Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Viertes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Politisch" Rückblicke und Ausblicke.

worden, aber die Ueberzeugung, daß die bisherige Methode unfehlbar sei, ist
doch ein wenig ins Schwanken gerathen, die sogenannten wissenschaftlichen Er¬
gebnisse haben begonnen, fraglich zu erscheinen, und die üblichen Schlagwörter
wollen beim Publicum nicht recht mehr verfangen. Beispiele dafür liefert die
Geschichte der Begriffe "I^isssö lui'ö!" "Arbeit" und "Arbeiter."

Die Lehre des Gehenlassens, der wirthschaftlichen Nichteinmischung, wurde
zuerst als ideale Forderung aufgestellt und that ihre Dienste als Kampfmittel
gegen unverständiges Eingreifen mancher Regierungen in das Gewerbsleben.
Wenn das Princip des Gewährenlassens dann aber als absolutes und unter
allen Umständen nützliches geltend zu machen versucht wurde, wenn man jedes
Dazwischentreten der Regierungen in wirthschaftlichen Angelegenheiten als vom
Uebel verdammte, wenn dieselben selbst offenbaren Ungerechtigkeiten, Bedrückungen
und Uebervvrtheilungen nicht entgegentreten, den Schwachen nicht ihre Hand
bieten sollten, so war dies eine Uebertreibung und eine doctrincire Absurdität,
die sich vor der Erfahrung und reiflichem Nachdenken unmöglich lange halten
konnte und denn auch in der That allmählich in weiten Kreisen als Thorheit
erkannt worden ist. Das "I^isssi? Mrs!" wurde nicht mehr als ein Fortschritt,
sondern als ein Hemmniß angesehen, die Praktiker setzten sich über dieses Princip
hinweg, und die Volkswirthe selbst ließen schließlich ihre einst geheiligte Formel
fallen. "Gegenwärtig ist man bereits so weit gekommen, den Satz, daß die freie
Entfaltung der wirthschaftlichen Kräfte zur Harmonie der Interessen, zum all¬
gemeinen Wohle führen müsse, für ein grobes, anmaßendes und haltloses So-
Phisma zu erklären."

Ebenso verkehrt und überdies in stärkstem Gegensatz zu allem menschlichen
Gefühle verfuhr man mit der Abstrcictivn der Begriffe "Arbeit" und "Arbeiter."
Der Arbeiter sollte nichts als ein Werkzeug der Gütererzeugung sein. Daß er vor
allen Dingen ein Mensch und ein Glied der Gesellschaft, daß er in der Regel auch
Vorstand einer Haushaltung ist, daß er eine solche Regelung seiner Daseins¬
bedingungen zu verlangen berechtigt ist, welche ihm die Möglichkeit eines ge¬
ordneten und wohlthuenden Familienlebens verbürgt, daß er endlich Staats¬
bürger ist und zu verständiger Würdigung seiner politischen und socialen Umgebung
ein gewisses Maß von Muße und Gelegenheit zu geistiger Bildung bedarf, wurde
von der Blindheit der Theoretiker übersehen. Man entwickelte den Arbeiter zu
inseitig nach der Richtung seines technischen Wissens und Könnens hin, die
moralische und sociale Bildung, die er bedarf, wurde vernachlässigt. "Man
steht," sagt unsre Schrift, "den Arbeiter als Waare an, was er doch wegen
der Schwierigkeit der Ortsveränderung für seine Familie und der zu häufigen
Unmöglichkeit, auf dem Markte zu warten, niemals werden kann."

Die Einsicht in diese Wahrheiten tritt gegenwärtig noch nicht in genügender
Stärke hervor. Sie müssen Gemeingut werden, wenn eine gründliche Ver¬
besserung der socialen Gesetzgebung zu hoffen sein soll.


