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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Viertes Quartal.

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Aare und Runo Fischer.

Wechsel nicht stattfindet, so kommen alle transcendentalen Fähigkeiten nicht zur
Entwicklung. Also ist die Thatsache der Entwicklung unsers Denkens und An-
schauens ein genngscuner Beweis dafür, daß der Stoffwechsel im Gehirn nicht
nnr unsre Vorstellung, sondern auch eine vorgestellte wirkliche Thatsache ist.
Kant deutet auf das Beispiel der Zeitbestinunuug für alle irdischen Gegenstände
durch die Bewegung der Sonne. Wir können auch an einen Schiffer erinnern,
der die Zeit und Richtung seiner Fahrt an den festen Punkten anßer ihm be¬
stimmen muß, seien es Küstenstriche, seien es Sonne, Mond und Sterne. Würde
man ihn in ein dunkles Verließ auf seinem Schiff einsperren, wo er weder Tag
noch Nacht unterscheiden konnte, so hätte er zwar noch die Vorstellungen alle,
die er sich früher erworben, aber sie würden ihm nichts mehr helfen zu irgeud
einer Zielbestimmung. Er muß die wirklichen Dinge anßer ihm sich vorstellen,
wie sie gegeuwürtig erscheine", dann nur kaun er sie brauchen zur Bestimmung
seiner Fahrt. Daher ist es ganz sicher: sobald ein Mensch die Zeit bestimmen
soll, in welcher er lebt, so muß es 1. äußere Dinge wirklich geben, und 2. muß
er sie wahrnehmen und vorstellen können.

Darum sagt Kant, daß die Bestimmung meiner Zeit nicht möglich sei
durch bloße Vorstellungen, welche beharrlich sein können oder wechseln, sondern
nur durch wirklich beharrende und wechselnde Gegenstände außer mir, welche
ich aber wahrnehmen d. i. vorstellen muß. Seine Worte sind nach dem Vor¬
hergesagten vollkommen klar: "Das bloße, aber empirisch bestimmte, Bewußt¬
sein meines eignen Daseins beweist das Dasein der Gegenstände im Raum außer
mir. . . . Das Bewußtsein meines eignen Daseins ist zugleich ein unmittel¬
bares Bewußtsein des Daseins andrer Dinge außer mir."

Was macht K. Fischer aus diesen unantastbaren klaren Sätzen? Er
bildet sich ein, wirkliche Dinge anßer uns seien Dinge an sich und nicht wahr¬
genommene Dinge, d. i. mögliche Erscheinungen, und meint nun, Kant widerspräche
sich selbst, weil er einmal behaupte, Dinge an sich würden nicht wahrgenommen,
und das andremal, wenn sie nicht wahrgenommen würden, so sei keine empirische
Zeitbestimmung möglich. Er unterscheidet nicht zwischen unsrer Vorstellung von
Dingen und Dingen, insofern sie vorgestellte Gegenstände sind. Er verwechselt
eine beharrliche Vorstellung mit der Vorstellung von etwas Beharrlichen.

Kant setzte seine ganze gewaltige Kraft daran, den Streit zwischen empi¬
rischem Idealismus und transcendentalen Realismus zu schlichten und die Phi¬
losophie im transeendentnlen Idealismus und empirischen Realismus auf die
einzig mögliche Basis zu stellen, von der aus sie sür alle Wissenschaften frucht¬
bar werden kann. K. Fischer dagegen reiht sich der Zahl derjenigen um, welche
ihn trotz alledem für einen empirischen oder subjektiven Idealisten erklären nach
Fichtes Vorgang.

Da wir den Niedergang der ganzen philosophischen Bewegung im deutschen
Volke und die Verachtung der Philosophie geschichtlich entstanden sehen durch


Aare und Runo Fischer.

Wechsel nicht stattfindet, so kommen alle transcendentalen Fähigkeiten nicht zur
Entwicklung. Also ist die Thatsache der Entwicklung unsers Denkens und An-
schauens ein genngscuner Beweis dafür, daß der Stoffwechsel im Gehirn nicht
nnr unsre Vorstellung, sondern auch eine vorgestellte wirkliche Thatsache ist.
Kant deutet auf das Beispiel der Zeitbestinunuug für alle irdischen Gegenstände
durch die Bewegung der Sonne. Wir können auch an einen Schiffer erinnern,
der die Zeit und Richtung seiner Fahrt an den festen Punkten anßer ihm be¬
stimmen muß, seien es Küstenstriche, seien es Sonne, Mond und Sterne. Würde
man ihn in ein dunkles Verließ auf seinem Schiff einsperren, wo er weder Tag
noch Nacht unterscheiden konnte, so hätte er zwar noch die Vorstellungen alle,
die er sich früher erworben, aber sie würden ihm nichts mehr helfen zu irgeud
einer Zielbestimmung. Er muß die wirklichen Dinge anßer ihm sich vorstellen,
wie sie gegeuwürtig erscheine«, dann nur kaun er sie brauchen zur Bestimmung
seiner Fahrt. Daher ist es ganz sicher: sobald ein Mensch die Zeit bestimmen
soll, in welcher er lebt, so muß es 1. äußere Dinge wirklich geben, und 2. muß
er sie wahrnehmen und vorstellen können.

