Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Reform des englische" Parlaments.

tragt. Hat die Vorlage diese mehr formellen Stationen hinter sich, so folgt
die zweite Lesung, welche gewöhnlich der Erörterung der Prinzipien gewidmet ist.
Dann folgt der Antrag, die Vorlage entweder an einen Ausschuß oder an das
Generalkomitee des Hauses gelangen zu lassen. Oft wird die Stellung dieses
Antrages von den Rednern dazu benutzt, um sich noch einmal über die Prin¬
zipien zu verbreiten. Sogenannte private bills (z. B. Eisenbahnkonzessioneu,
Erlaubnis zur Anlegung von Gaswerken) gehen zuerst an einen Ausschuß und
dann an ein Komitee des ganzen Hauses, xuvlio bills, welche das Wohl und
Wehe des ganzen Landes betreffen, direkt an das 'als Komitee versammelte
Haus. Der speaker verläßt seinen Sitz, und an seinerstatt präsidire der
enairinan c>k eominittses. Die einzelnen Paragraphen der Vorlage werden nach
einander beraten und Amendements eingebracht. Sind die Beratungen beendet,
dann nimmt der speaker seinen Platz wieder ein, der edairinan stattet einen
Bericht ab, und das Haus kann von neuem debattiren und Amendements stellen.
Erst dann wird die Vorlage zum drittenmal gelesen. Noch einmal kann eine
volle Diskussion stattfinden, und selbst auf dieser Stufe kann sie durch Zusätze
verändert und wieder an einen Ausschuß verwiesen werden.

Der Gerechtigkeitssinn, die skrupulöse Gewissenhaftigkeit leuchtet auch aus
diesen Bestimmungen hervor. Wie es einer Minorität erlaubt sein soll, voll
zum Worte zu kommen, so soll es niemals zu spät sein, einen Abänderungs-
antrag einzubringen. Die Geschäftsordnung ist augenscheinlich auf Männer von
hohen Prinzipien berechnet. Da dieselben aber aus verschiedenen Gründen im
Parlamente nicht allzurcichlich vorhanden sind, erschwert und verlangsamt die
Geschäftsordnung nicht nur die Parlamentsverhandlungen, sondern begünstigt
auch nicht einmal eine gründliche praktische Gesetzgebung. Wir wollen ans
eine Obstruktion hinweisen, der durchaus keine Böswilligkeit zu Grunde liegt.
Das Haus besteht aus einer großen Anzahl älter, reicher Herren, denen ein
Parlamentssitz als ein halbes otium oum ZiMitats erscheint. Das Leben eines
gewissenhaften und thätigen Parlamentsmitgliedes ist kein rosiges. Morgens im
Ausschuß zu sitzen, nach dem Innen um 4 Uhr im Parlament zu erscheinen,
und nach einer Dinerpause gegen 7 Uhr bis in die späte Nacht zu hören, zu
sprechen und abzustimmen und am folgenden Morgen in derselben Weise fort¬
zufahren, gehört zu den ermüdendsten Daseinsformen. Wenn die Alten sie ge¬
kannt hätten, würden sie aus einem gewissenhaften Parlamentsmitgliede wahr¬
scheinlich eine Büßergcstalt gemacht haben; sie hätten einen Parlamcntssitz
als Bestrafung der Überhebung gegen menschliches und göttliches Recht betrachtet,
was sich wunderbar mit der Lehre eines anonymen Broschürenschreibcrs ver¬
trüge, der in den fünfziger Jahren die Erstrebung des Konstitutionalismus in
Preußen aus der sündigen Menschennatur herleitete. Zum Glücke für die Ge¬
sundheit des Parlamentsmitgliedes und zum Unglücke für die Gesetzgebung des
Landes findet sich die geschilderte Lebensform eines englischen Volksvertreters


Die Reform des englische» Parlaments.

