprechen und so viel grammatische
Sicherheit und Vokabelkenntniß sich aneignen, um ein französisches Buch ohne
besondre Schwierigkeit lesen zu können? Dazu bedürfen wir mehr geeignete
Lehrkräfte als Vermehrung der Stundenzahl. Die Mathematik, speciell die Geo¬
metrie, macht den Quartanern noch solche Schwierigkeit, daß erfahrene Mathe¬
matiker rathen, in Quarta nur durch Anschauung die Vorkenntnisse zu geben
und den wissenschaftlichen Unterricht erst nach Tertia zu verlegen, wo die größere
geistige Reife das Verständniß erleichtert.

Der neuen Einrichtung stehen aber noch andre Schwierigkeiten entgegen.
An vielen Gymnasien ist die Tertia noch ungetheilt, und der Kursus in dieser
Klasse zweijährig. Dort ist der Beginn des Griechischen in dieser Klasse geradezu
unmöglich, denn der Lehrer kann nicht zugleich mit dem neu eintretenden Schüler
die Anfangsgründe einüben und mit den Schülern des zweiten Jahres fort¬
schreiten. Sollen etwa die kleinen Städte, denen die Gymnasien jetzt schon über-


Die angekündigte Reform im Lehrplane der Gymnasien.

zeigt sich dies entweder sogleich in Sexta oder erst nachdem zu dein Lateinischen
das Griechische hinzugekommen ist. Denn nur durch das Experiment lernen wir
die Befähigung der Knaben gehörig beurtheilen. Wenn also Gymnasien und
Realschulen in den untern drei Klassen gleich sind, werden in den meisten Fällen
Eltern, die sich in der Wahl der Anstalt vergriffen haben, nur später über ihren
Irrthum aufgeklärt werden, die Unbequemlichkeiten, die mit den Wechsel der An¬
stalten jetzt verbunden sind, werden ihnen nicht erspart bleiben.

Aber bereits handelt es sich nicht mehr bloß um den Uebergang von Gym¬
nasien zu Realschulen. In zahlreichen Städten sind höhere Gewerbeschulen und
Mittelschulen ohne Latein entstanden. Auch in ihnen den Lehrplan der untern
Klassen dem der Gymnasien gleich zu machen ist unmöglich, und gerade dieser
Art von Anstalten steht noch eine reiche Entwicklung bevor. Wer weiß, ob nicht
in vielen Städten, in denen jetzt neben den Gymnasien Realschulen bestehen,
die letztern im Laufe des nächsten Jahrzehnts in Schulen ohne Latein werden
umgewandelt werden. Auch die Frage ist zu berücksichtigen, ob nicht in den
Realschulen, welche das Latein in den obern Klassen nur in beschränkterem Um¬
fange und zum Zwecke des Verständnisses gewisser leichteren Autoren treiben,
die Methode des lateinischen Unterrichtes schon in Quarta eine andre als ans
den Gymnasien sein muß.

Die durch Beschränkung des Lateinische,, und Griechischen gewonnene Zeit
soll, wie es heißt, besonders dem Französischen und der Mathematik zu Gute,
kommen. Das Französische soll in Quinta und Quarta mit je fünf Stunden
getrieben werden, anstatt wie bisher mit drei und zwei. Wir erkennen die
Schönheit und den praktischen Nutzen der französischen Sprache vollständig an,
aber ist sie wohl imstande, die Einbuße an formaler und idealer Geistesbildung
zu ersetzen, welche die Einschränkung des griechischen Unterrichts zur Folge haben
wird? Sollte es nicht sür die Zwecke des Gymnasiums genügen, wenn die
Schüler eine gewisse Fertigkeit im Französischsprechen und so viel grammatische
Sicherheit und Vokabelkenntniß sich aneignen, um ein französisches Buch ohne
besondre Schwierigkeit lesen zu können? Dazu bedürfen wir mehr geeignete
Lehrkräfte als Vermehrung der Stundenzahl. Die Mathematik, speciell die Geo¬
metrie, macht den Quartanern noch solche Schwierigkeit, daß erfahrene Mathe¬
matiker rathen, in Quarta nur durch Anschauung die Vorkenntnisse zu geben
und den wissenschaftlichen Unterricht erst nach Tertia zu verlegen, wo die größere
geistige Reife das Verständniß erleichtert.