Darum sagt Kant, daß die Bestimmung meiner Zeit nicht möglich sei
durch bloße Vorstellungen, welche beharrlich sein können oder wechseln, sondern
nur durch wirklich beharrende und wechselnde Gegenstände außer mir, welche
ich aber wahrnehmen d. i. vorstellen muß. Seine Worte sind nach dem Vor¬
hergesagten vollkommen klar: „Das bloße, aber empirisch bestimmte, Bewußt¬
sein meines eignen Daseins beweist das Dasein der Gegenstände im Raum außer
mir. . . . Das Bewußtsein meines eignen Daseins ist zugleich ein unmittel¬
bares Bewußtsein des Daseins andrer Dinge außer mir."

Was macht K. Fischer aus diesen unantastbaren klaren Sätzen? Er
bildet sich ein, wirkliche Dinge anßer uns seien Dinge an sich und nicht wahr¬
genommene Dinge, d. i. mögliche Erscheinungen, und meint nun, Kant widerspräche
sich selbst, weil er einmal behaupte, Dinge an sich würden nicht wahrgenommen,
und das andremal, wenn sie nicht wahrgenommen würden, so sei keine empirische
Zeitbestimmung möglich. Er unterscheidet nicht zwischen unsrer Vorstellung von
Dingen und Dingen, insofern sie vorgestellte Gegenstände sind. Er verwechselt
eine beharrliche Vorstellung mit der Vorstellung von etwas Beharrlichen.

Kant setzte seine ganze gewaltige Kraft daran, den Streit zwischen empi¬
rischem Idealismus und transcendentalen Realismus zu schlichten und die Phi¬
losophie im transeendentnlen Idealismus und empirischen Realismus auf die
einzig mögliche Basis zu stellen, von der aus sie sür alle Wissenschaften frucht¬
bar werden kann. K. Fischer dagegen reiht sich der Zahl derjenigen um, welche
ihn trotz alledem für einen empirischen oder subjektiven Idealisten erklären nach
Fichtes Vorgang.

Da wir den Niedergang der ganzen philosophischen Bewegung im deutschen
Volke und die Verachtung der Philosophie geschichtlich entstanden sehen durch


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[0020] Aare und Runo Fischer. Wechsel nicht stattfindet, so kommen alle transcendentalen Fähigkeiten nicht zur Entwicklung. Also ist die Thatsache der Entwicklung unsers Denkens und An- schauens ein genngscuner Beweis dafür, daß der Stoffwechsel im Gehirn nicht nnr unsre Vorstellung, sondern auch eine vorgestellte wirkliche Thatsache ist. Kant deutet auf das Beispiel der Zeitbestinunuug für alle irdischen Gegenstände durch die Bewegung der Sonne. Wir können auch an einen Schiffer erinnern, der die Zeit und Richtung seiner Fahrt an den festen Punkten anßer ihm be¬ stimmen muß, seien es Küstenstriche, seien es Sonne, Mond und Sterne. Würde man ihn in ein dunkles Verließ auf seinem Schiff einsperren, wo er weder Tag noch Nacht unterscheiden konnte, so hätte er zwar noch die Vorstellungen alle, die er sich früher erworben, aber sie würden ihm nichts mehr helfen zu irgeud einer Zielbestimmung. Er muß die wirklichen Dinge anßer ihm sich vorstellen, wie sie gegeuwürtig erscheine«, dann nur kaun er sie brauchen zur Bestimmung seiner Fahrt. Daher ist es ganz sicher: sobald ein Mensch die Zeit bestimmen soll, in welcher er lebt, so muß es 1. äußere Dinge wirklich geben, und 2. muß er sie wahrnehmen und vorstellen können. Darum sagt Kant, daß die Bestimmung meiner Zeit nicht möglich sei durch bloße Vorstellungen, welche beharrlich sein können oder wechseln, sondern nur durch wirklich beharrende und wechselnde Gegenstände außer mir, welche ich aber wahrnehmen d. i. vorstellen muß. Seine Worte sind nach dem Vor¬ hergesagten vollkommen klar: „Das bloße, aber empirisch bestimmte, Bewußt¬ sein meines eignen Daseins beweist das Dasein der Gegenstände im Raum außer mir. . . . Das Bewußtsein meines eignen Daseins ist zugleich ein unmittel¬ bares Bewußtsein des Daseins andrer Dinge außer mir." Was macht K. Fischer aus diesen unantastbaren klaren Sätzen? Er bildet sich ein, wirkliche Dinge anßer uns seien Dinge an sich und nicht wahr¬ genommene Dinge, d. i. mögliche Erscheinungen, und meint nun, Kant widerspräche sich selbst, weil er einmal behaupte, Dinge an sich würden nicht wahrgenommen, und das andremal, wenn sie nicht wahrgenommen würden, so sei keine empirische Zeitbestimmung möglich. Er unterscheidet nicht zwischen unsrer Vorstellung von Dingen und Dingen, insofern sie vorgestellte Gegenstände sind. Er verwechselt eine beharrliche Vorstellung mit der Vorstellung von etwas Beharrlichen. Kant setzte seine ganze gewaltige Kraft daran, den Streit zwischen empi¬ rischem Idealismus und transcendentalen Realismus zu schlichten und die Phi¬ losophie im transeendentnlen Idealismus und empirischen Realismus auf die einzig mögliche Basis zu stellen, von der aus sie sür alle Wissenschaften frucht¬ bar werden kann. K. Fischer dagegen reiht sich der Zahl derjenigen um, welche ihn trotz alledem für einen empirischen oder subjektiven Idealisten erklären nach Fichtes Vorgang. Da wir den Niedergang der ganzen philosophischen Bewegung im deutschen Volke und die Verachtung der Philosophie geschichtlich entstanden sehen durch

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_359176/20>, abgerufen am 26.05.2024.