tragt. Hat die Vorlage diese mehr formellen Stationen hinter sich, so folgt
die zweite Lesung, welche gewöhnlich der Erörterung der Prinzipien gewidmet ist.
Dann folgt der Antrag, die Vorlage entweder an einen Ausschuß oder an das
Generalkomitee des Hauses gelangen zu lassen. Oft wird die Stellung dieses
Antrages von den Rednern dazu benutzt, um sich noch einmal über die Prin¬
zipien zu verbreiten. Sogenannte private bills (z. B. Eisenbahnkonzessioneu,
Erlaubnis zur Anlegung von Gaswerken) gehen zuerst an einen Ausschuß und
dann an ein Komitee des ganzen Hauses, xuvlio bills, welche das Wohl und
Wehe des ganzen Landes betreffen, direkt an das 'als Komitee versammelte
Haus. Der speaker verläßt seinen Sitz, und an seinerstatt präsidire der
enairinan c>k eominittses. Die einzelnen Paragraphen der Vorlage werden nach
einander beraten und Amendements eingebracht. Sind die Beratungen beendet,
dann nimmt der speaker seinen Platz wieder ein, der edairinan stattet einen
Bericht ab, und das Haus kann von neuem debattiren und Amendements stellen.
Erst dann wird die Vorlage zum drittenmal gelesen. Noch einmal kann eine
volle Diskussion stattfinden, und selbst auf dieser Stufe kann sie durch Zusätze
verändert und wieder an einen Ausschuß verwiesen werden.

Der Gerechtigkeitssinn, die skrupulöse Gewissenhaftigkeit leuchtet auch aus
diesen Bestimmungen hervor. Wie es einer Minorität erlaubt sein soll, voll
zum Worte zu kommen, so soll es niemals zu spät sein, einen Abänderungs-
antrag einzubringen. Die Geschäftsordnung ist augenscheinlich auf Männer von
hohen Prinzipien berechnet. Da dieselben aber aus verschiedenen Gründen im
Parlamente nicht allzurcichlich vorhanden sind, erschwert und verlangsamt die
Geschäftsordnung nicht nur die Parlamentsverhandlungen, sondern begünstigt
auch nicht einmal eine gründliche praktische Gesetzgebung. Wir wollen ans
eine Obstruktion hinweisen, der durchaus keine Böswilligkeit zu Grunde liegt.
Das Haus besteht aus einer großen Anzahl älter, reicher Herren, denen ein
Parlamentssitz als ein halbes otium oum ZiMitats erscheint. Das Leben eines
gewissenhaften und thätigen Parlamentsmitgliedes ist kein rosiges. Morgens im
Ausschuß zu sitzen, nach dem Innen um 4 Uhr im Parlament zu erscheinen,
und nach einer Dinerpause gegen 7 Uhr bis in die späte Nacht zu hören, zu
sprechen und abzustimmen und am folgenden Morgen in derselben Weise fort¬
zufahren, gehört zu den ermüdendsten Daseinsformen. Wenn die Alten sie ge¬
kannt hätten, würden sie aus einem gewissenhaften Parlamentsmitgliede wahr¬
scheinlich eine Büßergcstalt gemacht haben; sie hätten einen Parlamcntssitz
als Bestrafung der Überhebung gegen menschliches und göttliches Recht betrachtet,
was sich wunderbar mit der Lehre eines anonymen Broschürenschreibcrs ver¬
trüge, der in den fünfziger Jahren die Erstrebung des Konstitutionalismus in
Preußen aus der sündigen Menschennatur herleitete. Zum Glücke für die Ge¬
sundheit des Parlamentsmitgliedes und zum Unglücke für die Gesetzgebung des
Landes findet sich die geschilderte Lebensform eines englischen Volksvertreters


