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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Viertes Quartal.

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in Baiern). Als Pianist wurde er in den wenigen Städten Deutschlands, wo
er sich hören ließ, sofort neben Thalberg und Liszt gestellt, zog sich aber sehr
bald ans der Öffentlichkeit zurück. Als Komponist zählte er zu den erklärtesten
Lieblingen der "Davidsbündler." Mit dein ausgeprägtesten Zuge seines Talentes,
seiner großen Kunst in der Filigranarbeit, war er der Mann jener Zeit. Die
Generation von hente fängt an, seine Klnvicrwerke hinsichtlich des Ideen¬
gehaltes etwas kühler zu beurteilen, und niemand wird jetzt uoch in Henselt
einen "deutscheu Chopin" erblicken. Aber in der Auffindung sinniger und ori¬
gineller Figuren wird er doch noch lange als Muster dienen tonnen. Die
saubere Ausarbeitung seiner Kompositionen, ihr Reichtum nu neuen und wirkungs-
vollen Spielarten macht sie zu einer Fundgrube für Studirende, deu Wohl-
klang, deu sie ausströmen, die geistige Harmonie, die aristokratische und liebeus-
Nundige, kindliche Natur, die aus ihnen spricht, verleihen ihnen einen "lehr als
vorübergehenden ästhetischen Wert. Einzelne sind auch von poetischer Eigenart.
Verpflanzt nicht das kleine Angenblicksbildchen, das unter dein Titel "Wenn ich
ein Vöglein wär'" allgemein bekannt ist, den ganzen Zauber des Nachtigallen-
Hains frisch und duftend auf das Klavier? Das Heft "Etüden" (09. 2), in
denen dieses Klavierstückchen enthalten ist, und ein späteres (09. 5) zählen zu
Henselts wertvollsten und reizendsten Kompositionen.

Wir benutzen die Gelegenheit, um hier die Veinerknng einzuschalten, daß
die Etndenkvmpositivn vielleicht den wertvollsten Teil der neuern Klavierliteratur
bildet, denjenigen Teil, welcher von dilettantischen Elementen am meisten frei
geblieben ist. Diese Thatsache zeigt wieder eklatant, daß in der musikalische"
Komposition ein gelinder Druck formeller Fesseln der Phantasie, wenn sie über¬
haupt da ist, uur nützt. Auf dem Felde der Klavieretilde sind in der Periode
seit Schumann Früchte gediehen von jener Reife, welche wir an deu besten Ernten
der klassischen und vorklassischen Zeit bewundern. Der Garten, deu Bach, Clementi,
Berger, Cramer angelegt haben, ist in einem würdigen Stile erweitert worden.
Allen voran steht Ignaz Moscheles, dessen ox. 70 (24 Etüden durch alle
Tonarten) man getrost -- "rum U-uro fall" -- als das "Wohltemperirte Klavier
der Noiuautil" bezeichnen darf.

(Fortsctzmig folgt.)




in Baiern). Als Pianist wurde er in den wenigen Städten Deutschlands, wo
er sich hören ließ, sofort neben Thalberg und Liszt gestellt, zog sich aber sehr
bald ans der Öffentlichkeit zurück. Als Komponist zählte er zu den erklärtesten
Lieblingen der „Davidsbündler." Mit dein ausgeprägtesten Zuge seines Talentes,
seiner großen Kunst in der Filigranarbeit, war er der Mann jener Zeit. Die
Generation von hente fängt an, seine Klnvicrwerke hinsichtlich des Ideen¬
gehaltes etwas kühler zu beurteilen, und niemand wird jetzt uoch in Henselt
einen „deutscheu Chopin" erblicken. Aber in der Auffindung sinniger und ori¬
gineller Figuren wird er doch noch lange als Muster dienen tonnen. Die
saubere Ausarbeitung seiner Kompositionen, ihr Reichtum nu neuen und wirkungs-
vollen Spielarten macht sie zu einer Fundgrube für Studirende, deu Wohl-
klang, deu sie ausströmen, die geistige Harmonie, die aristokratische und liebeus-
Nundige, kindliche Natur, die aus ihnen spricht, verleihen ihnen einen »lehr als
vorübergehenden ästhetischen Wert. Einzelne sind auch von poetischer Eigenart.
Verpflanzt nicht das kleine Angenblicksbildchen, das unter dein Titel „Wenn ich
ein Vöglein wär'" allgemein bekannt ist, den ganzen Zauber des Nachtigallen-
Hains frisch und duftend auf das Klavier? Das Heft „Etüden" (09. 2), in
denen dieses Klavierstückchen enthalten ist, und ein späteres (09. 5) zählen zu
Henselts wertvollsten und reizendsten Kompositionen.

Wir benutzen die Gelegenheit, um hier die Veinerknng einzuschalten, daß
die Etndenkvmpositivn vielleicht den wertvollsten Teil der neuern Klavierliteratur
bildet, denjenigen Teil, welcher von dilettantischen Elementen am meisten frei
geblieben ist. Diese Thatsache zeigt wieder eklatant, daß in der musikalische»
Komposition ein gelinder Druck formeller Fesseln der Phantasie, wenn sie über¬
haupt da ist, uur nützt. Auf dem Felde der Klavieretilde sind in der Periode
seit Schumann Früchte gediehen von jener Reife, welche wir an deu besten Ernten
der klassischen und vorklassischen Zeit bewundern. Der Garten, deu Bach, Clementi,
Berger, Cramer angelegt haben, ist in einem würdigen Stile erweitert worden.
Allen voran steht Ignaz Moscheles, dessen ox. 70 (24 Etüden durch alle
Tonarten) man getrost — «rum U-uro fall« — als das „Wohltemperirte Klavier
der Noiuautil" bezeichnen darf.

(Fortsctzmig folgt.)




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_359176/42>, abgerufen am 19.05.2024.