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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Viertes Quartal.

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Die Klaviermusik seit Robert Schumann.

unde erlaubt dem Komponisten mit seinen Zwecken zu wachsen, während des
Arbeitens groß und bedeutend zu werden. Das Genrestück verlangt, daß er
mit dem Vollgehalt der Stimmung gleich einsetze und von einer echten und
starken poetischen Strömung bewegt sei. Das Genrestück macht geringere An¬
sprüche an den Musiker, aber desto höhere an den Menschen. Es will aus¬
geprägte Individualität im Empfinden und Anschauen.

So ausgerüstet ging Schumann als junger Student ans Komponiren.
Und wie unreif uns diese Erstlingsarbeiten -- deren bedeutendste, den "Karneval,"
er später selbst eine Spielerei nannte -- auch erscheinen mögen, wie sehr sie
zum Teil den großen, klaren Plan im Entwürfe vermissen lassen, jedermann
fühlt doch durch, daß hier eine reiche Jndividnalitüt einem unwiderstehlichen
Drange folgt, dem Drange, von der Fülle ihrer Gefühle und Bilder mitzu¬
teilen, so gut sie es eben kann. Daß der junge Träumer und Phantast zum Mu¬
siker geboren ist, verraten allerdings einzelne Züge -- aber der Mensch und
Poet ist doch der Hauptgegenstand des künstlerischen Interesses, welches wir
diesen "Sächelchen" entgegenbringen.

Fast umgekehrt ist der Eindruck, den wir aus dem großen Durchschnitts¬
bilde der nachschumnnnischen Literatur des Genrestückes für Pianoforte erhalten.
In diesen Kompositionen ist alles formell bis aufs Pünktchen fertig und korrekt,
niemals ein Takt zu wenig, alles bestens bestrebt, anständig und wohlerzogen.
Die Herren Verfertiger sind fast sämmtliche gute Musikanten, aber -- bis auf
Ausnahmen -- sehr unbedeutende Menschen.

Das Zugeständnis der musikalischen Tüchtigkeit, welches man dieser Dnrch-
schnittsschaar der Klaviertompouisten machen kann, bedarf allerdings noch einer
Einschränkung. Auch Bach hat Charakterstücke für Klavier geschrieben, die herr¬
lichsten, die mau sich denken kann. Warum aber ahmt ihn denn keiner nach?
Weil diese Charakterstücke Fugen sind: die Fugen des "Wohltcmperirten Kla¬
viers." Schumann und Mendelssohn und die andern Führer der romantischen
Periode blieben bei ihren Genrebildern immer in Fühlung mit der einfachen
Form des Liedes, die sich ohne Kunstbildung wenigstens äußerlich bewältigen
läßt. Sie eignet sich für die Komponisten von tieferer Schulung ebensogut
Wie für die Anfänger und Rekruten. Jenen dient sie zum Ruhebett in Stunden
der Müdigkeit, diesen als der nächstgelegene Turnplatz, wenn sie sich angeregt
fühlen. Auch Dilettanten finden wir unter den Komponisten dieser kleinen Kla¬
vierstücke. Unermüdlich sammeln sie in dieser Form die herumliegenden Bro¬
samen von Schumanns Tisch und erregen damit das Wohlgefallen vieler an¬
spruchslosen Gemüter. Vielleicht kommt bald die Zeit, wo jeder Klavierspieler
sich seinen Bedarf an Musik selbst komponirt. Es war vor Alters ähnlich, und
es macht sich ja jeder gebildete Mensch heute auch die paar Gelegenheitsgedichte
selbst, die das Familienleben verlangt.


Die Klaviermusik seit Robert Schumann.

unde erlaubt dem Komponisten mit seinen Zwecken zu wachsen, während des
Arbeitens groß und bedeutend zu werden. Das Genrestück verlangt, daß er
mit dem Vollgehalt der Stimmung gleich einsetze und von einer echten und
starken poetischen Strömung bewegt sei. Das Genrestück macht geringere An¬
sprüche an den Musiker, aber desto höhere an den Menschen. Es will aus¬
geprägte Individualität im Empfinden und Anschauen.

So ausgerüstet ging Schumann als junger Student ans Komponiren.
Und wie unreif uns diese Erstlingsarbeiten — deren bedeutendste, den „Karneval,"
er später selbst eine Spielerei nannte — auch erscheinen mögen, wie sehr sie
zum Teil den großen, klaren Plan im Entwürfe vermissen lassen, jedermann
fühlt doch durch, daß hier eine reiche Jndividnalitüt einem unwiderstehlichen
Drange folgt, dem Drange, von der Fülle ihrer Gefühle und Bilder mitzu¬
teilen, so gut sie es eben kann. Daß der junge Träumer und Phantast zum Mu¬
siker geboren ist, verraten allerdings einzelne Züge — aber der Mensch und
Poet ist doch der Hauptgegenstand des künstlerischen Interesses, welches wir
diesen „Sächelchen" entgegenbringen.

Fast umgekehrt ist der Eindruck, den wir aus dem großen Durchschnitts¬
bilde der nachschumnnnischen Literatur des Genrestückes für Pianoforte erhalten.
In diesen Kompositionen ist alles formell bis aufs Pünktchen fertig und korrekt,
niemals ein Takt zu wenig, alles bestens bestrebt, anständig und wohlerzogen.
Die Herren Verfertiger sind fast sämmtliche gute Musikanten, aber — bis auf
Ausnahmen — sehr unbedeutende Menschen.

Das Zugeständnis der musikalischen Tüchtigkeit, welches man dieser Dnrch-
schnittsschaar der Klaviertompouisten machen kann, bedarf allerdings noch einer
Einschränkung. Auch Bach hat Charakterstücke für Klavier geschrieben, die herr¬
lichsten, die mau sich denken kann. Warum aber ahmt ihn denn keiner nach?
Weil diese Charakterstücke Fugen sind: die Fugen des „Wohltcmperirten Kla¬
viers." Schumann und Mendelssohn und die andern Führer der romantischen
Periode blieben bei ihren Genrebildern immer in Fühlung mit der einfachen
Form des Liedes, die sich ohne Kunstbildung wenigstens äußerlich bewältigen
läßt. Sie eignet sich für die Komponisten von tieferer Schulung ebensogut
Wie für die Anfänger und Rekruten. Jenen dient sie zum Ruhebett in Stunden
der Müdigkeit, diesen als der nächstgelegene Turnplatz, wenn sie sich angeregt
fühlen. Auch Dilettanten finden wir unter den Komponisten dieser kleinen Kla¬
vierstücke. Unermüdlich sammeln sie in dieser Form die herumliegenden Bro¬
samen von Schumanns Tisch und erregen damit das Wohlgefallen vieler an¬
spruchslosen Gemüter. Vielleicht kommt bald die Zeit, wo jeder Klavierspieler
sich seinen Bedarf an Musik selbst komponirt. Es war vor Alters ähnlich, und
es macht sich ja jeder gebildete Mensch heute auch die paar Gelegenheitsgedichte
selbst, die das Familienleben verlangt.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_359176/33>, abgerufen am 19.05.2024.