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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Drittes Quartal.

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Der jüngste Tag.

Andersons Burg war ein großes aus Baumstämmen errichtetes Gebäude
von seltsamer Konstruktion. Alles an ihr war von den Händen Andrews ge¬
baut, der ihr Burgherr und zugleich ihr Baumeister war. Augenscheinlich hatte sich
in ihrer Gestaltung eine wunderliche Phantasie gefallen. Es war ein Versuch,
etwas mittelalterliches aus Baumstämmen herzustellen. Da gab es Zinnen
und Spitzbogenfenster, und durch eine erfinderische Umgestaltung des Schorn¬
steins, der ein Blockhaus gewöhnlich entstellt, war ein Ding entstanden, das
wie ein runder Vurgthurm aussah. Aber das Ganze war in seltsamem Ge¬
schmacke zusammengesetzt, und ich fürchte, Herr Ruskin würde es als etwas ver¬
wirrt betrachtet haben; denn während es für die, welche von oben her sich ihm
näherten, wie eine Burg aussah, erschien es denen, die aus die Front zuschritten,
ganz anders; denn ans dieser Seite befand sich ein Porticus mit massiven do¬
rischen Säulen, die, näher besehen, nichts geringeres als geschälte Ahornstämme
waren. Andrew behauptete, daß die natürliche Form eines Baumstammes die
ideale und vollkommene Form der Säule sei.

Vor diesem malerischen Bau, der halb Burg, halb Hütte mit Anflügen von
Kirche und Tempel war, kam August Weste am Samstag abends um. Er ging
nicht herum nach dem Porticus und klopfte an die Vorderthür, wie ein Fremder
gethan Hütte, sondern begab sich hinter den streitthnrmartigen Schornstein und
zog die Schnur eiuer Lürmglocke. Sofort fuhr der Kopf Andrew Andersons
aus einem gothischen Loche -- man konnte es kein Fenster nennen. Sein un-
verschnittenes Haar, etwas dunkler als kastanienbraun, siel ihm bis ans die
Hüften herab, und sein wirrer Bart lag ihm auf der Brust. Statt eines Rockes
trug er das eigentümliche Kleidungsstück aus Wolle und Flachs, welches unter
den Namen Waraus (das deutsche Wamms) bekannt war, eine Art Oberhemd.
Er war fünfundvierzig Jahre alt, aber es befanden sich in seinem Haar und
Bart Strähne von Grau, und er sah gegen zehn Jahre älter aus.

Was giebts, guter Freund? rief er. Bist du es? Komm herauf und sei
mir baß willkommen. Denn seine Redeweise war so altertümlich und beinahe
so wunderlich zusammengewürfelt wie seine Art zu bauen. Und dann rief er,
indem er aus dein Fenster eine Strickleiter warf: Steig empor, steig empor,
mein wackrer, junger Freund!

Der junge Weste kletterte die Leiter hinan in die große Oberstube. Denn
es war eine der Eigentümlichkeiten der Burg, daß der obere Teil derselbe": keine
sichtbare Verbindung mit den: untern hatte. Mit Ausnahme Augusts und dann
und wann eines gelehrten Fremden hatte niemand als der Eigentümer Zutritt
zum obern Stockwerke des Hauses, und die Nachbarn, welche immer Einlaß zu
den untern Rünmeu sanden, betrachteten den obern Teil der Burg mit der
Scheu, die ein Geheimnis einflößt. August wurde oft mit Fragen wegen des¬
selben bestürmt, antwortete aber stets einfach, Herrn Anderson würde es seines
Erachtens nicht lieb sein, wenn darüber gesprochen würde. Für den Burgherrn


Der jüngste Tag.

Andersons Burg war ein großes aus Baumstämmen errichtetes Gebäude
von seltsamer Konstruktion. Alles an ihr war von den Händen Andrews ge¬
baut, der ihr Burgherr und zugleich ihr Baumeister war. Augenscheinlich hatte sich
in ihrer Gestaltung eine wunderliche Phantasie gefallen. Es war ein Versuch,
etwas mittelalterliches aus Baumstämmen herzustellen. Da gab es Zinnen
und Spitzbogenfenster, und durch eine erfinderische Umgestaltung des Schorn¬
steins, der ein Blockhaus gewöhnlich entstellt, war ein Ding entstanden, das
wie ein runder Vurgthurm aussah. Aber das Ganze war in seltsamem Ge¬
schmacke zusammengesetzt, und ich fürchte, Herr Ruskin würde es als etwas ver¬
wirrt betrachtet haben; denn während es für die, welche von oben her sich ihm
näherten, wie eine Burg aussah, erschien es denen, die aus die Front zuschritten,
ganz anders; denn ans dieser Seite befand sich ein Porticus mit massiven do¬
rischen Säulen, die, näher besehen, nichts geringeres als geschälte Ahornstämme
waren. Andrew behauptete, daß die natürliche Form eines Baumstammes die
ideale und vollkommene Form der Säule sei.

Vor diesem malerischen Bau, der halb Burg, halb Hütte mit Anflügen von
Kirche und Tempel war, kam August Weste am Samstag abends um. Er ging
nicht herum nach dem Porticus und klopfte an die Vorderthür, wie ein Fremder
gethan Hütte, sondern begab sich hinter den streitthnrmartigen Schornstein und
zog die Schnur eiuer Lürmglocke. Sofort fuhr der Kopf Andrew Andersons
aus einem gothischen Loche — man konnte es kein Fenster nennen. Sein un-
verschnittenes Haar, etwas dunkler als kastanienbraun, siel ihm bis ans die
Hüften herab, und sein wirrer Bart lag ihm auf der Brust. Statt eines Rockes
trug er das eigentümliche Kleidungsstück aus Wolle und Flachs, welches unter
den Namen Waraus (das deutsche Wamms) bekannt war, eine Art Oberhemd.
Er war fünfundvierzig Jahre alt, aber es befanden sich in seinem Haar und
Bart Strähne von Grau, und er sah gegen zehn Jahre älter aus.

Was giebts, guter Freund? rief er. Bist du es? Komm herauf und sei
mir baß willkommen. Denn seine Redeweise war so altertümlich und beinahe
so wunderlich zusammengewürfelt wie seine Art zu bauen. Und dann rief er,
indem er aus dein Fenster eine Strickleiter warf: Steig empor, steig empor,
mein wackrer, junger Freund!

Der junge Weste kletterte die Leiter hinan in die große Oberstube. Denn
es war eine der Eigentümlichkeiten der Burg, daß der obere Teil derselbe»: keine
sichtbare Verbindung mit den: untern hatte. Mit Ausnahme Augusts und dann
und wann eines gelehrten Fremden hatte niemand als der Eigentümer Zutritt
zum obern Stockwerke des Hauses, und die Nachbarn, welche immer Einlaß zu
den untern Rünmeu sanden, betrachteten den obern Teil der Burg mit der
Scheu, die ein Geheimnis einflößt. August wurde oft mit Fragen wegen des¬
selben bestürmt, antwortete aber stets einfach, Herrn Anderson würde es seines
Erachtens nicht lieb sein, wenn darüber gesprochen würde. Für den Burgherrn


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_193340/290>, abgerufen am 24.05.2024.