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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Viertes Quartal.

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Lthnologie und Ethik.

finum der höheren Differenzirung gefaßt wird, während sie erfahrungsmäßig
sämmtlichen Stufen der menschlichen Gesittung zukommt. Wahrend also die
Moral die der praktischen Recilisirnng der ethischen Momente entsprechende Ge¬
sinnung begreift, also die innere Kehrseite des ethisch-socialen Verhaltens bildet,
enthält die Ethik die adäquate Stellung eines Individuums zu dem ihn tragenden
ethnischen Organismus. Auf den untersten Stufen der Entwicklung wird sich
mithin Ethik und Moral meist decken, indem die Sitte zugleich der eougruente
Ausdruck der individuellen moralischen Stimmung ist oder, anders angesehen,
indem die Differenzirung des Individuums ans jenen primären Stufen überhaupt
kaum merklich begonnen hat, also noch keine erhebliche Abweichungen von dem Typus
der betreffenden socialen Association sich zeigen können. Erst in späterem Ver¬
lauf beginnen die Collisionen der persönlichen moralischen Gesinnung mit dem
geforderten ethischen Verhalten, und häufig genug sehen wir im harten Kampfe
dieser beiden Factoren den einzelnen untergehen. Erst die Schöpfung der sich
selbst bestimmenden Persönlichkeit macht jenen Widerspruch verständlich, das
unentwickelte Individuum lebt eben weniger sich selbst als den Gattungs-
charakter seiner ethnischen Umgebung; die größten Gegensätze der Moral und
der Sitte finden sich daher bei stark differenzierten Culturphasen, häusig sogar
dann, wenn schon eine gewisse Degeneration eingetreten ist.

Noch ein andrer Punkt von allgemeiner Bedeutung bedarf der Erörterung.
Seit dem unzweifelhaften Siege der mechanischen über die dynamische Natur¬
alisierst, seitdem es wissenschaftliches Prineip geworden, nicht mehr das Wirken
auf allerlei geheime Kräfte, auf qMlits.los oooultsö zurückzuführen, sondern auf
genau angebbare Bedingungen, mit andern Worten auf bestimmte Gesetze des
Geschehens, ist vielfach die Meinung aufgetaucht, daß ein für allemal das Ccmsal-
gesetz jede teleologische Behandlung vernichtet habe. Seltsamerweise hat diese
Ansicht besonders an der Darwinschen Theorie ihre Stütze zu finden geglaubt,
die doch, wie wir gleich sehen werden, unzweifelhaft teleologische Elemente in
sich schließt. Wir sind selbstverständlich weit entfernt, einem beschränkten cmthro-
pvpathischen Gesichtspunkte das Wort zu reden und in der Weise der kosmo-
logischen Nationalisten des vorigen Jahrhunderts die ganze Fülle des Seienden
nur als ein Schauspiel g,et ingsorsni asi g'lormm, und zum Nutzen und Frommen
des Menschen insbesondere aufzufassen; schon die Thatsachen der Astronomie
gestatten es nicht mehr, diesem engherzigen tellurischen Egoismus anzuhängen,
um den eigentlich sich das Universum bewege. Aber gerade so einseitig will es
uns erscheinen, jegliche Betrachtung nach einem Zweckprincip als unwissenschaft¬
lich zu verwerfen. Mit pomphaftem Enthusiasmus zieht unser Autor gegen
diese angeblich unglaubliche Verdrehtheit des menschlichen Denkens zu Felde, als
einem Rudiment religiöser Spekulation, und anknüpfend an Spinoza, der be¬
kanntlich die teleologische Betrachtung als eine Fiction des menschlichen Ge¬
müthes auffaßte, behandelt er die Frage als vor dem Forum echter Wissen-


Lthnologie und Ethik.

finum der höheren Differenzirung gefaßt wird, während sie erfahrungsmäßig
sämmtlichen Stufen der menschlichen Gesittung zukommt. Wahrend also die
Moral die der praktischen Recilisirnng der ethischen Momente entsprechende Ge¬
sinnung begreift, also die innere Kehrseite des ethisch-socialen Verhaltens bildet,
enthält die Ethik die adäquate Stellung eines Individuums zu dem ihn tragenden
ethnischen Organismus. Auf den untersten Stufen der Entwicklung wird sich
mithin Ethik und Moral meist decken, indem die Sitte zugleich der eougruente
Ausdruck der individuellen moralischen Stimmung ist oder, anders angesehen,
indem die Differenzirung des Individuums ans jenen primären Stufen überhaupt
kaum merklich begonnen hat, also noch keine erhebliche Abweichungen von dem Typus
der betreffenden socialen Association sich zeigen können. Erst in späterem Ver¬
lauf beginnen die Collisionen der persönlichen moralischen Gesinnung mit dem
geforderten ethischen Verhalten, und häufig genug sehen wir im harten Kampfe
dieser beiden Factoren den einzelnen untergehen. Erst die Schöpfung der sich
selbst bestimmenden Persönlichkeit macht jenen Widerspruch verständlich, das
unentwickelte Individuum lebt eben weniger sich selbst als den Gattungs-
charakter seiner ethnischen Umgebung; die größten Gegensätze der Moral und
der Sitte finden sich daher bei stark differenzierten Culturphasen, häusig sogar
dann, wenn schon eine gewisse Degeneration eingetreten ist.

Noch ein andrer Punkt von allgemeiner Bedeutung bedarf der Erörterung.
Seit dem unzweifelhaften Siege der mechanischen über die dynamische Natur¬
alisierst, seitdem es wissenschaftliches Prineip geworden, nicht mehr das Wirken
auf allerlei geheime Kräfte, auf qMlits.los oooultsö zurückzuführen, sondern auf
genau angebbare Bedingungen, mit andern Worten auf bestimmte Gesetze des
Geschehens, ist vielfach die Meinung aufgetaucht, daß ein für allemal das Ccmsal-
gesetz jede teleologische Behandlung vernichtet habe. Seltsamerweise hat diese
Ansicht besonders an der Darwinschen Theorie ihre Stütze zu finden geglaubt,
die doch, wie wir gleich sehen werden, unzweifelhaft teleologische Elemente in
sich schließt. Wir sind selbstverständlich weit entfernt, einem beschränkten cmthro-
pvpathischen Gesichtspunkte das Wort zu reden und in der Weise der kosmo-
logischen Nationalisten des vorigen Jahrhunderts die ganze Fülle des Seienden
nur als ein Schauspiel g,et ingsorsni asi g'lormm, und zum Nutzen und Frommen
des Menschen insbesondere aufzufassen; schon die Thatsachen der Astronomie
gestatten es nicht mehr, diesem engherzigen tellurischen Egoismus anzuhängen,
um den eigentlich sich das Universum bewege. Aber gerade so einseitig will es
uns erscheinen, jegliche Betrachtung nach einem Zweckprincip als unwissenschaft¬
lich zu verwerfen. Mit pomphaftem Enthusiasmus zieht unser Autor gegen
diese angeblich unglaubliche Verdrehtheit des menschlichen Denkens zu Felde, als
einem Rudiment religiöser Spekulation, und anknüpfend an Spinoza, der be¬
kanntlich die teleologische Betrachtung als eine Fiction des menschlichen Ge¬
müthes auffaßte, behandelt er die Frage als vor dem Forum echter Wissen-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157970/84>, abgerufen am 31.05.2024.