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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Viertes Quartal.

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Heinrich Seidel.

werk "Der Rosenkönig," die Studien "Aus der Heimat," und vor allem seine
beiden letzten und reifsten Sachen "Vorstadtgeschichten" und "Jorinde und andere
Geschichten."

Es ist freilich ein beschränktes Gebiet, mit dem er uns bekannt macht.
Seine Geschichten spielen entweder in der Großstadt, und zwar am liebsten in
dem Grenzgebiete derselben, wo Stadt und Land sich berühren und vom Lärm
der großen Stadt nur "ein fernes Rollen und Brausen herübertönt," oder
er führt uus aufs Land hinaus, und zwar in die Nähe der Ostsee, die aber nur
wie vou fern über Haide und Wald herüberschimmert. In dieser Umgebung
bewegt sich stets nur eine kleine Anzahl von Gestalten. Nie sind es mehr als
drei oder vier Personen, die handelnd auftreten, und auch diese gehören einem
bestimmten Kreise an: es sind Gestalten des gebildeten Mittelstandes, der
Gelehrte, der Künstler, der kleine Beamte, der Kaufmann, der Techniker --
lauter Leute, denen in der Regel wenig außerordentliche Dinge begegnen, und
so kommt es denn auch, daß die Begebenheiten, die den Erzählungen zu Grunde
liegen, meist ungemein einfach sind, einfacher fast, als sie sein dürften, denn die
Seidelschen Erzählungen entbehren durchgängig einer wirklichen Verwicklung.

Aber dieser Maugel wird reichlich ersetzt dnrch die Art, wie der einfache
Inhalt vorgetragen wird. Zunächst dnrch die liebevolle Kleinmalerei der Um¬
gebung, die in eine innere Beziehung zu deu Gestalten gebracht wird, welche
darin leben. Da ist die Junggesellenwohnung des Gelehrten, der durch einen
bestimmten Kunstgriff, den er anwenden muß, um die wacklige Klappe seines
alten Sekretärs zu schließen, zu diesem Möbel in eine Art näherer Beziehung
tritt; oder das Atelier des Malers, dessen aus einem Chaos allmählich auf¬
tauchende Harmonie von Farben und Formen einen Reiz aufweist, von dem die
Wirtin in ihrer nüchternen, farblosen Tüllgardincn- und Tapetcnmufterexistcuz
zuvor keine Ahnung gehabt hat. Wie lebendig schildert Seidel die Natur in
dem Garten der Stadt, dem wohlgepflegten wie dem verwilderten, die Haide in
der Mannigfaltigkeit dessen, was dort wächst und nicht wächst, den Wald in
den verschiedensten Tages- und Jahreszeiten und Stimmungen! Aber dies alles
ist nie Selbstzweck, souderu immer nur stimmungsvoller Hintergrund dessen,
was darin vorgeht oder was seine Figuren fühlen und empfinden.

Auch die Menschen weiß Seidel mit wenigen Strichen treffend zu charakteri-
siren. Ist nicht der Anschauungskreis des biedern Hausphilisters Grund völlig
erschöpfend geschildert mit den paar Worten, in denen er der Hochachtung für
seinen Nachbar, den Rosenkömg, Ausdruck giebt: "Wenn er sich irgendwie be¬
mühen wollte, könnte er alle Tage Stadtverordneter werden"? Oder läßt sich
die in aller Dürftigkeit glückliche Genügsamkeit einfacher darstellen als in der
Einladung Hühnchens an seinen Freund, auf dem Sopha Platz zu nehmen: "Das
Sopha ist etwas gebirgig, mau muß sehen, daß man in ein Thal zu sitzen
kommt." Wer sieht nicht die "ältliche steife Person" sofort mit Augen vor sich,


Heinrich Seidel.

werk „Der Rosenkönig," die Studien „Aus der Heimat," und vor allem seine
beiden letzten und reifsten Sachen „Vorstadtgeschichten" und „Jorinde und andere
Geschichten."

Es ist freilich ein beschränktes Gebiet, mit dem er uns bekannt macht.
Seine Geschichten spielen entweder in der Großstadt, und zwar am liebsten in
dem Grenzgebiete derselben, wo Stadt und Land sich berühren und vom Lärm
der großen Stadt nur „ein fernes Rollen und Brausen herübertönt," oder
er führt uus aufs Land hinaus, und zwar in die Nähe der Ostsee, die aber nur
wie vou fern über Haide und Wald herüberschimmert. In dieser Umgebung
bewegt sich stets nur eine kleine Anzahl von Gestalten. Nie sind es mehr als
drei oder vier Personen, die handelnd auftreten, und auch diese gehören einem
bestimmten Kreise an: es sind Gestalten des gebildeten Mittelstandes, der
Gelehrte, der Künstler, der kleine Beamte, der Kaufmann, der Techniker —
lauter Leute, denen in der Regel wenig außerordentliche Dinge begegnen, und
so kommt es denn auch, daß die Begebenheiten, die den Erzählungen zu Grunde
liegen, meist ungemein einfach sind, einfacher fast, als sie sein dürften, denn die
Seidelschen Erzählungen entbehren durchgängig einer wirklichen Verwicklung.

