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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal.

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Bakchen und Thyrsosträger,

richtete sich seine Untersuchung ans die Personen, Niemals ging ein Wort, das
vom Katheder tönte, für ihn verloren. Er war in allen Klassen der erste ge¬
wesen, und sein Maturitätsexamen war wie eine freundschaftliche Unterhaltung
inter xarss.

Doch mehr und mehr wich die Farbe von seinen Wangen, der Geist ermüdete
den Körper, die Klinge fing an die Scheide abzunutzen. Seine Seele war frei
von jeder Leidenschaft, sie war nur auf das Erkennen gerichtet, aber ein uner¬
klärliches Sehnen fing an, sie mit schmerzlicher Empfindung zu durchziehen. Es
kamen Tage, an denen er früh erwachte, wenn eben die Sonne ihre ersten Strahlen
am Himmel emporsandte, und wo ihn das Gefühl aus dem Bette zog, er habe
ein Glück zu suchen, das ihm entfliehen wolle. Dann zog er sich eilig an, wie
unter dem Antriebe einer fremden Gewalt und mit angstvoller Unruhe. Es
trieb ihn aus dem Hause hinaus ans die Straße, ohne daß er wußte, wohin er
gehen sollte. Dann stand er wohl Minuten lang vor der Thür, unschlüssig,
wohin nun, und den Morgenhimmel mit fragenden Blicken durchforschend, bis
es ihm war, als riefe es ihn dorthin, nach irgend einer Seite, und bis er in
dieser Richtung davoneilte. Dann ging er mit pochenden Schläfen und brennendem,
Kopfe immer geradeaus. Seine bleiche Farbe, seine glühenden Augen, sein zer¬
fahrenes Wesen fielen den Leuten auf den Straßen, Arbeitern und Gassenkehrern,
auf, und sie dachten, er sei ein leichter Vogel, der nach einer liederlichen Nacht
halb betrunken nach Hanse eile. So jung und schon so verdorben, sagten wohl
die Gemüseweiber, die ihre Körbe aufstellten und ihm kopfschüttelnd nachblickten.
Und einem Trunkenen glich er in der That. Sein Schritt war bald sehr eilig,
bald zögernd, er blickte bald stier vor sich hin, bald unruhig umher nach den
Häusern, als suchte er etwas. Er sah aber nichts von dem, was ihn umgab,
sondern sein Blick war in ein Land der Träume gerichtet, das nichts mit seiner
wirklichen Umgebung zu thun hatte. Er hätte nicht sagen können, welchen Wegs
er komme, noch wohin er wolle. So lief er umher, bis er müde ward und
inmitten des lebhaften Treibens der nun völlig erwachten großen Stadt gleich¬
falls erwachte. Dann schien ihm alles fahl und grau und trostlos, und er schlich
auf dem nächsten Wege nach Haufe zurück, gleichgiltig gegen alles und von dem
niederdrückenden Bewußtsein erfüllt, daß sein Leben ohne jede Aussicht, ohne jede
Hoffnung, ohne jedes Glück sei. Vergeblich bemühte er sich dann, sich selbst von
der Thorheit solcher Ideen zu überzeugen, sich klar zu machen, daß er nichts
gesucht und nichts versäumt habe. Immer wieder faßte ihn der Schmerz um
em Schönes, das er nicht gesehen.

Er versuchte, seine Bücher zu lesen, aber selbst seine Lieblingsschriftsteller
gefielen ihm nicht. Er las eine Seite herunter und entdeckte, daß er nicht wußte,
^as darauf stand. Er las wohl eine Stunde lang, immer weiter, immer weiter,
"ud mitten im Buche entdeckte er mit Schrecken, daß er noch kein einziges Wort
'n sich aufgenommen habe. Es war ihm alles, alles ohne Sinn. Oft dachte


Bakchen und Thyrsosträger,

richtete sich seine Untersuchung ans die Personen, Niemals ging ein Wort, das
vom Katheder tönte, für ihn verloren. Er war in allen Klassen der erste ge¬
wesen, und sein Maturitätsexamen war wie eine freundschaftliche Unterhaltung
inter xarss.