Politisch» Rückblicke und Ausblicke.

worden, aber die Ueberzeugung, daß die bisherige Methode unfehlbar sei, ist
doch ein wenig ins Schwanken gerathen, die sogenannten wissenschaftlichen Er¬
gebnisse haben begonnen, fraglich zu erscheinen, und die üblichen Schlagwörter
wollen beim Publicum nicht recht mehr verfangen. Beispiele dafür liefert die
Geschichte der Begriffe „I^isssö lui'ö!" „Arbeit" und „Arbeiter."

Die Lehre des Gehenlassens, der wirthschaftlichen Nichteinmischung, wurde
zuerst als ideale Forderung aufgestellt und that ihre Dienste als Kampfmittel
gegen unverständiges Eingreifen mancher Regierungen in das Gewerbsleben.
Wenn das Princip des Gewährenlassens dann aber als absolutes und unter
allen Umständen nützliches geltend zu machen versucht wurde, wenn man jedes
Dazwischentreten der Regierungen in wirthschaftlichen Angelegenheiten als vom
Uebel verdammte, wenn dieselben selbst offenbaren Ungerechtigkeiten, Bedrückungen
und Uebervvrtheilungen nicht entgegentreten, den Schwachen nicht ihre Hand
bieten sollten, so war dies eine Uebertreibung und eine doctrincire Absurdität,
die sich vor der Erfahrung und reiflichem Nachdenken unmöglich lange halten
konnte und denn auch in der That allmählich in weiten Kreisen als Thorheit
erkannt worden ist. Das „I^isssi? Mrs!" wurde nicht mehr als ein Fortschritt,
sondern als ein Hemmniß angesehen, die Praktiker setzten sich über dieses Princip
hinweg, und die Volkswirthe selbst ließen schließlich ihre einst geheiligte Formel
fallen. „Gegenwärtig ist man bereits so weit gekommen, den Satz, daß die freie
Entfaltung der wirthschaftlichen Kräfte zur Harmonie der Interessen, zum all¬
gemeinen Wohle führen müsse, für ein grobes, anmaßendes und haltloses So-
Phisma zu erklären."

Ebenso verkehrt und überdies in stärkstem Gegensatz zu allem menschlichen
Gefühle verfuhr man mit der Abstrcictivn der Begriffe „Arbeit" und „Arbeiter."
Der Arbeiter sollte nichts als ein Werkzeug der Gütererzeugung sein. Daß er vor
allen Dingen ein Mensch und ein Glied der Gesellschaft, daß er in der Regel auch
Vorstand einer Haushaltung ist, daß er eine solche Regelung seiner Daseins¬
bedingungen zu verlangen berechtigt ist, welche ihm die Möglichkeit eines ge¬
ordneten und wohlthuenden Familienlebens verbürgt, daß er endlich Staats¬
bürger ist und zu verständiger Würdigung seiner politischen und socialen Umgebung
ein gewisses Maß von Muße und Gelegenheit zu geistiger Bildung bedarf, wurde
von der Blindheit der Theoretiker übersehen. Man entwickelte den Arbeiter zu
inseitig nach der Richtung seines technischen Wissens und Könnens hin, die
moralische und sociale Bildung, die er bedarf, wurde vernachlässigt. „Man
steht," sagt unsre Schrift, „den Arbeiter als Waare an, was er doch wegen
der Schwierigkeit der Ortsveränderung für seine Familie und der zu häufigen
Unmöglichkeit, auf dem Markte zu warten, niemals werden kann."

