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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Viertes Quartal.

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Die Klaviermusik seit Robert Schumann.

Tri'
uiM die Mnsilhcfte Jahreszahlen, so würde hier noch bestimmt Knezynski
zu nennen sein. Wer ist dieser Pole Knezynski? Kein Lexikon giebt Ausrnuft
über ihn. Das Heft von ihm, das uns vorliegt, sieht alt ans und enthält ein
sinniges, zartes Phantasiestück, das den Eindruck macht, als wenn jemand in
einer stillen, lauschigen Waldecke von einer großen, weiten Reise erzählte. Auch
Carl Wettig, der mehr als ein Salonkomponist sein will, möge noch wegen
seines rohen, aber stürmisch kräftigen Scherzo genannt sein.

Die letzten bedeutenden Klnvierkomponiften der Gegenwart, welche noch von
Schumann selbst die Weihen erhielten, sind Woldemar Vargiel, Carl
Reinecke, Theodor Kirchner und Johannes Brahms.

Wenn wir auf die Klavierkompvsitionen des zuletzt genannten nicht weiter
eingehen, so geschieht es nur in der Meinung, daß Vrahms der erste Musiker
unsrer Zeit ist,*) und daß alle ernsten Freunde der Tonkunst so wie so von
allem Notiz nehmen, was aus der Feder dieses ungewöhnlichen Mannes fließt.
Nur im Vorbeigehen soll auf die ersten Klavierkoinpositionen von Brechens hin¬
gewiesen werden: seine Sonaten, das Scherzo in Uf-irioll und die Balladen.
Sie bieten denjenigen Musikfreunde,? sehr vieles, welche sich außer für die Werke
eines Komponisten auch für seine Entwicklung interessiren. Und gerade bei
Brahms gleicht diese Entwicklung allein schon einem Kunstwerke. Sie ist eine
Arbeit, die dem Meuschen in dem Betrachter ebensoviel zu denken giebt als dem
Kunstfreunde. Die Überlegenheit von Geist und Charakter, mit der diese Ent¬
wicklung geplant erscheint, die Energie und Festigkeit, mit der dieser Plan aus¬
geführt worden ist, zu bemerken und zu begreifen, muß man einen Blick in diese
frühesten Klavierkvmpositionen des Meisters gethan haben. Daß sich ein Ta¬
lent, welches mit solchen Erzleistnngen der Hyperromnntik debntirt, dieser Rich¬
tung wieder abwendet, könnte manchen ihrer schwärmerischen Anhänger zum
Nachsinnen veranlassen. Des weiter" wird man auch angesichts dieser frühesten
Klavierkompositivnen von Brahms zu der Einsicht gelangen, daß es ganz nn-
Mvtivirt ist, seine Kunst für einen Ableger der Schumannschen zu halten. Der
kühne Jüngling welcher diese grandiosen und genialen Tongedichte hinwarf,
stellte sich mit' einem Sprung ans die Schultern des letzten Beethoven. Aber
sieht man auch von dem kunsthistorischen und biographischen Interesse in den
betreffenden Werken ab, so bleibt immer noch ein reicher rein künstlerischer Ge¬
wiß: der Anblick einer im Sehen, Fühlen und Formen ganz ungewöhnlichen
^äst. In mancher guten Vezieyuug sind sie Unica in der Klnvierliteratnr.
Der ersten der Balladen z. B. ein gleich eigenes Stück dämonischer Natur an
d>e Seite zu stellen wird kaum möglich sein.



) Der Verfasser hat diese Meinung bereits zu einer Zeit sehr nachdrücklich in der nin-
Mhen Presse vertreten, we> sie nnr erst von wenigen geteilt wurde. D. Red.
Die Klaviermusik seit Robert Schumann.

Tri'
uiM die Mnsilhcfte Jahreszahlen, so würde hier noch bestimmt Knezynski
zu nennen sein. Wer ist dieser Pole Knezynski? Kein Lexikon giebt Ausrnuft
über ihn. Das Heft von ihm, das uns vorliegt, sieht alt ans und enthält ein
sinniges, zartes Phantasiestück, das den Eindruck macht, als wenn jemand in
einer stillen, lauschigen Waldecke von einer großen, weiten Reise erzählte. Auch
Carl Wettig, der mehr als ein Salonkomponist sein will, möge noch wegen
seines rohen, aber stürmisch kräftigen Scherzo genannt sein.

Die letzten bedeutenden Klnvierkomponiften der Gegenwart, welche noch von
Schumann selbst die Weihen erhielten, sind Woldemar Vargiel, Carl
Reinecke, Theodor Kirchner und Johannes Brahms.

Wenn wir auf die Klavierkompvsitionen des zuletzt genannten nicht weiter
eingehen, so geschieht es nur in der Meinung, daß Vrahms der erste Musiker
unsrer Zeit ist,*) und daß alle ernsten Freunde der Tonkunst so wie so von
allem Notiz nehmen, was aus der Feder dieses ungewöhnlichen Mannes fließt.
Nur im Vorbeigehen soll auf die ersten Klavierkoinpositionen von Brechens hin¬
gewiesen werden: seine Sonaten, das Scherzo in Uf-irioll und die Balladen.
Sie bieten denjenigen Musikfreunde,? sehr vieles, welche sich außer für die Werke
eines Komponisten auch für seine Entwicklung interessiren. Und gerade bei
Brahms gleicht diese Entwicklung allein schon einem Kunstwerke. Sie ist eine
Arbeit, die dem Meuschen in dem Betrachter ebensoviel zu denken giebt als dem
Kunstfreunde. Die Überlegenheit von Geist und Charakter, mit der diese Ent¬
wicklung geplant erscheint, die Energie und Festigkeit, mit der dieser Plan aus¬
geführt worden ist, zu bemerken und zu begreifen, muß man einen Blick in diese
frühesten Klavierkvmpositionen des Meisters gethan haben. Daß sich ein Ta¬
lent, welches mit solchen Erzleistnngen der Hyperromnntik debntirt, dieser Rich¬
tung wieder abwendet, könnte manchen ihrer schwärmerischen Anhänger zum
Nachsinnen veranlassen. Des weiter» wird man auch angesichts dieser frühesten
Klavierkompositivnen von Brahms zu der Einsicht gelangen, daß es ganz nn-
Mvtivirt ist, seine Kunst für einen Ableger der Schumannschen zu halten. Der
kühne Jüngling welcher diese grandiosen und genialen Tongedichte hinwarf,
stellte sich mit' einem Sprung ans die Schultern des letzten Beethoven. Aber
sieht man auch von dem kunsthistorischen und biographischen Interesse in den
betreffenden Werken ab, so bleibt immer noch ein reicher rein künstlerischer Ge¬
wiß: der Anblick einer im Sehen, Fühlen und Formen ganz ungewöhnlichen
^äst. In mancher guten Vezieyuug sind sie Unica in der Klnvierliteratnr.
Der ersten der Balladen z. B. ein gleich eigenes Stück dämonischer Natur an
d>e Seite zu stellen wird kaum möglich sein.



) Der Verfasser hat diese Meinung bereits zu einer Zeit sehr nachdrücklich in der nin-
Mhen Presse vertreten, we> sie nnr erst von wenigen geteilt wurde. D. Red.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_359176/89>, abgerufen am 10.06.2024.