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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Viertes Quartal.

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Die Klaviermusik seit Robert Schumann.

Von den drei andern der ebengenannten Gruppe haben Reinecke und Kirchner
ihre Position spielend gefunden. Vargiel ist ans größere Schmierigkeiten gestoßen,
namentlich auch dem eignen Talente gegenüber, Meiches sich den hohen und
zugleich vielseitigen Bestrebungen seines Besitzers nicht immer gleich willig zeigte.
Schließlich hat er durch seine Orchesteronvcrtüren auch die öffentliche Meinung
für sich gewonnen, die ihn jetzt als einen durch die Gediegenheit in Wollen und
Können bedeutenden Komponisten freudig anerkennt. Sein eigentliches Element
ist das der düstern Erregtheit. Wie ihm die Ouvertüre zu "Medea" als sein
Hanptwnrf angerechnet wird, so hat sich auch am Klavier seine Dichterkraft in
den vollsten Zügen dann ergossen, wenn sie aus dem Reiche der Schatten er¬
zählte. So in der dritten Phantasie (Vrahms zugeeignet) und namentlich in
seiner L-nur-Sonate (op. 34), die man für das bedeutendste seiner Klavierwerke
erklären kaun. Sie gleicht einer Novelle und fesselt namentlich dnrch die Be¬
handlung der schauerlichen Elemente. In zweiter Linie ist Bargiel bedeutend
in seinen Presti und Scherzi, die durch ein Moment kapriziöser Überrlinipelung
eigentümlich siud. Er ist einer der Komponisten, denen man absolut keine Oper
zutrauen tan". Das Tragische im letzten Grade scheint ihm ebensowenig er¬
reichbar wie das gewöhnlich äußerliche. Nichts hohleres, kraftlos aufprotzendes
als sein Festmarsch. Auf dem Felde der freundlichen Phantasien zeigt er manche
Schwächen: Breite, Umständlichkeit, spröde Zähigkeit, Festhalten an bloßen
Diabelligedanken, doch auch manches wohlgelungene und manchen Beweis ori¬
gineller Mnsikerfindung. Wir nennen die nervig, lÄnta^tivÄ aus op. 31, die
sechste Nummer aus op. 32, reizend durch gemächliche" Frohsinn, das phantasie-
voll bewegte Heft ozx 9 und als ein besonders intimes Stück den "Zwiegesaug"
in der zweihändigen Suite.

Carl Reinecke, den die Klaviermusik in allen ihren Gattungen zu ihren
fleißigen Mitarbeitern zählt, ist allen Spielern eine hochwillkommene Erscheinung.
Der elegische Zug seines freundlichen Talentes, die lebendige, feinsinnige Aus¬
arbeitung geben der Mehrzahl seiner Werke deu Wert individueller Bestimmt¬
heit. Besonders ausgezeichnet hat er sich in einer Spezialität: der Klaviermusik
für jugendliche Spieler. Leider sind die Nummern, um die er diese Gattung
bereichert hat, nicht sehr zahlreich. Wir entsinnen uns nur der drei Sonatincu
ol>, 47 und der 27 leichten Klavierstücke für seine Kinder. Aber sie schlagen
so ziemlich alles, was uach Schumann mit besondrer Rücksicht für die musika¬
lische Jugend geschrieben worden ist. Sie sind nicht bloß geeignet für die jungen
Finger, sondern eine gesunde, erfrischende Nahrung für die jugendlichen Geister,
so reizende, graziöse, künstlerisch anmutende Arbeiten, daß auch die Erwachsenen
mit angezogen werden. Man kann sie für heimliche Märchen halten und nur
wünschen, daß ihr Verfasser die Jungen und die Alten mit noch recht vielen
Gaben einer Gattung erfreue, in der es ihm zur Zeit niemand gleichthut, und
die überhaupt zu bedenken nur wenige Meister die Liebenswürdigkeit haben,


Die Klaviermusik seit Robert Schumann.