Die Einsicht in diese Wahrheiten tritt gegenwärtig noch nicht in genügender
Stärke hervor. Sie müssen Gemeingut werden, wenn eine gründliche Ver¬
besserung der socialen Gesetzgebung zu hoffen sein soll.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0097" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/150819"/>
          <fw type="header" place="top"> Politisch» Rückblicke und Ausblicke.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_254" prev="#ID_253"> worden, aber die Ueberzeugung, daß die bisherige Methode unfehlbar sei, ist<lb/>
doch ein wenig ins Schwanken gerathen, die sogenannten wissenschaftlichen Er¬<lb/>
gebnisse haben begonnen, fraglich zu erscheinen, und die üblichen Schlagwörter<lb/>
wollen beim Publicum nicht recht mehr verfangen. Beispiele dafür liefert die<lb/>
Geschichte der Begriffe &#x201E;I^isssö lui'ö!" &#x201E;Arbeit" und &#x201E;Arbeiter."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_255"> Die Lehre des Gehenlassens, der wirthschaftlichen Nichteinmischung, wurde<lb/>
zuerst als ideale Forderung aufgestellt und that ihre Dienste als Kampfmittel<lb/>
gegen unverständiges Eingreifen mancher Regierungen in das Gewerbsleben.<lb/>
Wenn das Princip des Gewährenlassens dann aber als absolutes und unter<lb/>
allen Umständen nützliches geltend zu machen versucht wurde, wenn man jedes<lb/>
Dazwischentreten der Regierungen in wirthschaftlichen Angelegenheiten als vom<lb/>
Uebel verdammte, wenn dieselben selbst offenbaren Ungerechtigkeiten, Bedrückungen<lb/>
und Uebervvrtheilungen nicht entgegentreten, den Schwachen nicht ihre Hand<lb/>
bieten sollten, so war dies eine Uebertreibung und eine doctrincire Absurdität,<lb/>
die sich vor der Erfahrung und reiflichem Nachdenken unmöglich lange halten<lb/>
konnte und denn auch in der That allmählich in weiten Kreisen als Thorheit<lb/>
erkannt worden ist. Das &#x201E;I^isssi? Mrs!" wurde nicht mehr als ein Fortschritt,<lb/>
sondern als ein Hemmniß angesehen, die Praktiker setzten sich über dieses Princip<lb/>
hinweg, und die Volkswirthe selbst ließen schließlich ihre einst geheiligte Formel<lb/>
fallen. &#x201E;Gegenwärtig ist man bereits so weit gekommen, den Satz, daß die freie<lb/>
Entfaltung der wirthschaftlichen Kräfte zur Harmonie der Interessen, zum all¬<lb/>
gemeinen Wohle führen müsse, für ein grobes, anmaßendes und haltloses So-<lb/>
Phisma zu erklären."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_256"> Ebenso verkehrt und überdies in stärkstem Gegensatz zu allem menschlichen<lb/>
Gefühle verfuhr man mit der Abstrcictivn der Begriffe &#x201E;Arbeit" und &#x201E;Arbeiter."<lb/>
Der Arbeiter sollte nichts als ein Werkzeug der Gütererzeugung sein. Daß er vor<lb/>
allen Dingen ein Mensch und ein Glied der Gesellschaft, daß er in der Regel auch<lb/>
Vorstand einer Haushaltung ist, daß er eine solche Regelung seiner Daseins¬<lb/>
bedingungen zu verlangen berechtigt ist, welche ihm die Möglichkeit eines ge¬<lb/>
ordneten und wohlthuenden Familienlebens verbürgt, daß er endlich Staats¬<lb/>
bürger ist und zu verständiger Würdigung seiner politischen und socialen Umgebung<lb/>
ein gewisses Maß von Muße und Gelegenheit zu geistiger Bildung bedarf, wurde<lb/>
von der Blindheit der Theoretiker übersehen. Man entwickelte den Arbeiter zu<lb/>
inseitig nach der Richtung seines technischen Wissens und Könnens hin, die<lb/>
moralische und sociale Bildung, die er bedarf, wurde vernachlässigt. &#x201E;Man<lb/>
steht," sagt unsre Schrift, &#x201E;den Arbeiter als Waare an, was er doch wegen<lb/>
der Schwierigkeit der Ortsveränderung für seine Familie und der zu häufigen<lb/>
