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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Viertes Quartal.

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politische Rückblicke und Ausblicke.

auf die socialpolitischen Projecte des Fürsten Bismarck zu gestalten, die in den
nächsten Sessionen des Reichstags unzweifelhaft einen der Hauptgegenstände der
Erörterung und des Kampfes bilden werden.

In dem Bestreben, unklaren Verallgemeinerungen entgegenzutreten, ist die
Gelehrtenwelt nicht selten in den Fehler verfallen, die wissenschaftliche Greuz-
berichtigung zu einer Zerschneidung des organisch Zusammengehörigen zu steigern,
die jedes Verständniß des Zusammenhangs unmöglich macht. Seit ungefähr
hundert Jahren äußert sich diese Verkehrtheit bei einer ganzen.Reihe von
Wissenschaften, und zum großen Nachtheile für unser Volk ist sie auch in die
Praxis des täglichen Denkens und Lebens übergegangen, wo sie sich heutzu¬
tage in verschiedenen Gestalten zeigt, unter andern in dem geringen Verständ¬
nisse, welches die verschiedenen Classen und Parteien einander entgegenbringen,
und in dem auffallenden Mangel einer in sich geschlossene" Welt- und Lebens¬
anschauung. Sehr oft geschah es, daß die politischen Parteien, auch die wohl¬
meinenden, sich unfähig zeigten, Gesetzentwürfe und Maßregeln der Regierung
im Zusammenhange mit der Gesammtpolitik derselben aufzufassen. Nirgends
aber send diese Uebelstande so stark hervorgetreten wie auf dem Gebiete der
Volkswirthschaft. Besonders häusig zeigte sich hier die Neigung zu Abstrac-
tionen und zur Formulirung von Gesetzen, denen alsbald die Erfahrung wider¬
sprach. Ebenso oft begegnete man der Gewohnheit, sehr relativen Vorgängen
ein absolutes Gepräge aufzudrücken und aus Tagesbeobachtungen weitgehende
Folgerungen abzuleiten, während diese doch nur dann Werth haben können,
wenn jene als zeitlich beschränkt, als Glieder in der geschichtlichen Entwicklung
erkannt und verwerthet werden. Schon oft ist gegen dieses Unwesen Einspruch
gethan worden, aber ohne viel Erfolg, und so ist die ganze Wissenschaft der
Nationalökonomie in Mißcrcdit gerathen. Man hatte sich gewöhnt, Specu-
lationen für Realitäten zu halten und als solche zu behandeln, und jene wurden
zu Phrasen und Parolen der Parteien, während sie, die man als endgiltige
Ergebnisse der Wissenschaft verkündete, genau besehen, nur vorläufige und be¬
ständiger Correctur bedürftige Ergebnisse waren.

Dazu kam noch die wissenschaftliche Isolirung und Atomisirung der Er¬
kennungsobjecte, die in der Volkswirthschaftslehre gleichfalls mit besonderer Vor¬
liebe betrieben wurde. "Es giebt aber," sagt Ingram in seiner Schrift: "Die
nothwendige Reform der Volkswirthschaftslehre." "nur eine große Wissenschaft
der Sociologie, nur eine Sociallehre, und deren einzelne Abschnitte beziehen
sich auf die verschiedenen Seiten des gesellschaftlichen Daseins. Eine dieser
Seiten ist die materielle Wohlfahrt der Gesellschaft, die Beschaffenheit und Ent¬
wicklung ihrer auf die Erzeugung von Gütern gerichteten Arbeit. Das Studium
dieser Erscheinungen ist einer der Forschungszweige der Socialwissenschaft, der aber
in engster Fühlung mit dem Ganzen erhalten werden muß." Diese Meinung
ist freilich noch keineswegs allgemein anerkannt und wissenschaftlich ausgeführt


politische Rückblicke und Ausblicke.

auf die socialpolitischen Projecte des Fürsten Bismarck zu gestalten, die in den
nächsten Sessionen des Reichstags unzweifelhaft einen der Hauptgegenstände der
Erörterung und des Kampfes bilden werden.

In dem Bestreben, unklaren Verallgemeinerungen entgegenzutreten, ist die
Gelehrtenwelt nicht selten in den Fehler verfallen, die wissenschaftliche Greuz-
berichtigung zu einer Zerschneidung des organisch Zusammengehörigen zu steigern,
die jedes Verständniß des Zusammenhangs unmöglich macht. Seit ungefähr
hundert Jahren äußert sich diese Verkehrtheit bei einer ganzen.Reihe von
Wissenschaften, und zum großen Nachtheile für unser Volk ist sie auch in die
Praxis des täglichen Denkens und Lebens übergegangen, wo sie sich heutzu¬
tage in verschiedenen Gestalten zeigt, unter andern in dem geringen Verständ¬
nisse, welches die verschiedenen Classen und Parteien einander entgegenbringen,
und in dem auffallenden Mangel einer in sich geschlossene» Welt- und Lebens¬
anschauung. Sehr oft geschah es, daß die politischen Parteien, auch die wohl¬
meinenden, sich unfähig zeigten, Gesetzentwürfe und Maßregeln der Regierung
im Zusammenhange mit der Gesammtpolitik derselben aufzufassen. Nirgends
aber send diese Uebelstande so stark hervorgetreten wie auf dem Gebiete der
Volkswirthschaft. Besonders häusig zeigte sich hier die Neigung zu Abstrac-
tionen und zur Formulirung von Gesetzen, denen alsbald die Erfahrung wider¬
sprach. Ebenso oft begegnete man der Gewohnheit, sehr relativen Vorgängen
ein absolutes Gepräge aufzudrücken und aus Tagesbeobachtungen weitgehende
Folgerungen abzuleiten, während diese doch nur dann Werth haben können,
wenn jene als zeitlich beschränkt, als Glieder in der geschichtlichen Entwicklung
erkannt und verwerthet werden. Schon oft ist gegen dieses Unwesen Einspruch
gethan worden, aber ohne viel Erfolg, und so ist die ganze Wissenschaft der
Nationalökonomie in Mißcrcdit gerathen. Man hatte sich gewöhnt, Specu-
lationen für Realitäten zu halten und als solche zu behandeln, und jene wurden
zu Phrasen und Parolen der Parteien, während sie, die man als endgiltige
Ergebnisse der Wissenschaft verkündete, genau besehen, nur vorläufige und be¬
ständiger Correctur bedürftige Ergebnisse waren.

Dazu kam noch die wissenschaftliche Isolirung und Atomisirung der Er¬
kennungsobjecte, die in der Volkswirthschaftslehre gleichfalls mit besonderer Vor¬
liebe betrieben wurde. „Es giebt aber," sagt Ingram in seiner Schrift: »Die
nothwendige Reform der Volkswirthschaftslehre.« „nur eine große Wissenschaft
der Sociologie, nur eine Sociallehre, und deren einzelne Abschnitte beziehen
sich auf die verschiedenen Seiten des gesellschaftlichen Daseins. Eine dieser
Seiten ist die materielle Wohlfahrt der Gesellschaft, die Beschaffenheit und Ent¬
wicklung ihrer auf die Erzeugung von Gütern gerichteten Arbeit. Das Studium
dieser Erscheinungen ist einer der Forschungszweige der Socialwissenschaft, der aber
in engster Fühlung mit dem Ganzen erhalten werden muß." Diese Meinung
ist freilich noch keineswegs allgemein anerkannt und wissenschaftlich ausgeführt


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157970/96>, abgerufen am 15.05.2024.