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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Viertes Quartal.

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Das Mädchen von Tisza-Lszlar.

^ so sagte Moritz Scharf -- herankommen sah, trat er an die Hausthür,
redete das Mädchen an und bat es, hereinzukommen und, da gerade Sabbath
sei, die Schüssel vom Herde in die Stube zu tragen. Das bereitwillig einge¬
tretene Mädchen legte ihr Bündel auf eine Bank, um dem Auftrage nachzukommen,
als der Tempeldiener sie von hinten packte und ihr mit raschem Griff die Hände
band, während der hinter der Thür stehende galizische Bettler mit der Frau
des Tempeldicuers dem Mädchen schnell den Mund knebelten. Die drei ent¬
kleideten nun das Mädchen und stießen es in das ganz in der Nähe befindliche,
unterirdisch gelegene und mit Wasser gefüllte Frauenbild, wo Esther von der eben¬
falls fast entkleideten Frau Scharf und dem jüdischen Bettler gewaschen, ihr
die Haare gelöst, sie dann abgetrocknet, in ein Tuch gehüllt und nach Anbruch
der Dämmerung in die Synagoge getragen wurde. Dort wurde das Tuch vom
Körper des Mädchens entfernt, dem Mädchen Augen und Haar mit einem so¬
genannten Andachtstuch umbunden und, ohne daß es Widerstand leisten konnte,
nuf den in der Vorhalle der Synagoge stehenden Tisch geschnallt. Die Frau
des Tempeldieners vollzog dann an den Füßen des Mädchens noch eine Wa¬
schung, worauf der herangetreteue Schächter Salomon Schwarz mit dem Schächter-
messer durch eine" langgezogenen Schnitt am Halse das Mädchen abschächtete.
Das hervorquellende Blut wurde von den Anwesenden in bereit gehaltenen Ge¬
fäßen unter Beobachtung gewisser Zeremonien aufgefangen. Als die erste hef¬
tige Blutung vorüber war, ergriffen die Frau Scharf und der jüdische Bettler
deu Rumpf des Opfers und hielten denselben mit dem Kopf nach abwärts ge¬
wandt, um die Verblutung zu beschleunigen, wobei laute Gebete gesprochen
wurden.

Dies im wesentlichen das Geständnis des Moritz Scharf.

Als der Inhalt dieses Geständnisses ruchbar wurde und der Abgeordnete,
w dessen Wahlkreise Tisza-Eszlar liegt, von Onody, die Sache selbst im
Reichstage zur Sprache brachte, entstand große Bestürzung unter den jüdischen
Einwohnern des Orts, und sie schickten einen der angesehensten aus ihrer Mitte,
den Pachter Jakob Lindemann, nach Pest, wo derselbe mündlich und durch den
Pester Lloyd verbreitete, an der Geschichte sei kein wahres Wort; Esther Soly-
wosi sei wegen einer erhaltenen Züchtigung einfach durchgegangen und diene
gegenwärtig in dem Dorfe Nagyfalu, er selbst habe das Mädchen dort ge¬
sehen, man spreche in Tisza-Eszlar gar nicht mehr von der Sache, und er
wundere sich nur, daß mau in Pest diese Geschichte von einem abgeschlachteten
Ehristenmüdchen überhaupt noch erzähle. Aber bereits am nächsten Tage -- denn
Lügen haben kurze Beine -- wurde diese Lichtmannsche Aufklärung in demselben
Blatte, von dem sie in die Welt gesetzt worden war, dem "Pester Lloyd," de-
wentirt, und man schritt zu einem andern Manöver: man ließ von den ver¬
schiedensten Orten aus nach einander die Nachricht verbreiten, Esther Solymosi
^i aufgefunden worden Gleichzeitig wandte man alle Mittel an, um die Ge-


Grenzlivten IV. 1382, 21
Das Mädchen von Tisza-Lszlar.

^ so sagte Moritz Scharf — herankommen sah, trat er an die Hausthür,
redete das Mädchen an und bat es, hereinzukommen und, da gerade Sabbath
sei, die Schüssel vom Herde in die Stube zu tragen. Das bereitwillig einge¬
tretene Mädchen legte ihr Bündel auf eine Bank, um dem Auftrage nachzukommen,
als der Tempeldiener sie von hinten packte und ihr mit raschem Griff die Hände
band, während der hinter der Thür stehende galizische Bettler mit der Frau
des Tempeldicuers dem Mädchen schnell den Mund knebelten. Die drei ent¬
kleideten nun das Mädchen und stießen es in das ganz in der Nähe befindliche,
unterirdisch gelegene und mit Wasser gefüllte Frauenbild, wo Esther von der eben¬
falls fast entkleideten Frau Scharf und dem jüdischen Bettler gewaschen, ihr
die Haare gelöst, sie dann abgetrocknet, in ein Tuch gehüllt und nach Anbruch
der Dämmerung in die Synagoge getragen wurde. Dort wurde das Tuch vom
Körper des Mädchens entfernt, dem Mädchen Augen und Haar mit einem so¬
genannten Andachtstuch umbunden und, ohne daß es Widerstand leisten konnte,
nuf den in der Vorhalle der Synagoge stehenden Tisch geschnallt. Die Frau
des Tempeldieners vollzog dann an den Füßen des Mädchens noch eine Wa¬
schung, worauf der herangetreteue Schächter Salomon Schwarz mit dem Schächter-
messer durch eine« langgezogenen Schnitt am Halse das Mädchen abschächtete.
Das hervorquellende Blut wurde von den Anwesenden in bereit gehaltenen Ge¬
fäßen unter Beobachtung gewisser Zeremonien aufgefangen. Als die erste hef¬
tige Blutung vorüber war, ergriffen die Frau Scharf und der jüdische Bettler
deu Rumpf des Opfers und hielten denselben mit dem Kopf nach abwärts ge¬
wandt, um die Verblutung zu beschleunigen, wobei laute Gebete gesprochen
wurden.

Dies im wesentlichen das Geständnis des Moritz Scharf.

Als der Inhalt dieses Geständnisses ruchbar wurde und der Abgeordnete,
w dessen Wahlkreise Tisza-Eszlar liegt, von Onody, die Sache selbst im
Reichstage zur Sprache brachte, entstand große Bestürzung unter den jüdischen
Einwohnern des Orts, und sie schickten einen der angesehensten aus ihrer Mitte,
den Pachter Jakob Lindemann, nach Pest, wo derselbe mündlich und durch den
Pester Lloyd verbreitete, an der Geschichte sei kein wahres Wort; Esther Soly-
wosi sei wegen einer erhaltenen Züchtigung einfach durchgegangen und diene
gegenwärtig in dem Dorfe Nagyfalu, er selbst habe das Mädchen dort ge¬
sehen, man spreche in Tisza-Eszlar gar nicht mehr von der Sache, und er
wundere sich nur, daß mau in Pest diese Geschichte von einem abgeschlachteten
Ehristenmüdchen überhaupt noch erzähle. Aber bereits am nächsten Tage — denn
Lügen haben kurze Beine — wurde diese Lichtmannsche Aufklärung in demselben
Blatte, von dem sie in die Welt gesetzt worden war, dem „Pester Lloyd," de-
wentirt, und man schritt zu einem andern Manöver: man ließ von den ver¬
schiedensten Orten aus nach einander die Nachricht verbreiten, Esther Solymosi
^i aufgefunden worden Gleichzeitig wandte man alle Mittel an, um die Ge-


Grenzlivten IV. 1382, 21
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_359176/165>, abgerufen am 17.06.2024.