Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Viertes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Alnvierinnsik seit Robert Tchmncnm.

zu verderben. In der That würden unsre Ärzte nachweisen können, welche
Verwüstungen die kritiklose Hingabe an die neuere Lilaviermusik angerichtet hat.
Aus manchem lebendigen und geistvollen Mädchen hat übertriebenes und un¬
rechtes Klavierspielen eine unbrauchbare, stumpfe Träumerin gemacht. Es ist
uicht bloß die unbedeutende Nachähmermusik, die den Geist einschläfert; auch die
wahren Meister taugen nicht gleichviel für jedermann und zu jeder Zeit. Eine
der gefährlichsten Unsitten der heutigen Klavierfreundinnen ist der eifrige Chopin-
Knltus. Ihm ist manches Nervensystem zur Hälfte geopfert worden. Ferne
sei der Versuch, das Genie dieses kranken Mannes herabsetzen zu wollen. Aber
daß man seine ebenso wunderbaren und hinreißenden als überreizte" lind
zwischen Himmel und Holle frivol hin^- und Herfährenden Phantasien zum
täglichen Genuß für geeignet hält, sie zur Ausbildung der musikalischen Jugend
verwendet, ist eine der unverständigsten Verirrungen, welche ans dem Gebiete
der Pädagogik jemals vorgekommen sind. Man konnte mit demselben Rechte
Heines gesammelte Werke als Lesebuch für Bürgerschule" einführen.

Daß wir die Klaviermusik seit Schumann nicht in Bausch und Bogen ver¬
werfen, wollen wir dadurch beweisen, daß wir die Leser an eine Reihe von
Komponisten und von Werken für Klavier zu zwei Händen heranführen, welche
Interesse verdienen. Von welchem Punkte aus aber man diese neue Periode
anch betrachtet, man kommt immer wieder auf Robert Schumann zurück.
"Er der herrlichste von alleu!" Als Klavierkoinponist reicht er herau an die
besten Alten, und die späteren überragt er sammt und sonders. Wer anch von
den neuere" auf einzelnen Gebieten ihm gleichen mag, Schumann hat den Weg
erschlossen, und die Gaben der Grazien, die wir sonst an verschiedene Be¬
sitzer verteilt finden, er besaß sie alle auf einmal: Humor und Ernst, Tiefsinn
und Naivetät; eine ganze Reihe der sonst getrenntesten Strömungen -- in seinem
Geiste kamen sie zusammen und gaben einander von ihrer Fülle ab. Phantastisch
und grüblerisch ist er, aber doch auch kindlich heiter und klar. Von Laune und
Übermut sprudelnd, strömt er zugleich über von tiefem Gefühl, von Innigkeit
und Frömmigkeit. Jetzt ausgelassen, burschikos wie ein Brandfuchs, rührt er
auf der nächsten Seite wieder dnrch echte Töne einer fast weiblichen Zartheit.
In den feinsten Raritäten der Literatur und des geistigen Lebens bewandert,
liebt er zugleich auch die Urwüchsigkeit des Volkslebens, und so paßt er für die
erlesenen Geister unter den Musikfreunden und ist teilweise doch auch für die
einfachen untern Klasse" verständlich. Allen bereitet er herzliche Freude. Er
ist der Liebling aller, die Natur und Leben schätzen, und wer sähe sich gern
aus diesem Kreise ausgeschlossen? Die Musikgeschichte zählt wenige unter den
ihrigen, über deren Wirken und Schaffen eine solche Frische, eine solche Jugend¬
lichkeit der Seele ausgebreitet ist.

