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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Viertes Quartal.

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Etwas von unsern Töchtern.

Lotze, dieser geistesgewaltige und feinsinnige Fürst der Philosophen des
neunzehnten Jahrhunderts, giebt im zweiten Teile seines "Mikrokosmus" zum
Abschluß des Kapitels über das menschliche Naturell eine Darstellung der geistigen
Eigentümlichkeiten der Fromm, welche alle mehr oder weniger wahren, geistreichen
oder auch nur geistreichelnden Erörterungen über diesen Gegenstand von Kant,
Schiller und Schleiermacher bis ans Erdmann, Riehl, Virchow und Holtzendorff
dnrch das dem Verfasser eigne gewissenhafte Bestreben übertrifft, jede Behaup¬
tung dem mächtigen Reiche der unendlich mannichfachen und in zahllosen Fällen
und Beziehungen sich widersprechenden Thatsachen vorsichtig anzupassen. Lotze
stellt zunächst den Unterschied des allgemeinen Lebensgefühls bei den beiden
Geschlechtern gemäß ihrer körperlichen Beschaffenheit fest und weist geringere Ar¬
beitskraft und höhere Anbequemnngsfähigkeit, begleitet von einem Gemisch san¬
guinischer Lebhaftigkeit und sentimentaler Warmhcrzigkeit, auf selten des weib¬
lichen Geschlechtes nach. Er schließt diese Betrachtung mit dem Satze: "Die
Unterschiede der erworbenen Bildung verdecken vieles; doch einen neugierigen
Zug zur Unterhaltung um der Unterhaltung willen und irgend eine Spur des
Wohlgefallens an schönen und harmonischen Verhältnissen werden wir kaum an
den entgegengesetzten Extremen dieser weiblichen Bildung vermissen." Die eigent¬
liche Schwierigkeit der Frage liegt aber mehr in der Feststellung des Unter¬
schiedes der beiden Geschlechter bezüglich des höhern geistigen Lebens, namentlich
anch deswegen, weil es sich hier zumeist darum handelt, alles, was als mittel¬
bares Ergebnis der Lebensverhältnisse, wie der Vererbung ?c., und der Bil¬
dungskreise anzusehen ist, gründlich außer Rechnung zu lassen. Individualität
und Universalität, Allgemeines und Einzelnes, Objektivität und Subjektivität,
Bewußtes und Unbewußtes, Negation und Position (Hegel), Spekulation und
Praxis (Fichte), gedachtes Gesetz und empfundene Sitte (Trendelenburg), Öffent¬
lichkeit und Haus, Thun und Sein und alle die prickelnden Kvntrastschlagwörter,
mit denen man vielfach in apodiktischer Weise, mehrfach noch ohne Unterschied
der niedern und höhern Psyche die thatsächlichen polaren Gegensatze des männ¬
lichen und weiblichen Geisteslebens zu treffen gesucht hat, sie halten die Probe
nicht vor dem so bescheiden ausgesprochenen, allumfassenden Satze unseres Neal-
idealisten: "Mnu würde vielleicht richtiger meinen" (er spricht vorher von dem
beliebten Gegensatze "Allgemeines und Einzelnes"), "daß Erkenntnis und Wille
des Mannes auf Allgemeines, die des Weibes auf Ganzes gerichtet sind." Ein
ähnlicher Gegensatz scheint uns zwischen antiker und mittelalterlicher Welt¬
anschauung obzuwalten; während dort das Allgemeine und Gleichartige den
Blick des Menschen fesselt, bildet hier die Einheit des von einer göttlichen Vor¬
sehung bis ins einzelne glanzvoll geleiteten Weltganzen den Grundgedanken der
christlichen Seele. So finden wir denn manche Züge, welche man dem "träu¬
merischen, lnnggelockten" Mittelalter zuschreibt, in der folgenden, von uns zu¬
sammengestellte" Liste besonders weiblicher Eigenschaften wieder. Die Richtung


Etwas von unsern Töchtern.

