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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Viertes Quartal.

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Die Klaviermusik seit Robert Schumann.

Weil ein Vers dir gelingt in einer gebildeten Sprache,
Die für dich dichtet und denkt, glaubst dn schon Dichter zu sein?

Diese schlagende Kritik Schillers über die Dichterlinge seiner Zeit paßt so ziemlich
auch auf den Durchschnitt der heutigen Klavierkomponistcn. Es genügt ein ein¬
ziger Blick auf diese "Phantasien," um die Schablonen zu erkennen, auf welche
sie ausgewickelt sind. Man kann die Anweisung, so etwas anzufertigen, in Rczept-
form geben: z. B. zu einer "Mondnacht" nimm ?is-clur und eine zweiund-
dreißigstel Begleitung, zu eiuer "Meerfahrt" nimm einen Zwölfachtcltakt und
ein Triolenmotiv im Baß. Das übrige findet sich.

Die Titel sind die einzige geistige Leistung bei der Mehrzahl dieser mo¬
dernen genrehaften Klavierstücke. Es wird ihnen denn auch manches zugemutet
und vieles von ihnen versprochen, was keine Musik halten kann. Einer komponirt
z. B. "Harzbilder." Ur. 1: "Sehnsucht nach dem Harz." Zeichnet sich der Harz
vielleicht durch besondre musikalische Eigenheiten vor andern Gebirgen aus? O
ja -- wir erinnern uns der Kanarienvögelstadt Andreasberg, es schien uns auch,
als wäre dort das Geläute der weidenden Herden eigentümlich melodisch abge¬
stimmt. Die Roßtrappe hat ein Echo -- auch Pferdegetrappel ist da am Platze.
Nun fangen wir an zu spielen. Ja wohl: "Adieu Harz, Adieu Sehnsucht!"
Nichts von alledem, nichts von euren Wonnen, du grüner Wald und ihr
himmelhohen dunkeln Berge! Eitel schlechte, verdorbene Luft, Tintenflecke, Schlaf¬
rock, Zipfelmütze und ein vertrockneter Magister, der sein tägliches. Pensum kom-
ponirt! ^

Jeder gute Mensch rühmt gern seine Zeit, rühmt gern die Kunst seiner
Zeit. Es thut uns aufrichtig leid, daß wir nicht mit Begeisterung, nicht mit
Hochachtung von dem blühenden, hohcitlichen, strahlenden Aussehen erzähle"
können, welches die neuere Klaviermusik, als eine ganze Erscheinung genommen,
dem Beschauer entgegenhält. Aber die Wahrheit erlaubt es nicht. Es giebt kaum
ein trostloseres Geschäft, als sich durch den Berg dieser charakterlosen Charakter¬
stücke, dieser Phantasiestücke ohne Phantasie hindurcharbeiten zu müssen. Ein noch
so plumpes Potpourri mit einigen herzhaften, italienischen Opernmelodien kommt
einem dagegen wie ein wirklicher Genuß vor. Eine tote Puppe an der andern,
und ans hundert Nummern kommt vielleicht immer nnr eine, bei welcher man
noch über etwas weiteres erstaunt als über die Harmlosigkeit und Dreistigkeit,
den Mangel an Kunstrespekt, welcher diesen Herren Komponisten erlaubte, die
Notenfeder zu ergreifen, um das hundertmal schon gesagte noch einmal nach¬
zuplappern. Der naive Kunstfreund ahnt es nicht, daß ein Komponist von einer
hohen Opusziffer eine ganz platte Natur sein kann und verliert mit immer neuen
Versuchen seine Zeit. Die Kritik aber, namentlich die der politischen Blätter,
ist in ihren Ansprüchen viel zu mild geworden. Weil sie das Ideale so selten
findet, hat sie ziemlich verlernt es zu fordern und begleitet mit wohlwollenden
Zusprüchen die gehaltloser Klaviergeschwätze impotenter Neulinge. Ist ein Dutzend


Die Klaviermusik seit Robert Schumann.