Einen mehr als jugendlichen Charakter hatte fein Eintritt in die Musik;
mit einer fast komisch wirkenden Unbefangenheit stellte er sich unter die Kom-


Die Alnvierinnsik seit Robert Tchmncnm.

zu verderben. In der That würden unsre Ärzte nachweisen können, welche
Verwüstungen die kritiklose Hingabe an die neuere Lilaviermusik angerichtet hat.
Aus manchem lebendigen und geistvollen Mädchen hat übertriebenes und un¬
rechtes Klavierspielen eine unbrauchbare, stumpfe Träumerin gemacht. Es ist
uicht bloß die unbedeutende Nachähmermusik, die den Geist einschläfert; auch die
wahren Meister taugen nicht gleichviel für jedermann und zu jeder Zeit. Eine
der gefährlichsten Unsitten der heutigen Klavierfreundinnen ist der eifrige Chopin-
Knltus. Ihm ist manches Nervensystem zur Hälfte geopfert worden. Ferne
sei der Versuch, das Genie dieses kranken Mannes herabsetzen zu wollen. Aber
daß man seine ebenso wunderbaren und hinreißenden als überreizte» lind
zwischen Himmel und Holle frivol hin^- und Herfährenden Phantasien zum
täglichen Genuß für geeignet hält, sie zur Ausbildung der musikalischen Jugend
verwendet, ist eine der unverständigsten Verirrungen, welche ans dem Gebiete
der Pädagogik jemals vorgekommen sind. Man konnte mit demselben Rechte
Heines gesammelte Werke als Lesebuch für Bürgerschule» einführen.

Daß wir die Klaviermusik seit Schumann nicht in Bausch und Bogen ver¬
werfen, wollen wir dadurch beweisen, daß wir die Leser an eine Reihe von
Komponisten und von Werken für Klavier zu zwei Händen heranführen, welche
Interesse verdienen. Von welchem Punkte aus aber man diese neue Periode
anch betrachtet, man kommt immer wieder auf Robert Schumann zurück.
„Er der herrlichste von alleu!" Als Klavierkoinponist reicht er herau an die
besten Alten, und die späteren überragt er sammt und sonders. Wer anch von
den neuere» auf einzelnen Gebieten ihm gleichen mag, Schumann hat den Weg
erschlossen, und die Gaben der Grazien, die wir sonst an verschiedene Be¬
sitzer verteilt finden, er besaß sie alle auf einmal: Humor und Ernst, Tiefsinn
und Naivetät; eine ganze Reihe der sonst getrenntesten Strömungen — in seinem
Geiste kamen sie zusammen und gaben einander von ihrer Fülle ab. Phantastisch
und grüblerisch ist er, aber doch auch kindlich heiter und klar. Von Laune und
Übermut sprudelnd, strömt er zugleich über von tiefem Gefühl, von Innigkeit
und Frömmigkeit. Jetzt ausgelassen, burschikos wie ein Brandfuchs, rührt er
auf der nächsten Seite wieder dnrch echte Töne einer fast weiblichen Zartheit.
In den feinsten Raritäten der Literatur und des geistigen Lebens bewandert,
liebt er zugleich auch die Urwüchsigkeit des Volkslebens, und so paßt er für die
erlesenen Geister unter den Musikfreunden und ist teilweise doch auch für die
einfachen untern Klasse» verständlich. Allen bereitet er herzliche Freude. Er
ist der Liebling aller, die Natur und Leben schätzen, und wer sähe sich gern
aus diesem Kreise ausgeschlossen? Die Musikgeschichte zählt wenige unter den
ihrigen, über deren Wirken und Schaffen eine solche Frische, eine solche Jugend¬
lichkeit der Seele ausgebreitet ist.