Lotze, dieser geistesgewaltige und feinsinnige Fürst der Philosophen des
neunzehnten Jahrhunderts, giebt im zweiten Teile seines „Mikrokosmus" zum
Abschluß des Kapitels über das menschliche Naturell eine Darstellung der geistigen
Eigentümlichkeiten der Fromm, welche alle mehr oder weniger wahren, geistreichen
oder auch nur geistreichelnden Erörterungen über diesen Gegenstand von Kant,
Schiller und Schleiermacher bis ans Erdmann, Riehl, Virchow und Holtzendorff
dnrch das dem Verfasser eigne gewissenhafte Bestreben übertrifft, jede Behaup¬
tung dem mächtigen Reiche der unendlich mannichfachen und in zahllosen Fällen
und Beziehungen sich widersprechenden Thatsachen vorsichtig anzupassen. Lotze
stellt zunächst den Unterschied des allgemeinen Lebensgefühls bei den beiden
Geschlechtern gemäß ihrer körperlichen Beschaffenheit fest und weist geringere Ar¬
beitskraft und höhere Anbequemnngsfähigkeit, begleitet von einem Gemisch san¬
guinischer Lebhaftigkeit und sentimentaler Warmhcrzigkeit, auf selten des weib¬
lichen Geschlechtes nach. Er schließt diese Betrachtung mit dem Satze: „Die
Unterschiede der erworbenen Bildung verdecken vieles; doch einen neugierigen
Zug zur Unterhaltung um der Unterhaltung willen und irgend eine Spur des
Wohlgefallens an schönen und harmonischen Verhältnissen werden wir kaum an
den entgegengesetzten Extremen dieser weiblichen Bildung vermissen." Die eigent¬
liche Schwierigkeit der Frage liegt aber mehr in der Feststellung des Unter¬
schiedes der beiden Geschlechter bezüglich des höhern geistigen Lebens, namentlich
anch deswegen, weil es sich hier zumeist darum handelt, alles, was als mittel¬
bares Ergebnis der Lebensverhältnisse, wie der Vererbung ?c., und der Bil¬
dungskreise anzusehen ist, gründlich außer Rechnung zu lassen. Individualität
und Universalität, Allgemeines und Einzelnes, Objektivität und Subjektivität,
Bewußtes und Unbewußtes, Negation und Position (Hegel), Spekulation und
Praxis (Fichte), gedachtes Gesetz und empfundene Sitte (Trendelenburg), Öffent¬
lichkeit und Haus, Thun und Sein und alle die prickelnden Kvntrastschlagwörter,
mit denen man vielfach in apodiktischer Weise, mehrfach noch ohne Unterschied
der niedern und höhern Psyche die thatsächlichen polaren Gegensatze des männ¬
lichen und weiblichen Geisteslebens zu treffen gesucht hat, sie halten die Probe
nicht vor dem so bescheiden ausgesprochenen, allumfassenden Satze unseres Neal-
idealisten: „Mnu würde vielleicht richtiger meinen" (er spricht vorher von dem
beliebten Gegensatze „Allgemeines und Einzelnes"), „daß Erkenntnis und Wille
des Mannes auf Allgemeines, die des Weibes auf Ganzes gerichtet sind." Ein
ähnlicher Gegensatz scheint uns zwischen antiker und mittelalterlicher Welt¬
anschauung obzuwalten; während dort das Allgemeine und Gleichartige den
Blick des Menschen fesselt, bildet hier die Einheit des von einer göttlichen Vor¬
sehung bis ins einzelne glanzvoll geleiteten Weltganzen den Grundgedanken der
christlichen Seele. So finden wir denn manche Züge, welche man dem „träu¬
merischen, lnnggelockten" Mittelalter zuschreibt, in der folgenden, von uns zu¬