Weil ein Vers dir gelingt in einer gebildeten Sprache,
Die für dich dichtet und denkt, glaubst dn schon Dichter zu sein?

Diese schlagende Kritik Schillers über die Dichterlinge seiner Zeit paßt so ziemlich
auch auf den Durchschnitt der heutigen Klavierkomponistcn. Es genügt ein ein¬
ziger Blick auf diese „Phantasien," um die Schablonen zu erkennen, auf welche
sie ausgewickelt sind. Man kann die Anweisung, so etwas anzufertigen, in Rczept-
form geben: z. B. zu einer „Mondnacht" nimm ?is-clur und eine zweiund-
dreißigstel Begleitung, zu eiuer „Meerfahrt" nimm einen Zwölfachtcltakt und
ein Triolenmotiv im Baß. Das übrige findet sich.

Die Titel sind die einzige geistige Leistung bei der Mehrzahl dieser mo¬
dernen genrehaften Klavierstücke. Es wird ihnen denn auch manches zugemutet
und vieles von ihnen versprochen, was keine Musik halten kann. Einer komponirt
z. B. „Harzbilder." Ur. 1: „Sehnsucht nach dem Harz." Zeichnet sich der Harz
vielleicht durch besondre musikalische Eigenheiten vor andern Gebirgen aus? O
ja — wir erinnern uns der Kanarienvögelstadt Andreasberg, es schien uns auch,
als wäre dort das Geläute der weidenden Herden eigentümlich melodisch abge¬
stimmt. Die Roßtrappe hat ein Echo — auch Pferdegetrappel ist da am Platze.
Nun fangen wir an zu spielen. Ja wohl: „Adieu Harz, Adieu Sehnsucht!"
Nichts von alledem, nichts von euren Wonnen, du grüner Wald und ihr
himmelhohen dunkeln Berge! Eitel schlechte, verdorbene Luft, Tintenflecke, Schlaf¬
rock, Zipfelmütze und ein vertrockneter Magister, der sein tägliches. Pensum kom-
ponirt! ^

Jeder gute Mensch rühmt gern seine Zeit, rühmt gern die Kunst seiner
Zeit. Es thut uns aufrichtig leid, daß wir nicht mit Begeisterung, nicht mit
Hochachtung von dem blühenden, hohcitlichen, strahlenden Aussehen erzähle«
können, welches die neuere Klaviermusik, als eine ganze Erscheinung genommen,
dem Beschauer entgegenhält. Aber die Wahrheit erlaubt es nicht. Es giebt kaum
ein trostloseres Geschäft, als sich durch den Berg dieser charakterlosen Charakter¬
stücke, dieser Phantasiestücke ohne Phantasie hindurcharbeiten zu müssen. Ein noch
so plumpes Potpourri mit einigen herzhaften, italienischen Opernmelodien kommt
einem dagegen wie ein wirklicher Genuß vor. Eine tote Puppe an der andern,
und ans hundert Nummern kommt vielleicht immer nnr eine, bei welcher man
noch über etwas weiteres erstaunt als über die Harmlosigkeit und Dreistigkeit,
den Mangel an Kunstrespekt, welcher diesen Herren Komponisten erlaubte, die
Notenfeder zu ergreifen, um das hundertmal schon gesagte noch einmal nach¬
zuplappern. Der naive Kunstfreund ahnt es nicht, daß ein Komponist von einer
hohen Opusziffer eine ganz platte Natur sein kann und verliert mit immer neuen
Versuchen seine Zeit. Die Kritik aber, namentlich die der politischen Blätter,
ist in ihren Ansprüchen viel zu mild geworden. Weil sie das Ideale so selten
findet, hat sie ziemlich verlernt es zu fordern und begleitet mit wohlwollenden
Zusprüchen die gehaltloser Klaviergeschwätze impotenter Neulinge. Ist ein Dutzend


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_359176/34>, abgerufen am 26.05.2024.