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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Viertes Quartal.

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Das Mädchen von Tisza-cLszlar.

richtspersonen zu mystifiziren. Aber die Verdachtsgründe mehrten sich. Zwei
Witwen des Ortes sagten Anfang Juni eidlich aus, sie Hütten am 1. April
mittags zwischen 12--1 Uhr beim Vorübergehen aus dem Teile, wo das Franen-
bad sich befinde, unterdrücktes Wehlklagen und Stöhnen gehört, hätten aber ge¬
dacht, es rühre von jüdischen Kindern her. Sehr gravirend war es auch, daß
die verhafteten Juden -- auf das Geständnis des Moritz Scharf hin waren
noch drei Schächter und drei andre Juden verhaftet worden -- sich gegenseitig
gar nicht kennen wollten, obwohl das Gegenteil evident war. Noch auffälliger
war, daß der Staatsanwalt Michael Bot, der mit den reichen Juden intimen
Verkehr hatte, der alles anwandte, um die Untersuchung zu unterdrücken, und für
den auch in jener Zeit unter den reichen Juden insgeheim eine Geldsammlung ver¬
anstaltet worden sein soll, nach der Ankunft des Oberstaatsanwalts v. Kozma
sich plötzlich erschoß.

Als auch die Erfindung der jüdischen Blätter, daß am 1. April ein jüdisches
Knäblein beschnitten worden sei und die beiden Söhne Scharf dies irrtümlich
für die Esther Solymosi gehalten Hütte", alsbald widerlegt und nachgewiesen
wurde, daß seit fünf Monaten in der dortigen Synagoge überhaupt keine rituelle
Beschneidung stattgefunden habe, nahm man seine Zuflucht zu folgendem Mittel.
Am 11. Juni kam eine Jüdin, Frau Klein, zu der krank darniederliegenden Witwe
Solymosi und gab sich derselben gegenüber als Christin ans. Sie sei eine Wahr¬
sagerin, könne ihr aber doch nicht den Verbleib ihrer Tochter angeben. Aber
in Marmaros-Sziget sei eine viel tingere Wahrsagerin; wenn ihr die Frau
Solymosi ein Hemd der verschwundenen Tochter auf einige Tage überlassen
wolle, so werde die Wahrsagerin in Marmaros-Sziget mit Hilfe dieses Hemdes
es gewiß herausbringen, wo Esther sei. Die Witwe wollte davon nichts wissen;
die Nachbarinnen aber, die die Frau hatten zu der Witwe gehen sehen und Ver¬
dacht schöpften, liefen zum Dorfschulzen, bei dem gerade der Bezirksstuhlrichter
anwesend war. Vor diesen wurde die angebliche Wahrsagerin gebracht und
gestand, sie sei eine Jüdin. In das Gefängnis zu Nyiregyhaza abgeführt, be¬
hauptete sie nur sechzig Kreuzer zu haben; aber bei einer genauen Visitation
sand man in den Strümpfen versteckt eine große Summe Geldes, von dem sie
nicht sagen konnte oder wollte, woher es stamme.

Auch die nun vou jüdischer Seite auftauchende Behauptung, Esther sei vaga-
bondirender Natur gewesen, hätte sich öfter von Hanse entfernt, und so werde
es wohl auch diesmal sein, genügte nicht, ihr rätselhaftes Verschwinden zu er¬
klären; es wurde das Gegenteil konstatirt, und daß sie körperlich noch völlig
unentwickelt gewesen sei.

Da wurde plötzlich in alle Welt die Nachricht verbreitet, Esther Solymosi
el am 18. Juni zwischen Tisza-Lot und Tisza-Data von Floßknechten aus
dem Theiß gefischt worden; man habe sie an der Kleidung erkannt, auch das
weiß- und gelbgewiirfelte Tuch habe sie, an der Hand festgebunden, gehabt;


Das Mädchen von Tisza-cLszlar.

richtspersonen zu mystifiziren. Aber die Verdachtsgründe mehrten sich. Zwei
Witwen des Ortes sagten Anfang Juni eidlich aus, sie Hütten am 1. April
mittags zwischen 12—1 Uhr beim Vorübergehen aus dem Teile, wo das Franen-
bad sich befinde, unterdrücktes Wehlklagen und Stöhnen gehört, hätten aber ge¬
dacht, es rühre von jüdischen Kindern her. Sehr gravirend war es auch, daß
die verhafteten Juden — auf das Geständnis des Moritz Scharf hin waren
noch drei Schächter und drei andre Juden verhaftet worden — sich gegenseitig
gar nicht kennen wollten, obwohl das Gegenteil evident war. Noch auffälliger
war, daß der Staatsanwalt Michael Bot, der mit den reichen Juden intimen
Verkehr hatte, der alles anwandte, um die Untersuchung zu unterdrücken, und für
den auch in jener Zeit unter den reichen Juden insgeheim eine Geldsammlung ver¬
anstaltet worden sein soll, nach der Ankunft des Oberstaatsanwalts v. Kozma
sich plötzlich erschoß.

