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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal.

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Die Reform des englische" Parlaments.

zu bringen. Gladstone setzte damals die Maßregel durch, daß ein regelrecht
eingebrachter Antrag auf Dringlichkeit einer Vorlage, welcher von 40 Mitgliedern
unterstützt und von drei Vierteln des Hauses angenommen würde, dem Sprecher
die Vollmacht geben sollte, den Gang der Verhandlungen nach eignem Ermessen
zu regeln. Auf der Grundlage dieser Bestimmungen wünscht die Presse weitere
Maßregeln. Sie erinnert an frühere Projekte und Aussagen vor dem Parlamente,
besonders an folgende. Als die Geschäftsordnung im Jahre 1848 das Unterhaus in
Anspruch nahm, hielt man es für wünschenswert, die Erfahrungen Frankreichs
und der Vereinigten Staaten kennen zu lernen, weil beide Staaten verhältnißmäßig
früh die Geschäftsordnung des englischen Parlaments angenommen hatten.
Man lud deshalb Guizot und Curtis ein, ihr Urteil vor einem Ausschüsse des
Hauses abzugeben. Die Aussagen ergaben, daß beide Länder seit dem Ende des
vorigen, bezüglich dem Anfang dieses Jahrhunderts in die Geschäftsordnung die
Bestimmung eingeführt haben, eine namentliche Abstimmung von dem Antrage
eines Fünfecks oder von zwanzig Mitgliedern des Hauses abhängig zu machen,
daß in den Vereinigten Staaten seit 1794 die Debatten über Vertagungsanträge
verboten sind und die xrsvious auöstion und die vlowrs es der Majorität
ermöglichen, die Diskussion zu beendigen. Beide Staatsmänner sprachen
die Überzeugung aus, daß diese Bestimmungen die gründliche und unparteiische
Besprechung der Vorlagen nicht verhindert hätten. Curtis richtete die Auf¬
merksamkeit des Ausschusses auf eine merkwürdige Regel: länger als cinstündige
Reden sind in den gesetzgebenden Körpern der Vereinigten Staaten nicht erlaubt.
Diese Regel hat, wie Curtis und andre versichern, die heilsame Wirkung ge¬
habt, die Redner an Bestimmtheit und Knappheit zu gewöhnen.

Wie viel von den ans dem Staube der Archive und Bibliotheken wieder
auflebenden Erörterungen nach Jahrzehnten fortwirken wird, muß die Erfahrung
lehren. Seit der Rede, welche Lord Hartington kurz vor Weihnachten hielt,
ist es sicher, daß die Regierung die Reform der Geschäftsordnung als die wich¬
tigste und nächste Maßregel der bevorstehenden Session betrachtet. Und seitdem
haben uns die Zeitungen davon in Kenntnis gesetzt, daß schon mehrere Ka-
binetssitzungen den Beratungen einer Vorlage gewidmet worden sind. Jeden¬
falls ist das Interesse, welches die englischen Politiker diesem Gegenstande
widmen, ein Zeichen der inneren Krankheit, welche in der Disharmonie der
Freiheit des Individuums und seines Pflicht- und Ehrgefühls besteht. Leider
ist es so groß, daß es die Erörterung des wichtigeren und der Verbesserung
bedürftigen Teiles der Geschäftsordnung zeitweise in den Hintergrund gedrängt
hat. Denn schon lauge wird der Mangel an einem glatten Fortgang der Ge¬
schäfte gefühlt. Ein Blick auf den schleppenden Gang der englischen Gesetz¬
gebung wird zeigen, wo die Reform einzusetzen hat.

Wer eine Vorlage einbringen will, muß zuerst um die Erlaubnis des
Hauses nachsuchen. Nachdem dieselbe gewährt ist, wird die erste Lesung beau-


Die Reform des englische» Parlaments.

zu bringen. Gladstone setzte damals die Maßregel durch, daß ein regelrecht
eingebrachter Antrag auf Dringlichkeit einer Vorlage, welcher von 40 Mitgliedern
unterstützt und von drei Vierteln des Hauses angenommen würde, dem Sprecher
die Vollmacht geben sollte, den Gang der Verhandlungen nach eignem Ermessen
zu regeln. Auf der Grundlage dieser Bestimmungen wünscht die Presse weitere
Maßregeln. Sie erinnert an frühere Projekte und Aussagen vor dem Parlamente,
besonders an folgende. Als die Geschäftsordnung im Jahre 1848 das Unterhaus in
Anspruch nahm, hielt man es für wünschenswert, die Erfahrungen Frankreichs
und der Vereinigten Staaten kennen zu lernen, weil beide Staaten verhältnißmäßig
früh die Geschäftsordnung des englischen Parlaments angenommen hatten.
Man lud deshalb Guizot und Curtis ein, ihr Urteil vor einem Ausschüsse des
Hauses abzugeben. Die Aussagen ergaben, daß beide Länder seit dem Ende des
vorigen, bezüglich dem Anfang dieses Jahrhunderts in die Geschäftsordnung die
Bestimmung eingeführt haben, eine namentliche Abstimmung von dem Antrage
eines Fünfecks oder von zwanzig Mitgliedern des Hauses abhängig zu machen,
daß in den Vereinigten Staaten seit 1794 die Debatten über Vertagungsanträge
verboten sind und die xrsvious auöstion und die vlowrs es der Majorität
ermöglichen, die Diskussion zu beendigen. Beide Staatsmänner sprachen
die Überzeugung aus, daß diese Bestimmungen die gründliche und unparteiische
Besprechung der Vorlagen nicht verhindert hätten. Curtis richtete die Auf¬
merksamkeit des Ausschusses auf eine merkwürdige Regel: länger als cinstündige
Reden sind in den gesetzgebenden Körpern der Vereinigten Staaten nicht erlaubt.
Diese Regel hat, wie Curtis und andre versichern, die heilsame Wirkung ge¬
habt, die Redner an Bestimmtheit und Knappheit zu gewöhnen.