Aber dieser Maugel wird reichlich ersetzt dnrch die Art, wie der einfache
Inhalt vorgetragen wird. Zunächst dnrch die liebevolle Kleinmalerei der Um¬
gebung, die in eine innere Beziehung zu deu Gestalten gebracht wird, welche
darin leben. Da ist die Junggesellenwohnung des Gelehrten, der durch einen
bestimmten Kunstgriff, den er anwenden muß, um die wacklige Klappe seines
alten Sekretärs zu schließen, zu diesem Möbel in eine Art näherer Beziehung
tritt; oder das Atelier des Malers, dessen aus einem Chaos allmählich auf¬
tauchende Harmonie von Farben und Formen einen Reiz aufweist, von dem die
Wirtin in ihrer nüchternen, farblosen Tüllgardincn- und Tapetcnmufterexistcuz
zuvor keine Ahnung gehabt hat. Wie lebendig schildert Seidel die Natur in
dem Garten der Stadt, dem wohlgepflegten wie dem verwilderten, die Haide in
der Mannigfaltigkeit dessen, was dort wächst und nicht wächst, den Wald in
den verschiedensten Tages- und Jahreszeiten und Stimmungen! Aber dies alles
ist nie Selbstzweck, souderu immer nur stimmungsvoller Hintergrund dessen,
was darin vorgeht oder was seine Figuren fühlen und empfinden.

Auch die Menschen weiß Seidel mit wenigen Strichen treffend zu charakteri-
siren. Ist nicht der Anschauungskreis des biedern Hausphilisters Grund völlig
erschöpfend geschildert mit den paar Worten, in denen er der Hochachtung für
seinen Nachbar, den Rosenkömg, Ausdruck giebt: „Wenn er sich irgendwie be¬
mühen wollte, könnte er alle Tage Stadtverordneter werden"? Oder läßt sich
die in aller Dürftigkeit glückliche Genügsamkeit einfacher darstellen als in der
Einladung Hühnchens an seinen Freund, auf dem Sopha Platz zu nehmen: „Das
Sopha ist etwas gebirgig, mau muß sehen, daß man in ein Thal zu sitzen
kommt." Wer sieht nicht die „ältliche steife Person" sofort mit Augen vor sich,


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[0497] Heinrich Seidel. werk „Der Rosenkönig," die Studien „Aus der Heimat," und vor allem seine beiden letzten und reifsten Sachen „Vorstadtgeschichten" und „Jorinde und andere Geschichten." Es ist freilich ein beschränktes Gebiet, mit dem er uns bekannt macht. Seine Geschichten spielen entweder in der Großstadt, und zwar am liebsten in dem Grenzgebiete derselben, wo Stadt und Land sich berühren und vom Lärm der großen Stadt nur „ein fernes Rollen und Brausen herübertönt," oder er führt uus aufs Land hinaus, und zwar in die Nähe der Ostsee, die aber nur wie vou fern über Haide und Wald herüberschimmert. In dieser Umgebung bewegt sich stets nur eine kleine Anzahl von Gestalten. Nie sind es mehr als drei oder vier Personen, die handelnd auftreten, und auch diese gehören einem bestimmten Kreise an: es sind Gestalten des gebildeten Mittelstandes, der Gelehrte, der Künstler, der kleine Beamte, der Kaufmann, der Techniker — lauter Leute, denen in der Regel wenig außerordentliche Dinge begegnen, und so kommt es denn auch, daß die Begebenheiten, die den Erzählungen zu Grunde liegen, meist ungemein einfach sind, einfacher fast, als sie sein dürften, denn die Seidelschen Erzählungen entbehren durchgängig einer wirklichen Verwicklung. Aber dieser Maugel wird reichlich ersetzt dnrch die Art, wie der einfache Inhalt vorgetragen wird. Zunächst dnrch die liebevolle Kleinmalerei der Um¬ gebung, die in eine innere Beziehung zu deu Gestalten gebracht wird, welche darin leben. Da ist die Junggesellenwohnung des Gelehrten, der durch einen bestimmten Kunstgriff, den er anwenden muß, um die wacklige Klappe seines alten Sekretärs zu schließen, zu diesem Möbel in eine Art näherer Beziehung tritt; oder das Atelier des Malers, dessen aus einem Chaos allmählich auf¬ tauchende Harmonie von Farben und Formen einen Reiz aufweist, von dem die Wirtin in ihrer nüchternen, farblosen Tüllgardincn- und Tapetcnmufterexistcuz zuvor keine Ahnung gehabt hat. Wie lebendig schildert Seidel die Natur in dem Garten der Stadt, dem wohlgepflegten wie dem verwilderten, die Haide in der Mannigfaltigkeit dessen, was dort wächst und nicht wächst, den Wald in den verschiedensten Tages- und Jahreszeiten und Stimmungen! Aber dies alles ist nie Selbstzweck, souderu immer nur stimmungsvoller Hintergrund dessen, was darin vorgeht oder was seine Figuren fühlen und empfinden. Auch die Menschen weiß Seidel mit wenigen Strichen treffend zu charakteri- siren. Ist nicht der Anschauungskreis des biedern Hausphilisters Grund völlig erschöpfend geschildert mit den paar Worten, in denen er der Hochachtung für seinen Nachbar, den Rosenkömg, Ausdruck giebt: „Wenn er sich irgendwie be¬ mühen wollte, könnte er alle Tage Stadtverordneter werden"? Oder läßt sich die in aller Dürftigkeit glückliche Genügsamkeit einfacher darstellen als in der Einladung Hühnchens an seinen Freund, auf dem Sopha Platz zu nehmen: „Das Sopha ist etwas gebirgig, mau muß sehen, daß man in ein Thal zu sitzen kommt." Wer sieht nicht die „ältliche steife Person" sofort mit Augen vor sich,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_359176/497>, abgerufen am 17.06.2024.