Als auch die Erfindung der jüdischen Blätter, daß am 1. April ein jüdisches
Knäblein beschnitten worden sei und die beiden Söhne Scharf dies irrtümlich
für die Esther Solymosi gehalten Hütte», alsbald widerlegt und nachgewiesen
wurde, daß seit fünf Monaten in der dortigen Synagoge überhaupt keine rituelle
Beschneidung stattgefunden habe, nahm man seine Zuflucht zu folgendem Mittel.
Am 11. Juni kam eine Jüdin, Frau Klein, zu der krank darniederliegenden Witwe
Solymosi und gab sich derselben gegenüber als Christin ans. Sie sei eine Wahr¬
sagerin, könne ihr aber doch nicht den Verbleib ihrer Tochter angeben. Aber
in Marmaros-Sziget sei eine viel tingere Wahrsagerin; wenn ihr die Frau
Solymosi ein Hemd der verschwundenen Tochter auf einige Tage überlassen
wolle, so werde die Wahrsagerin in Marmaros-Sziget mit Hilfe dieses Hemdes
es gewiß herausbringen, wo Esther sei. Die Witwe wollte davon nichts wissen;
die Nachbarinnen aber, die die Frau hatten zu der Witwe gehen sehen und Ver¬
dacht schöpften, liefen zum Dorfschulzen, bei dem gerade der Bezirksstuhlrichter
anwesend war. Vor diesen wurde die angebliche Wahrsagerin gebracht und
gestand, sie sei eine Jüdin. In das Gefängnis zu Nyiregyhaza abgeführt, be¬
hauptete sie nur sechzig Kreuzer zu haben; aber bei einer genauen Visitation
sand man in den Strümpfen versteckt eine große Summe Geldes, von dem sie
nicht sagen konnte oder wollte, woher es stamme.

Auch die nun vou jüdischer Seite auftauchende Behauptung, Esther sei vaga-
bondirender Natur gewesen, hätte sich öfter von Hanse entfernt, und so werde
es wohl auch diesmal sein, genügte nicht, ihr rätselhaftes Verschwinden zu er¬
klären; es wurde das Gegenteil konstatirt, und daß sie körperlich noch völlig
unentwickelt gewesen sei.

Da wurde plötzlich in alle Welt die Nachricht verbreitet, Esther Solymosi
el am 18. Juni zwischen Tisza-Lot und Tisza-Data von Floßknechten aus
dem Theiß gefischt worden; man habe sie an der Kleidung erkannt, auch das
weiß- und gelbgewiirfelte Tuch habe sie, an der Hand festgebunden, gehabt;


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[0166] Das Mädchen von Tisza-cLszlar. richtspersonen zu mystifiziren. Aber die Verdachtsgründe mehrten sich. Zwei Witwen des Ortes sagten Anfang Juni eidlich aus, sie Hütten am 1. April mittags zwischen 12—1 Uhr beim Vorübergehen aus dem Teile, wo das Franen- bad sich befinde, unterdrücktes Wehlklagen und Stöhnen gehört, hätten aber ge¬ dacht, es rühre von jüdischen Kindern her. Sehr gravirend war es auch, daß die verhafteten Juden — auf das Geständnis des Moritz Scharf hin waren noch drei Schächter und drei andre Juden verhaftet worden — sich gegenseitig gar nicht kennen wollten, obwohl das Gegenteil evident war. Noch auffälliger war, daß der Staatsanwalt Michael Bot, der mit den reichen Juden intimen Verkehr hatte, der alles anwandte, um die Untersuchung zu unterdrücken, und für den auch in jener Zeit unter den reichen Juden insgeheim eine Geldsammlung ver¬ anstaltet worden sein soll, nach der Ankunft des Oberstaatsanwalts v. Kozma sich plötzlich erschoß. Als auch die Erfindung der jüdischen Blätter, daß am 1. April ein jüdisches Knäblein beschnitten worden sei und die beiden Söhne Scharf dies irrtümlich für die Esther Solymosi gehalten Hütte», alsbald widerlegt und nachgewiesen wurde, daß seit fünf Monaten in der dortigen Synagoge überhaupt keine rituelle Beschneidung stattgefunden habe, nahm man seine Zuflucht zu folgendem Mittel. Am 11. Juni kam eine Jüdin, Frau Klein, zu der krank darniederliegenden Witwe Solymosi und gab sich derselben gegenüber als Christin ans. Sie sei eine Wahr¬ sagerin, könne ihr aber doch nicht den Verbleib ihrer Tochter angeben. Aber in Marmaros-Sziget sei eine viel tingere Wahrsagerin; wenn ihr die Frau Solymosi ein Hemd der verschwundenen Tochter auf einige Tage überlassen wolle, so werde die Wahrsagerin in Marmaros-Sziget mit Hilfe dieses Hemdes es gewiß herausbringen, wo Esther sei. Die Witwe wollte davon nichts wissen; die Nachbarinnen aber, die die Frau hatten zu der Witwe gehen sehen und Ver¬ dacht schöpften, liefen zum Dorfschulzen, bei dem gerade der Bezirksstuhlrichter anwesend war. Vor diesen wurde die angebliche Wahrsagerin gebracht und gestand, sie sei eine Jüdin. In das Gefängnis zu Nyiregyhaza abgeführt, be¬ hauptete sie nur sechzig Kreuzer zu haben; aber bei einer genauen Visitation sand man in den Strümpfen versteckt eine große Summe Geldes, von dem sie nicht sagen konnte oder wollte, woher es stamme. Auch die nun vou jüdischer Seite auftauchende Behauptung, Esther sei vaga- bondirender Natur gewesen, hätte sich öfter von Hanse entfernt, und so werde es wohl auch diesmal sein, genügte nicht, ihr rätselhaftes Verschwinden zu er¬ klären; es wurde das Gegenteil konstatirt, und daß sie körperlich noch völlig unentwickelt gewesen sei. Da wurde plötzlich in alle Welt die Nachricht verbreitet, Esther Solymosi el am 18. Juni zwischen Tisza-Lot und Tisza-Data von Floßknechten aus dem Theiß gefischt worden; man habe sie an der Kleidung erkannt, auch das weiß- und gelbgewiirfelte Tuch habe sie, an der Hand festgebunden, gehabt;

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_359176/166>, abgerufen am 17.06.2024.