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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal.

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Das verflossene Jahr.

Mittelgrnppen und eine Erhöhung der Schwierigkeit für die Regierung, für ihre
Vorlagen eine Mehrheit im Parlamente zu finden. Die Zahl der Ccntrums-
mitglieder war im ganzen dieselbe geblieben, die der Conservativen der äußersten
Rechten ebenfalls. Das Anwachsen der Oppositionsparteien war jedoch kein
Zeichen, daß die Nation die wirtschaftlichen Reformen des Reichskanzlers nicht
billige, sondern die Folge einer fast beispiellosen demagogischen Wühlerei von
Handwerksagitatoren, welche kein Mittel zur Erreichung ihres Zweckes verschmähten,
namentlich von der Lüge und Verleumdung den ausgiebigsten Gebrauch machte"
und dabei mit Geld aus dem Judenschatze reichlich versehen waren. Die Lage
war nun die: die oppositionellen Fraktionen im Reichstage bildeten zusammen
die große Mehrheit, adeo keine derselben für sich umfaßte auch nur annähernd
die Mehrzahl der Ncichstagsmitglieder, und ebenso wenig galt dies von einer
Koalition der drei liberalen Gruppen (Fortschritt, Secession und Nationallibcrale),
die überdies zu positiver Wirksamkeit kaum zu vereinigen waren, oder von einem
Zusammentreten der Konservativen mit dein Centrum. Eine Majorität war nur
zu erwarten, wenn die entschieden reichsfeindlichcn Fraktionen der Elsaß-Lothringer,
Polen, Weisen, Volksparteileute und Sozialdemokraten sich in einer Frage der
einen oder der andern dieser beiden Allianzen anschlössen.

Angesichts dieser Lage der Dinge faßte der Reichskanzler den Entschluß,
eventuell den Kaiser um seine Entlassung zu bitten, zunächst aber denselben um
die Ermächtigung anzugehen, mit den beiden Seiten der sich aus dem Centrum
und den Liberalen zusammensetzenden Mehrheit darüber zu verhandeln, ob sie
überhaupt vereint oder getrennt bereit sein würden, die Leitung der Neichs-
regierung in die Hand zu nehmen. Er glaubte, zu diesem Schritte verpflichtet
zu sein, ehe er sich entschloß, sein Amt angesichts einer Neichstagsmehrheit weiter¬
zuführen, deren Opposition sich in dem Kampfe gegen seine Person concentrirte,
oder mit andern Worten, er wünschte die Verantwortung für eine von schweren
Krisen vielleicht nicht freizuhaltende Minoritätsregiernng nicht zu übernehmen,
wenn die gesammte Majorität oder ein Teil derselben sich geneigt erklärte, an
das Staatsruder zu treten. Ginge aus den Verhandlungen hervor, daß die
gesammte Opposition oder der klerikale oder endlich der liberale Flügel derselben
dazu bereit sei, so würde der Kanzler nach den Bedingungen fragen und die¬
selben dem Kaiser mitteilen, und billigte dieser die Bedingungen, so würde die
Wetterführung der Geschäfte vom Kanzler einem Ministerium überlassen werden,
welches entweder ein klerikal-liberales Coalitionsministerium oder eine klerikale
oder auch eine liberale Minoritätsregiernng wäre. Der Versuch zu dieser Prü¬
fung der Parteien konnte erst gemacht werden, wenn eine oppositionelle Ab¬
stimmung von Wichtigkeit vorlag. Der Erfolg derselben ließ sich voraussagen.
Eine klerikal-liberale Coalition war kaum für die eine oder die andre Frage,
geschweige denn auf die Dauer denkbar. Daß die Liberalen oder die Klerikalen
sich getraut hätten, als die Minorität, die sie waren, die Erbschaft des Kanzlers


Das verflossene Jahr.

Mittelgrnppen und eine Erhöhung der Schwierigkeit für die Regierung, für ihre
Vorlagen eine Mehrheit im Parlamente zu finden. Die Zahl der Ccntrums-
mitglieder war im ganzen dieselbe geblieben, die der Conservativen der äußersten
Rechten ebenfalls. Das Anwachsen der Oppositionsparteien war jedoch kein
Zeichen, daß die Nation die wirtschaftlichen Reformen des Reichskanzlers nicht
billige, sondern die Folge einer fast beispiellosen demagogischen Wühlerei von
Handwerksagitatoren, welche kein Mittel zur Erreichung ihres Zweckes verschmähten,
namentlich von der Lüge und Verleumdung den ausgiebigsten Gebrauch machte»
und dabei mit Geld aus dem Judenschatze reichlich versehen waren. Die Lage
war nun die: die oppositionellen Fraktionen im Reichstage bildeten zusammen
die große Mehrheit, adeo keine derselben für sich umfaßte auch nur annähernd
die Mehrzahl der Ncichstagsmitglieder, und ebenso wenig galt dies von einer
Koalition der drei liberalen Gruppen (Fortschritt, Secession und Nationallibcrale),
die überdies zu positiver Wirksamkeit kaum zu vereinigen waren, oder von einem
Zusammentreten der Konservativen mit dein Centrum. Eine Majorität war nur
zu erwarten, wenn die entschieden reichsfeindlichcn Fraktionen der Elsaß-Lothringer,
Polen, Weisen, Volksparteileute und Sozialdemokraten sich in einer Frage der
einen oder der andern dieser beiden Allianzen anschlössen.

Angesichts dieser Lage der Dinge faßte der Reichskanzler den Entschluß,
eventuell den Kaiser um seine Entlassung zu bitten, zunächst aber denselben um
die Ermächtigung anzugehen, mit den beiden Seiten der sich aus dem Centrum
und den Liberalen zusammensetzenden Mehrheit darüber zu verhandeln, ob sie
überhaupt vereint oder getrennt bereit sein würden, die Leitung der Neichs-
regierung in die Hand zu nehmen. Er glaubte, zu diesem Schritte verpflichtet
zu sein, ehe er sich entschloß, sein Amt angesichts einer Neichstagsmehrheit weiter¬
zuführen, deren Opposition sich in dem Kampfe gegen seine Person concentrirte,
oder mit andern Worten, er wünschte die Verantwortung für eine von schweren
Krisen vielleicht nicht freizuhaltende Minoritätsregiernng nicht zu übernehmen,
wenn die gesammte Majorität oder ein Teil derselben sich geneigt erklärte, an
das Staatsruder zu treten. Ginge aus den Verhandlungen hervor, daß die
gesammte Opposition oder der klerikale oder endlich der liberale Flügel derselben
dazu bereit sei, so würde der Kanzler nach den Bedingungen fragen und die¬
selben dem Kaiser mitteilen, und billigte dieser die Bedingungen, so würde die
Wetterführung der Geschäfte vom Kanzler einem Ministerium überlassen werden,
welches entweder ein klerikal-liberales Coalitionsministerium oder eine klerikale
oder auch eine liberale Minoritätsregiernng wäre. Der Versuch zu dieser Prü¬
fung der Parteien konnte erst gemacht werden, wenn eine oppositionelle Ab¬
stimmung von Wichtigkeit vorlag. Der Erfolg derselben ließ sich voraussagen.
Eine klerikal-liberale Coalition war kaum für die eine oder die andre Frage,
geschweige denn auf die Dauer denkbar. Daß die Liberalen oder die Klerikalen
sich getraut hätten, als die Minorität, die sie waren, die Erbschaft des Kanzlers


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_89804/15>, abgerufen am 18.05.2024.