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[0393] Etwas von unsern Töchtern. Lotze, dieser geistesgewaltige und feinsinnige Fürst der Philosophen des neunzehnten Jahrhunderts, giebt im zweiten Teile seines „Mikrokosmus" zum Abschluß des Kapitels über das menschliche Naturell eine Darstellung der geistigen Eigentümlichkeiten der Fromm, welche alle mehr oder weniger wahren, geistreichen oder auch nur geistreichelnden Erörterungen über diesen Gegenstand von Kant, Schiller und Schleiermacher bis ans Erdmann, Riehl, Virchow und Holtzendorff dnrch das dem Verfasser eigne gewissenhafte Bestreben übertrifft, jede Behaup¬ tung dem mächtigen Reiche der unendlich mannichfachen und in zahllosen Fällen und Beziehungen sich widersprechenden Thatsachen vorsichtig anzupassen. Lotze stellt zunächst den Unterschied des allgemeinen Lebensgefühls bei den beiden Geschlechtern gemäß ihrer körperlichen Beschaffenheit fest und weist geringere Ar¬ beitskraft und höhere Anbequemnngsfähigkeit, begleitet von einem Gemisch san¬ guinischer Lebhaftigkeit und sentimentaler Warmhcrzigkeit, auf selten des weib¬ lichen Geschlechtes nach. Er schließt diese Betrachtung mit dem Satze: „Die Unterschiede der erworbenen Bildung verdecken vieles; doch einen neugierigen Zug zur Unterhaltung um der Unterhaltung willen und irgend eine Spur des Wohlgefallens an schönen und harmonischen Verhältnissen werden wir kaum an den entgegengesetzten Extremen dieser weiblichen Bildung vermissen." Die eigent¬ liche Schwierigkeit der Frage liegt aber mehr in der Feststellung des Unter¬ schiedes der beiden Geschlechter bezüglich des höhern geistigen Lebens, namentlich anch deswegen, weil es sich hier zumeist darum handelt, alles, was als mittel¬ bares Ergebnis der Lebensverhältnisse, wie der Vererbung ?c., und der Bil¬ dungskreise anzusehen ist, gründlich außer Rechnung zu lassen. Individualität und Universalität, Allgemeines und Einzelnes, Objektivität und Subjektivität, Bewußtes und Unbewußtes, Negation und Position (Hegel), Spekulation und Praxis (Fichte), gedachtes Gesetz und empfundene Sitte (Trendelenburg), Öffent¬ lichkeit und Haus, Thun und Sein und alle die prickelnden Kvntrastschlagwörter, mit denen man vielfach in apodiktischer Weise, mehrfach noch ohne Unterschied der niedern und höhern Psyche die thatsächlichen polaren Gegensatze des männ¬ lichen und weiblichen Geisteslebens zu treffen gesucht hat, sie halten die Probe nicht vor dem so bescheiden ausgesprochenen, allumfassenden Satze unseres Neal- idealisten: „Mnu würde vielleicht richtiger meinen" (er spricht vorher von dem beliebten Gegensatze „Allgemeines und Einzelnes"), „daß Erkenntnis und Wille des Mannes auf Allgemeines, die des Weibes auf Ganzes gerichtet sind." Ein ähnlicher Gegensatz scheint uns zwischen antiker und mittelalterlicher Welt¬ anschauung obzuwalten; während dort das Allgemeine und Gleichartige den Blick des Menschen fesselt, bildet hier die Einheit des von einer göttlichen Vor¬ sehung bis ins einzelne glanzvoll geleiteten Weltganzen den Grundgedanken der christlichen Seele. So finden wir denn manche Züge, welche man dem „träu¬ merischen, lnnggelockten" Mittelalter zuschreibt, in der folgenden, von uns zu¬ sammengestellte» Liste besonders weiblicher Eigenschaften wieder. Die Richtung

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_359176/393>, abgerufen am 25.05.2024.