Der neuen Einrichtung stehen aber noch andre Schwierigkeiten entgegen.
An vielen Gymnasien ist die Tertia noch ungetheilt, und der Kursus in dieser
Klasse zweijährig. Dort ist der Beginn des Griechischen in dieser Klasse geradezu
unmöglich, denn der Lehrer kann nicht zugleich mit dem neu eintretenden Schüler
die Anfangsgründe einüben und mit den Schülern des zweiten Jahres fort¬
schreiten. Sollen etwa die kleinen Städte, denen die Gymnasien jetzt schon über-


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[0560] Die angekündigte Reform im Lehrplane der Gymnasien. zeigt sich dies entweder sogleich in Sexta oder erst nachdem zu dein Lateinischen das Griechische hinzugekommen ist. Denn nur durch das Experiment lernen wir die Befähigung der Knaben gehörig beurtheilen. Wenn also Gymnasien und Realschulen in den untern drei Klassen gleich sind, werden in den meisten Fällen Eltern, die sich in der Wahl der Anstalt vergriffen haben, nur später über ihren Irrthum aufgeklärt werden, die Unbequemlichkeiten, die mit den Wechsel der An¬ stalten jetzt verbunden sind, werden ihnen nicht erspart bleiben. Aber bereits handelt es sich nicht mehr bloß um den Uebergang von Gym¬ nasien zu Realschulen. In zahlreichen Städten sind höhere Gewerbeschulen und Mittelschulen ohne Latein entstanden. Auch in ihnen den Lehrplan der untern Klassen dem der Gymnasien gleich zu machen ist unmöglich, und gerade dieser Art von Anstalten steht noch eine reiche Entwicklung bevor. Wer weiß, ob nicht in vielen Städten, in denen jetzt neben den Gymnasien Realschulen bestehen, die letztern im Laufe des nächsten Jahrzehnts in Schulen ohne Latein werden umgewandelt werden. Auch die Frage ist zu berücksichtigen, ob nicht in den Realschulen, welche das Latein in den obern Klassen nur in beschränkterem Um¬ fange und zum Zwecke des Verständnisses gewisser leichteren Autoren treiben, die Methode des lateinischen Unterrichtes schon in Quarta eine andre als ans den Gymnasien sein muß. Die durch Beschränkung des Lateinische,, und Griechischen gewonnene Zeit soll, wie es heißt, besonders dem Französischen und der Mathematik zu Gute, kommen. Das Französische soll in Quinta und Quarta mit je fünf Stunden getrieben werden, anstatt wie bisher mit drei und zwei. Wir erkennen die Schönheit und den praktischen Nutzen der französischen Sprache vollständig an, aber ist sie wohl imstande, die Einbuße an formaler und idealer Geistesbildung zu ersetzen, welche die Einschränkung des griechischen Unterrichts zur Folge haben wird? Sollte es nicht sür die Zwecke des Gymnasiums genügen, wenn die Schüler eine gewisse Fertigkeit im Französischsprechen und so viel grammatische Sicherheit und Vokabelkenntniß sich aneignen, um ein französisches Buch ohne besondre Schwierigkeit lesen zu können? Dazu bedürfen wir mehr geeignete Lehrkräfte als Vermehrung der Stundenzahl. Die Mathematik, speciell die Geo¬ metrie, macht den Quartanern noch solche Schwierigkeit, daß erfahrene Mathe¬ matiker rathen, in Quarta nur durch Anschauung die Vorkenntnisse zu geben und den wissenschaftlichen Unterricht erst nach Tertia zu verlegen, wo die größere geistige Reife das Verständniß erleichtert. Der neuen Einrichtung stehen aber noch andre Schwierigkeiten entgegen. An vielen Gymnasien ist die Tertia noch ungetheilt, und der Kursus in dieser Klasse zweijährig. Dort ist der Beginn des Griechischen in dieser Klasse geradezu unmöglich, denn der Lehrer kann nicht zugleich mit dem neu eintretenden Schüler die Anfangsgründe einüben und mit den Schülern des zweiten Jahres fort¬ schreiten. Sollen etwa die kleinen Städte, denen die Gymnasien jetzt schon über-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157970/560>, abgerufen am 14.05.2024.