Einen mehr als jugendlichen Charakter hatte fein Eintritt in die Musik;
mit einer fast komisch wirkenden Unbefangenheit stellte er sich unter die Kom-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0038" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/194016"/>
          <fw type="header" place="top"> Die Alnvierinnsik seit Robert Tchmncnm.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_116" prev="#ID_115"> zu verderben. In der That würden unsre Ärzte nachweisen können, welche<lb/>
Verwüstungen die kritiklose Hingabe an die neuere Lilaviermusik angerichtet hat.<lb/>
Aus manchem lebendigen und geistvollen Mädchen hat übertriebenes und un¬<lb/>
rechtes Klavierspielen eine unbrauchbare, stumpfe Träumerin gemacht. Es ist<lb/>
uicht bloß die unbedeutende Nachähmermusik, die den Geist einschläfert; auch die<lb/>
wahren Meister taugen nicht gleichviel für jedermann und zu jeder Zeit. Eine<lb/>
der gefährlichsten Unsitten der heutigen Klavierfreundinnen ist der eifrige Chopin-<lb/>
Knltus. Ihm ist manches Nervensystem zur Hälfte geopfert worden. Ferne<lb/>
sei der Versuch, das Genie dieses kranken Mannes herabsetzen zu wollen. Aber<lb/>
daß man seine ebenso wunderbaren und hinreißenden als überreizte» lind<lb/>
zwischen Himmel und Holle frivol hin^- und Herfährenden Phantasien zum<lb/>
täglichen Genuß für geeignet hält, sie zur Ausbildung der musikalischen Jugend<lb/>
verwendet, ist eine der unverständigsten Verirrungen, welche ans dem Gebiete<lb/>
der Pädagogik jemals vorgekommen sind. Man konnte mit demselben Rechte<lb/>
Heines gesammelte Werke als Lesebuch für Bürgerschule» einführen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_117"> Daß wir die Klaviermusik seit Schumann nicht in Bausch und Bogen ver¬<lb/>
werfen, wollen wir dadurch beweisen, daß wir die Leser an eine Reihe von<lb/>
Komponisten und von Werken für Klavier zu zwei Händen heranführen, welche<lb/>
Interesse verdienen. Von welchem Punkte aus aber man diese neue Periode<lb/>
anch betrachtet, man kommt immer wieder auf Robert Schumann zurück.<lb/>
&#x201E;Er der herrlichste von alleu!" Als Klavierkoinponist reicht er herau an die<lb/>
besten Alten, und die späteren überragt er sammt und sonders. Wer anch von<lb/>
den neuere» auf einzelnen Gebieten ihm gleichen mag, Schumann hat den Weg<lb/>
erschlossen, und die Gaben der Grazien, die wir sonst an verschiedene Be¬<lb/>
sitzer verteilt finden, er besaß sie alle auf einmal: Humor und Ernst, Tiefsinn<lb/>
und Naivetät; eine ganze Reihe der sonst getrenntesten Strömungen &#x2014; in seinem<lb/>
Geiste kamen sie zusammen und gaben einander von ihrer Fülle ab. Phantastisch<lb/>
und grüblerisch ist er, aber doch auch kindlich heiter und klar. Von Laune und<lb/>
Übermut sprudelnd, strömt er zugleich über von tiefem Gefühl, von Innigkeit<lb/>
und Frömmigkeit. Jetzt ausgelassen, burschikos wie ein Brandfuchs, rührt er<lb/>
auf der nächsten Seite wieder dnrch echte Töne einer fast weiblichen Zartheit.<lb/>
In den feinsten Raritäten der Literatur und des geistigen Lebens bewandert,<lb/>
liebt er zugleich auch die Urwüchsigkeit des Volkslebens, und so paßt er für die<lb/>
erlesenen Geister unter den Musikfreunden und ist teilweise doch auch für die<lb/>
einfachen untern Klasse» verständlich. Allen bereitet er herzliche Freude. Er<lb/>
ist der Liebling aller, die Natur und Leben schätzen, und wer sähe sich gern<lb/>
aus diesem Kreise ausgeschlossen? Die Musikgeschichte zählt wenige unter den<lb/>
ihrigen, über deren Wirken und Schaffen eine solche Frische, eine solche Jugend¬<lb/>