Wie viel von den ans dem Staube der Archive und Bibliotheken wieder
auflebenden Erörterungen nach Jahrzehnten fortwirken wird, muß die Erfahrung
lehren. Seit der Rede, welche Lord Hartington kurz vor Weihnachten hielt,
ist es sicher, daß die Regierung die Reform der Geschäftsordnung als die wich¬
tigste und nächste Maßregel der bevorstehenden Session betrachtet. Und seitdem
haben uns die Zeitungen davon in Kenntnis gesetzt, daß schon mehrere Ka-
binetssitzungen den Beratungen einer Vorlage gewidmet worden sind. Jeden¬
falls ist das Interesse, welches die englischen Politiker diesem Gegenstande
widmen, ein Zeichen der inneren Krankheit, welche in der Disharmonie der
Freiheit des Individuums und seines Pflicht- und Ehrgefühls besteht. Leider
ist es so groß, daß es die Erörterung des wichtigeren und der Verbesserung
bedürftigen Teiles der Geschäftsordnung zeitweise in den Hintergrund gedrängt
hat. Denn schon lauge wird der Mangel an einem glatten Fortgang der Ge¬
schäfte gefühlt. Ein Blick auf den schleppenden Gang der englischen Gesetz¬
gebung wird zeigen, wo die Reform einzusetzen hat.

Wer eine Vorlage einbringen will, muß zuerst um die Erlaubnis des
Hauses nachsuchen. Nachdem dieselbe gewährt ist, wird die erste Lesung beau-


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[0163] Die Reform des englische» Parlaments. zu bringen. Gladstone setzte damals die Maßregel durch, daß ein regelrecht eingebrachter Antrag auf Dringlichkeit einer Vorlage, welcher von 40 Mitgliedern unterstützt und von drei Vierteln des Hauses angenommen würde, dem Sprecher die Vollmacht geben sollte, den Gang der Verhandlungen nach eignem Ermessen zu regeln. Auf der Grundlage dieser Bestimmungen wünscht die Presse weitere Maßregeln. Sie erinnert an frühere Projekte und Aussagen vor dem Parlamente, besonders an folgende. Als die Geschäftsordnung im Jahre 1848 das Unterhaus in Anspruch nahm, hielt man es für wünschenswert, die Erfahrungen Frankreichs und der Vereinigten Staaten kennen zu lernen, weil beide Staaten verhältnißmäßig früh die Geschäftsordnung des englischen Parlaments angenommen hatten. Man lud deshalb Guizot und Curtis ein, ihr Urteil vor einem Ausschüsse des Hauses abzugeben. Die Aussagen ergaben, daß beide Länder seit dem Ende des vorigen, bezüglich dem Anfang dieses Jahrhunderts in die Geschäftsordnung die Bestimmung eingeführt haben, eine namentliche Abstimmung von dem Antrage eines Fünfecks oder von zwanzig Mitgliedern des Hauses abhängig zu machen, daß in den Vereinigten Staaten seit 1794 die Debatten über Vertagungsanträge verboten sind und die xrsvious auöstion und die vlowrs es der Majorität ermöglichen, die Diskussion zu beendigen. Beide Staatsmänner sprachen die Überzeugung aus, daß diese Bestimmungen die gründliche und unparteiische Besprechung der Vorlagen nicht verhindert hätten. Curtis richtete die Auf¬ merksamkeit des Ausschusses auf eine merkwürdige Regel: länger als cinstündige Reden sind in den gesetzgebenden Körpern der Vereinigten Staaten nicht erlaubt. Diese Regel hat, wie Curtis und andre versichern, die heilsame Wirkung ge¬ habt, die Redner an Bestimmtheit und Knappheit zu gewöhnen. Wie viel von den ans dem Staube der Archive und Bibliotheken wieder auflebenden Erörterungen nach Jahrzehnten fortwirken wird, muß die Erfahrung lehren. Seit der Rede, welche Lord Hartington kurz vor Weihnachten hielt, ist es sicher, daß die Regierung die Reform der Geschäftsordnung als die wich¬ tigste und nächste Maßregel der bevorstehenden Session betrachtet. Und seitdem haben uns die Zeitungen davon in Kenntnis gesetzt, daß schon mehrere Ka- binetssitzungen den Beratungen einer Vorlage gewidmet worden sind. Jeden¬ falls ist das Interesse, welches die englischen Politiker diesem Gegenstande widmen, ein Zeichen der inneren Krankheit, welche in der Disharmonie der Freiheit des Individuums und seines Pflicht- und Ehrgefühls besteht. Leider ist es so groß, daß es die Erörterung des wichtigeren und der Verbesserung bedürftigen Teiles der Geschäftsordnung zeitweise in den Hintergrund gedrängt hat. Denn schon lauge wird der Mangel an einem glatten Fortgang der Ge¬ schäfte gefühlt. Ein Blick auf den schleppenden Gang der englischen Gesetz¬ gebung wird zeigen, wo die Reform einzusetzen hat. Wer eine Vorlage einbringen will, muß zuerst um die Erlaubnis des Hauses nachsuchen. Nachdem dieselbe gewährt ist, wird die erste Lesung beau-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_89804/163>, abgerufen am 17.06.2024.