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0164" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/86285"/>
          <fw type="header" place="top"> Die Reform des englische» Parlaments.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_682" prev="#ID_681"> tragt. Hat die Vorlage diese mehr formellen Stationen hinter sich, so folgt<lb/>
die zweite Lesung, welche gewöhnlich der Erörterung der Prinzipien gewidmet ist.<lb/>
Dann folgt der Antrag, die Vorlage entweder an einen Ausschuß oder an das<lb/>
Generalkomitee des Hauses gelangen zu lassen. Oft wird die Stellung dieses<lb/>
Antrages von den Rednern dazu benutzt, um sich noch einmal über die Prin¬<lb/>
zipien zu verbreiten. Sogenannte private bills (z. B. Eisenbahnkonzessioneu,<lb/>
Erlaubnis zur Anlegung von Gaswerken) gehen zuerst an einen Ausschuß und<lb/>
dann an ein Komitee des ganzen Hauses, xuvlio bills, welche das Wohl und<lb/>
Wehe des ganzen Landes betreffen, direkt an das 'als Komitee versammelte<lb/>
Haus. Der speaker verläßt seinen Sitz, und an seinerstatt präsidire der<lb/>
enairinan c&gt;k eominittses. Die einzelnen Paragraphen der Vorlage werden nach<lb/>
einander beraten und Amendements eingebracht. Sind die Beratungen beendet,<lb/>
dann nimmt der speaker seinen Platz wieder ein, der edairinan stattet einen<lb/>
Bericht ab, und das Haus kann von neuem debattiren und Amendements stellen.<lb/>
Erst dann wird die Vorlage zum drittenmal gelesen. Noch einmal kann eine<lb/>
volle Diskussion stattfinden, und selbst auf dieser Stufe kann sie durch Zusätze<lb/>
verändert und wieder an einen Ausschuß verwiesen werden.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_683" next="#ID_684"> Der Gerechtigkeitssinn, die skrupulöse Gewissenhaftigkeit leuchtet auch aus<lb/>
diesen Bestimmungen hervor. Wie es einer Minorität erlaubt sein soll, voll<lb/>
zum Worte zu kommen, so soll es niemals zu spät sein, einen Abänderungs-<lb/>
antrag einzubringen. Die Geschäftsordnung ist augenscheinlich auf Männer von<lb/>
hohen Prinzipien berechnet. Da dieselben aber aus verschiedenen Gründen im<lb/>
Parlamente nicht allzurcichlich vorhanden sind, erschwert und verlangsamt die<lb/>
Geschäftsordnung nicht nur die Parlamentsverhandlungen, sondern begünstigt<lb/>
auch nicht einmal eine gründliche praktische Gesetzgebung. Wir wollen ans<lb/>
eine Obstruktion hinweisen, der durchaus keine Böswilligkeit zu Grunde liegt.<lb/>
Das Haus besteht aus einer großen Anzahl älter, reicher Herren, denen ein<lb/>
Parlamentssitz als ein halbes otium oum ZiMitats erscheint. Das Leben eines<lb/>
gewissenhaften und thätigen Parlamentsmitgliedes ist kein rosiges. Morgens im<lb/>
Ausschuß zu sitzen, nach dem Innen um 4 Uhr im Parlament zu erscheinen,<lb/>
und nach einer Dinerpause gegen 7 Uhr bis in die späte Nacht zu hören, zu<lb/>
sprechen und abzustimmen und am folgenden Morgen in derselben Weise fort¬<lb/>
zufahren, gehört zu den ermüdendsten Daseinsformen. Wenn die Alten sie ge¬<lb/>
kannt hätten, würden sie aus einem gewissenhaften Parlamentsmitgliede wahr¬<lb/>
scheinlich eine Büßergcstalt gemacht haben; sie hätten einen Parlamcntssitz<lb/>
als Bestrafung der Überhebung gegen menschliches und göttliches Recht betrachtet,<lb/>
was sich wunderbar mit der Lehre eines anonymen Broschürenschreibcrs ver¬<lb/>
trüge, der in den fünfziger Jahren die Erstrebung des Konstitutionalismus in<lb/>
Preußen aus der sündigen Menschennatur herleitete. Zum Glücke für die Ge¬<lb/>
sundheit des Parlamentsmitgliedes und zum Unglücke für die Gesetzgebung des<lb/>