Von den drei andern der ebengenannten Gruppe haben Reinecke und Kirchner
ihre Position spielend gefunden. Vargiel ist ans größere Schmierigkeiten gestoßen,
namentlich auch dem eignen Talente gegenüber, Meiches sich den hohen und
zugleich vielseitigen Bestrebungen seines Besitzers nicht immer gleich willig zeigte.
Schließlich hat er durch seine Orchesteronvcrtüren auch die öffentliche Meinung
für sich gewonnen, die ihn jetzt als einen durch die Gediegenheit in Wollen und
Können bedeutenden Komponisten freudig anerkennt. Sein eigentliches Element
ist das der düstern Erregtheit. Wie ihm die Ouvertüre zu „Medea" als sein
Hanptwnrf angerechnet wird, so hat sich auch am Klavier seine Dichterkraft in
den vollsten Zügen dann ergossen, wenn sie aus dem Reiche der Schatten er¬
zählte. So in der dritten Phantasie (Vrahms zugeeignet) und namentlich in
seiner L-nur-Sonate (op. 34), die man für das bedeutendste seiner Klavierwerke
erklären kaun. Sie gleicht einer Novelle und fesselt namentlich dnrch die Be¬
handlung der schauerlichen Elemente. In zweiter Linie ist Bargiel bedeutend
in seinen Presti und Scherzi, die durch ein Moment kapriziöser Überrlinipelung
eigentümlich siud. Er ist einer der Komponisten, denen man absolut keine Oper
zutrauen tan». Das Tragische im letzten Grade scheint ihm ebensowenig er¬
reichbar wie das gewöhnlich äußerliche. Nichts hohleres, kraftlos aufprotzendes
als sein Festmarsch. Auf dem Felde der freundlichen Phantasien zeigt er manche
Schwächen: Breite, Umständlichkeit, spröde Zähigkeit, Festhalten an bloßen
Diabelligedanken, doch auch manches wohlgelungene und manchen Beweis ori¬
gineller Mnsikerfindung. Wir nennen die nervig, lÄnta^tivÄ aus op. 31, die
sechste Nummer aus op. 32, reizend durch gemächliche« Frohsinn, das phantasie-
voll bewegte Heft ozx 9 und als ein besonders intimes Stück den „Zwiegesaug"
in der zweihändigen Suite.

Carl Reinecke, den die Klaviermusik in allen ihren Gattungen zu ihren
fleißigen Mitarbeitern zählt, ist allen Spielern eine hochwillkommene Erscheinung.
Der elegische Zug seines freundlichen Talentes, die lebendige, feinsinnige Aus¬
arbeitung geben der Mehrzahl seiner Werke deu Wert individueller Bestimmt¬
heit. Besonders ausgezeichnet hat er sich in einer Spezialität: der Klaviermusik
für jugendliche Spieler. Leider sind die Nummern, um die er diese Gattung
bereichert hat, nicht sehr zahlreich. Wir entsinnen uns nur der drei Sonatincu
ol>, 47 und der 27 leichten Klavierstücke für seine Kinder. Aber sie schlagen
so ziemlich alles, was uach Schumann mit besondrer Rücksicht für die musika¬
lische Jugend geschrieben worden ist. Sie sind nicht bloß geeignet für die jungen
Finger, sondern eine gesunde, erfrischende Nahrung für die jugendlichen Geister,
so reizende, graziöse, künstlerisch anmutende Arbeiten, daß auch die Erwachsenen
mit angezogen werden. Man kann sie für heimliche Märchen halten und nur
wünschen, daß ihr Verfasser die Jungen und die Alten mit noch recht vielen
Gaben einer Gattung erfreue, in der es ihm zur Zeit niemand gleichthut, und
die überhaupt zu bedenken nur wenige Meister die Liebenswürdigkeit haben,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_359176/90>, abgerufen am 10.06.2024.