lichkeit der Seele ausgebreitet ist.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_118" next="#ID_119"> Einen mehr als jugendlichen Charakter hatte fein Eintritt in die Musik;<lb/>
mit einer fast komisch wirkenden Unbefangenheit stellte er sich unter die Kom-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0038] Die Alnvierinnsik seit Robert Tchmncnm. zu verderben. In der That würden unsre Ärzte nachweisen können, welche Verwüstungen die kritiklose Hingabe an die neuere Lilaviermusik angerichtet hat. Aus manchem lebendigen und geistvollen Mädchen hat übertriebenes und un¬ rechtes Klavierspielen eine unbrauchbare, stumpfe Träumerin gemacht. Es ist uicht bloß die unbedeutende Nachähmermusik, die den Geist einschläfert; auch die wahren Meister taugen nicht gleichviel für jedermann und zu jeder Zeit. Eine der gefährlichsten Unsitten der heutigen Klavierfreundinnen ist der eifrige Chopin- Knltus. Ihm ist manches Nervensystem zur Hälfte geopfert worden. Ferne sei der Versuch, das Genie dieses kranken Mannes herabsetzen zu wollen. Aber daß man seine ebenso wunderbaren und hinreißenden als überreizte» lind zwischen Himmel und Holle frivol hin^- und Herfährenden Phantasien zum täglichen Genuß für geeignet hält, sie zur Ausbildung der musikalischen Jugend verwendet, ist eine der unverständigsten Verirrungen, welche ans dem Gebiete der Pädagogik jemals vorgekommen sind. Man konnte mit demselben Rechte Heines gesammelte Werke als Lesebuch für Bürgerschule» einführen. Daß wir die Klaviermusik seit Schumann nicht in Bausch und Bogen ver¬ werfen, wollen wir dadurch beweisen, daß wir die Leser an eine Reihe von Komponisten und von Werken für Klavier zu zwei Händen heranführen, welche Interesse verdienen. Von welchem Punkte aus aber man diese neue Periode anch betrachtet, man kommt immer wieder auf Robert Schumann zurück. „Er der herrlichste von alleu!" Als Klavierkoinponist reicht er herau an die besten Alten, und die späteren überragt er sammt und sonders. Wer anch von den neuere» auf einzelnen Gebieten ihm gleichen mag, Schumann hat den Weg erschlossen, und die Gaben der Grazien, die wir sonst an verschiedene Be¬ sitzer verteilt finden, er besaß sie alle auf einmal: Humor und Ernst, Tiefsinn und Naivetät; eine ganze Reihe der sonst getrenntesten Strömungen — in seinem Geiste kamen sie zusammen und gaben einander von ihrer Fülle ab. Phantastisch und grüblerisch ist er, aber doch auch kindlich heiter und klar. Von Laune und Übermut sprudelnd, strömt er zugleich über von tiefem Gefühl, von Innigkeit und Frömmigkeit. Jetzt ausgelassen, burschikos wie ein Brandfuchs, rührt er auf der nächsten Seite wieder dnrch echte Töne einer fast weiblichen Zartheit. In den feinsten Raritäten der Literatur und des geistigen Lebens bewandert, liebt er zugleich auch die Urwüchsigkeit des Volkslebens, und so paßt er für die erlesenen Geister unter den Musikfreunden und ist teilweise doch auch für die einfachen untern Klasse» verständlich. Allen bereitet er herzliche Freude. Er ist der Liebling aller, die Natur und Leben schätzen, und wer sähe sich gern aus diesem Kreise ausgeschlossen? Die Musikgeschichte zählt wenige unter den ihrigen, über deren Wirken und Schaffen eine solche Frische, eine solche Jugend¬ lichkeit der Seele ausgebreitet ist. Einen mehr als jugendlichen Charakter hatte fein Eintritt in die Musik; mit einer fast komisch wirkenden Unbefangenheit stellte er sich unter die Kom-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_359176
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_359176/38
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_359176/38>, abgerufen am 19.05.2024.