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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Viertes Quartal.

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Ethnologie und Lthik,

bezeichnet werden muß, Oder mit welchem Rechte könnten wir dies Prcidicat
einem Angehörigen der geschlechtsgcuosseuschaftlichen Periode entziehen, der seinem
Häuptling unbedingten Gehorsam leistet und eifrig die Pflicht der Blutrache er¬
füllt, somit im höchsten Maße für die Erhaltung des betreffenden ethnischen Organis¬
mus thätig ist? Das sind Einseitigkeiten, die aus beschränktem Gesichtskreise
entspringen und den wirklichen philosophischen Kern der Entwicklungslehre nicht
erfaßt haben. Dieser besteht wesentlich in der Vernichtung axiomatischer, nur
einem gewissen, willkürlich entworfenen Schema entsprechender Vorstellungen, die
auf dem Gebiete der Ethik z, B, meist die sittliche Reife des neunzehnten Jahr¬
hunderts als Kriterium für die betreffenden Urtheile nehmen. Die empirische,
rein inductive Forschung zeigt, daß die Ethik der Niederschlag der jeweiligen
Entwicklungsstufe ist, auf dem sich ein bestimmter ethnischer Complex von In¬
dividuen befindet, und daß er am letzten Ende wiederum abhängt (wie jene so¬
ciale Association ebenfalls) einmal von der unvertilgbaren Eigenart jener In¬
dividuen selbst, und anderseits von den Existenzbedingungen, unter welchen jene
zu leben gezwungen sind. Das sind wiederum die uns schon bekannten Doppel¬
seiten menschlicher Erkenntniß, die innere psychische und die äußere mechanische.
Es ist völlig unrichtig, wenn Carreri sagt: "Die ersten Spuren der Sittlich¬
keit, welche wir an dem vorstaatlichcn Zusammensein der Menschen voraussetzen
können, verhalten sich zur vollentwickelten Sittlichkeit wie das Denken des Thieres
Mu Denken des hochgebildeten Menschen." (S. 18.) Das ist gerade das gänz¬
lich ungerechtfertigte, hier von "Voraussetzungen" zu sprechen, die man beliebig
wachen und unterlassen könnte. Nein, in der Wissenschaft hört die Lanne auf
und beginnt der Zwang, oder, wie es jetzt gewöhnlich heißt, die Logik der That¬
sachen; und diese lehren eben für jeden, der sehen will, daß die Ethik nicht ein
spätes Culturproduct, sondern eine nothwendige Frucht jeglicher socialen Ent¬
wicklung ist; und da diese so alt ist wie die Menschheit selbst (einen isolirten
Menschen kennt nur die religiöse Sage, nicht die Ethnologie), so ist sie damit
60 ipso mit dem Bestehen des menschlichen Geschlechts überhaupt gegeben. Ja
gestützt auf gewisse Anzeichen der Erfahrung haben einige Forscher selbst den
intelligenteren Thierarten in diesem Sinne eine ethische Qualität nach der so¬
cialen Perspective hin zugeschrieben. Ueberflüssig ist es Wohl, zu bemerken, daß
durch diese Argumentation natürlich nicht eine Werthvergleichung der verschie¬
denen ethischen Systeme oder Anschauungen eliminirt werden soll, vielmehr sind
sie durch diese genetische gesetzmäßige Entwicklung geradezu gefordert.

Weniger Gewicht legen wir auf den unseres Einesteils fälschlich statuirten
Unterschied von Moral und Ethik in dein Sinne, daß diese die wissenschaftliche
Darstellung der gesammtett höhern Entwicklung des Menschengeschlechts mit In¬
begriff des Wahren und Schönen, die Moral die systematische Zusammenfassung
der Tugenden und Pflichten bedeute. (S. 6.) So richtig wie die Erklärung der
Moral ist, so unrichtig ist die der Ethik, eben weil sie wieder als ein speci-


Ethnologie und Lthik,

bezeichnet werden muß, Oder mit welchem Rechte könnten wir dies Prcidicat
einem Angehörigen der geschlechtsgcuosseuschaftlichen Periode entziehen, der seinem
Häuptling unbedingten Gehorsam leistet und eifrig die Pflicht der Blutrache er¬
füllt, somit im höchsten Maße für die Erhaltung des betreffenden ethnischen Organis¬
mus thätig ist? Das sind Einseitigkeiten, die aus beschränktem Gesichtskreise
entspringen und den wirklichen philosophischen Kern der Entwicklungslehre nicht
erfaßt haben. Dieser besteht wesentlich in der Vernichtung axiomatischer, nur
einem gewissen, willkürlich entworfenen Schema entsprechender Vorstellungen, die
auf dem Gebiete der Ethik z, B, meist die sittliche Reife des neunzehnten Jahr¬
hunderts als Kriterium für die betreffenden Urtheile nehmen. Die empirische,
rein inductive Forschung zeigt, daß die Ethik der Niederschlag der jeweiligen
Entwicklungsstufe ist, auf dem sich ein bestimmter ethnischer Complex von In¬
dividuen befindet, und daß er am letzten Ende wiederum abhängt (wie jene so¬
ciale Association ebenfalls) einmal von der unvertilgbaren Eigenart jener In¬
dividuen selbst, und anderseits von den Existenzbedingungen, unter welchen jene
zu leben gezwungen sind. Das sind wiederum die uns schon bekannten Doppel¬
seiten menschlicher Erkenntniß, die innere psychische und die äußere mechanische.
Es ist völlig unrichtig, wenn Carreri sagt: „Die ersten Spuren der Sittlich¬
keit, welche wir an dem vorstaatlichcn Zusammensein der Menschen voraussetzen
können, verhalten sich zur vollentwickelten Sittlichkeit wie das Denken des Thieres
Mu Denken des hochgebildeten Menschen." (S. 18.) Das ist gerade das gänz¬
lich ungerechtfertigte, hier von „Voraussetzungen" zu sprechen, die man beliebig
wachen und unterlassen könnte. Nein, in der Wissenschaft hört die Lanne auf
und beginnt der Zwang, oder, wie es jetzt gewöhnlich heißt, die Logik der That¬
sachen; und diese lehren eben für jeden, der sehen will, daß die Ethik nicht ein
spätes Culturproduct, sondern eine nothwendige Frucht jeglicher socialen Ent¬
wicklung ist; und da diese so alt ist wie die Menschheit selbst (einen isolirten
Menschen kennt nur die religiöse Sage, nicht die Ethnologie), so ist sie damit
60 ipso mit dem Bestehen des menschlichen Geschlechts überhaupt gegeben. Ja
gestützt auf gewisse Anzeichen der Erfahrung haben einige Forscher selbst den
intelligenteren Thierarten in diesem Sinne eine ethische Qualität nach der so¬
cialen Perspective hin zugeschrieben. Ueberflüssig ist es Wohl, zu bemerken, daß
durch diese Argumentation natürlich nicht eine Werthvergleichung der verschie¬
denen ethischen Systeme oder Anschauungen eliminirt werden soll, vielmehr sind
sie durch diese genetische gesetzmäßige Entwicklung geradezu gefordert.

Weniger Gewicht legen wir auf den unseres Einesteils fälschlich statuirten
Unterschied von Moral und Ethik in dein Sinne, daß diese die wissenschaftliche
Darstellung der gesammtett höhern Entwicklung des Menschengeschlechts mit In¬
begriff des Wahren und Schönen, die Moral die systematische Zusammenfassung
der Tugenden und Pflichten bedeute. (S. 6.) So richtig wie die Erklärung der
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157970/83>, abgerufen am 29.05.2024.