Landes findet sich die geschilderte Lebensform eines englischen Volksvertreters</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0164] Die Reform des englische» Parlaments. tragt. Hat die Vorlage diese mehr formellen Stationen hinter sich, so folgt die zweite Lesung, welche gewöhnlich der Erörterung der Prinzipien gewidmet ist. Dann folgt der Antrag, die Vorlage entweder an einen Ausschuß oder an das Generalkomitee des Hauses gelangen zu lassen. Oft wird die Stellung dieses Antrages von den Rednern dazu benutzt, um sich noch einmal über die Prin¬ zipien zu verbreiten. Sogenannte private bills (z. B. Eisenbahnkonzessioneu, Erlaubnis zur Anlegung von Gaswerken) gehen zuerst an einen Ausschuß und dann an ein Komitee des ganzen Hauses, xuvlio bills, welche das Wohl und Wehe des ganzen Landes betreffen, direkt an das 'als Komitee versammelte Haus. Der speaker verläßt seinen Sitz, und an seinerstatt präsidire der enairinan c>k eominittses. Die einzelnen Paragraphen der Vorlage werden nach einander beraten und Amendements eingebracht. Sind die Beratungen beendet, dann nimmt der speaker seinen Platz wieder ein, der edairinan stattet einen Bericht ab, und das Haus kann von neuem debattiren und Amendements stellen. Erst dann wird die Vorlage zum drittenmal gelesen. Noch einmal kann eine volle Diskussion stattfinden, und selbst auf dieser Stufe kann sie durch Zusätze verändert und wieder an einen Ausschuß verwiesen werden. Der Gerechtigkeitssinn, die skrupulöse Gewissenhaftigkeit leuchtet auch aus diesen Bestimmungen hervor. Wie es einer Minorität erlaubt sein soll, voll zum Worte zu kommen, so soll es niemals zu spät sein, einen Abänderungs- antrag einzubringen. Die Geschäftsordnung ist augenscheinlich auf Männer von hohen Prinzipien berechnet. Da dieselben aber aus verschiedenen Gründen im Parlamente nicht allzurcichlich vorhanden sind, erschwert und verlangsamt die Geschäftsordnung nicht nur die Parlamentsverhandlungen, sondern begünstigt auch nicht einmal eine gründliche praktische Gesetzgebung. Wir wollen ans eine Obstruktion hinweisen, der durchaus keine Böswilligkeit zu Grunde liegt. Das Haus besteht aus einer großen Anzahl älter, reicher Herren, denen ein Parlamentssitz als ein halbes otium oum ZiMitats erscheint. Das Leben eines gewissenhaften und thätigen Parlamentsmitgliedes ist kein rosiges. Morgens im Ausschuß zu sitzen, nach dem Innen um 4 Uhr im Parlament zu erscheinen, und nach einer Dinerpause gegen 7 Uhr bis in die späte Nacht zu hören, zu sprechen und abzustimmen und am folgenden Morgen in derselben Weise fort¬ zufahren, gehört zu den ermüdendsten Daseinsformen. Wenn die Alten sie ge¬ kannt hätten, würden sie aus einem gewissenhaften Parlamentsmitgliede wahr¬ scheinlich eine Büßergcstalt gemacht haben; sie hätten einen Parlamcntssitz als Bestrafung der Überhebung gegen menschliches und göttliches Recht betrachtet, was sich wunderbar mit der Lehre eines anonymen Broschürenschreibcrs ver¬ trüge, der in den fünfziger Jahren die Erstrebung des Konstitutionalismus in Preußen aus der sündigen Menschennatur herleitete. Zum Glücke für die Ge¬ sundheit des Parlamentsmitgliedes und zum Unglücke für die Gesetzgebung des Landes findet sich die geschilderte Lebensform eines englischen Volksvertreters

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_89804
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_89804/164
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_89804/164>, abgerufen am 17.06.2024.