Unmöglichkeit, auf dem Markte zu warten, niemals werden kann."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_257"> Die Einsicht in diese Wahrheiten tritt gegenwärtig noch nicht in genügender<lb/>
Stärke hervor. Sie müssen Gemeingut werden, wenn eine gründliche Ver¬<lb/>
besserung der socialen Gesetzgebung zu hoffen sein soll.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0097] Politisch» Rückblicke und Ausblicke. worden, aber die Ueberzeugung, daß die bisherige Methode unfehlbar sei, ist doch ein wenig ins Schwanken gerathen, die sogenannten wissenschaftlichen Er¬ gebnisse haben begonnen, fraglich zu erscheinen, und die üblichen Schlagwörter wollen beim Publicum nicht recht mehr verfangen. Beispiele dafür liefert die Geschichte der Begriffe „I^isssö lui'ö!" „Arbeit" und „Arbeiter." Die Lehre des Gehenlassens, der wirthschaftlichen Nichteinmischung, wurde zuerst als ideale Forderung aufgestellt und that ihre Dienste als Kampfmittel gegen unverständiges Eingreifen mancher Regierungen in das Gewerbsleben. Wenn das Princip des Gewährenlassens dann aber als absolutes und unter allen Umständen nützliches geltend zu machen versucht wurde, wenn man jedes Dazwischentreten der Regierungen in wirthschaftlichen Angelegenheiten als vom Uebel verdammte, wenn dieselben selbst offenbaren Ungerechtigkeiten, Bedrückungen und Uebervvrtheilungen nicht entgegentreten, den Schwachen nicht ihre Hand bieten sollten, so war dies eine Uebertreibung und eine doctrincire Absurdität, die sich vor der Erfahrung und reiflichem Nachdenken unmöglich lange halten konnte und denn auch in der That allmählich in weiten Kreisen als Thorheit erkannt worden ist. Das „I^isssi? Mrs!" wurde nicht mehr als ein Fortschritt, sondern als ein Hemmniß angesehen, die Praktiker setzten sich über dieses Princip hinweg, und die Volkswirthe selbst ließen schließlich ihre einst geheiligte Formel fallen. „Gegenwärtig ist man bereits so weit gekommen, den Satz, daß die freie Entfaltung der wirthschaftlichen Kräfte zur Harmonie der Interessen, zum all¬ gemeinen Wohle führen müsse, für ein grobes, anmaßendes und haltloses So- Phisma zu erklären." Ebenso verkehrt und überdies in stärkstem Gegensatz zu allem menschlichen Gefühle verfuhr man mit der Abstrcictivn der Begriffe „Arbeit" und „Arbeiter." Der Arbeiter sollte nichts als ein Werkzeug der Gütererzeugung sein. Daß er vor allen Dingen ein Mensch und ein Glied der Gesellschaft, daß er in der Regel auch Vorstand einer Haushaltung ist, daß er eine solche Regelung seiner Daseins¬ bedingungen zu verlangen berechtigt ist, welche ihm die Möglichkeit eines ge¬ ordneten und wohlthuenden Familienlebens verbürgt, daß er endlich Staats¬ bürger ist und zu verständiger Würdigung seiner politischen und socialen Umgebung ein gewisses Maß von Muße und Gelegenheit zu geistiger Bildung bedarf, wurde von der Blindheit der Theoretiker übersehen. Man entwickelte den Arbeiter zu inseitig nach der Richtung seines technischen Wissens und Könnens hin, die moralische und sociale Bildung, die er bedarf, wurde vernachlässigt. „Man steht," sagt unsre Schrift, „den Arbeiter als Waare an, was er doch wegen der Schwierigkeit der Ortsveränderung für seine Familie und der zu häufigen Unmöglichkeit, auf dem Markte zu warten, niemals werden kann." Die Einsicht in diese Wahrheiten tritt gegenwärtig noch nicht in genügender Stärke hervor. Sie müssen Gemeingut werden, wenn eine gründliche Ver¬ besserung der socialen Gesetzgebung zu hoffen sein soll.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157970
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157970/97
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157970/97>, abgerufen am 09.06.2024.