Doch mehr und mehr wich die Farbe von seinen Wangen, der Geist ermüdete
den Körper, die Klinge fing an die Scheide abzunutzen. Seine Seele war frei
von jeder Leidenschaft, sie war nur auf das Erkennen gerichtet, aber ein uner¬
klärliches Sehnen fing an, sie mit schmerzlicher Empfindung zu durchziehen. Es
kamen Tage, an denen er früh erwachte, wenn eben die Sonne ihre ersten Strahlen
am Himmel emporsandte, und wo ihn das Gefühl aus dem Bette zog, er habe
ein Glück zu suchen, das ihm entfliehen wolle. Dann zog er sich eilig an, wie
unter dem Antriebe einer fremden Gewalt und mit angstvoller Unruhe. Es
trieb ihn aus dem Hause hinaus ans die Straße, ohne daß er wußte, wohin er
gehen sollte. Dann stand er wohl Minuten lang vor der Thür, unschlüssig,
wohin nun, und den Morgenhimmel mit fragenden Blicken durchforschend, bis
es ihm war, als riefe es ihn dorthin, nach irgend einer Seite, und bis er in
dieser Richtung davoneilte. Dann ging er mit pochenden Schläfen und brennendem,
Kopfe immer geradeaus. Seine bleiche Farbe, seine glühenden Augen, sein zer¬
fahrenes Wesen fielen den Leuten auf den Straßen, Arbeitern und Gassenkehrern,
auf, und sie dachten, er sei ein leichter Vogel, der nach einer liederlichen Nacht
halb betrunken nach Hanse eile. So jung und schon so verdorben, sagten wohl
die Gemüseweiber, die ihre Körbe aufstellten und ihm kopfschüttelnd nachblickten.
Und einem Trunkenen glich er in der That. Sein Schritt war bald sehr eilig,
bald zögernd, er blickte bald stier vor sich hin, bald unruhig umher nach den
Häusern, als suchte er etwas. Er sah aber nichts von dem, was ihn umgab,
sondern sein Blick war in ein Land der Träume gerichtet, das nichts mit seiner
wirklichen Umgebung zu thun hatte. Er hätte nicht sagen können, welchen Wegs
er komme, noch wohin er wolle. So lief er umher, bis er müde ward und
inmitten des lebhaften Treibens der nun völlig erwachten großen Stadt gleich¬
falls erwachte. Dann schien ihm alles fahl und grau und trostlos, und er schlich
auf dem nächsten Wege nach Haufe zurück, gleichgiltig gegen alles und von dem
niederdrückenden Bewußtsein erfüllt, daß sein Leben ohne jede Aussicht, ohne jede
Hoffnung, ohne jedes Glück sei. Vergeblich bemühte er sich dann, sich selbst von
der Thorheit solcher Ideen zu überzeugen, sich klar zu machen, daß er nichts
gesucht und nichts versäumt habe. Immer wieder faßte ihn der Schmerz um
em Schönes, das er nicht gesehen.

Er versuchte, seine Bücher zu lesen, aber selbst seine Lieblingsschriftsteller
gefielen ihm nicht. Er las eine Seite herunter und entdeckte, daß er nicht wußte,
^as darauf stand. Er las wohl eine Stunde lang, immer weiter, immer weiter,
"ud mitten im Buche entdeckte er mit Schrecken, daß er noch kein einziges Wort
'n sich aufgenommen habe. Es war ihm alles, alles ohne Sinn. Oft dachte


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[0251] Bakchen und Thyrsosträger, richtete sich seine Untersuchung ans die Personen, Niemals ging ein Wort, das vom Katheder tönte, für ihn verloren. Er war in allen Klassen der erste ge¬ wesen, und sein Maturitätsexamen war wie eine freundschaftliche Unterhaltung inter xarss. Doch mehr und mehr wich die Farbe von seinen Wangen, der Geist ermüdete den Körper, die Klinge fing an die Scheide abzunutzen. Seine Seele war frei von jeder Leidenschaft, sie war nur auf das Erkennen gerichtet, aber ein uner¬ klärliches Sehnen fing an, sie mit schmerzlicher Empfindung zu durchziehen. Es kamen Tage, an denen er früh erwachte, wenn eben die Sonne ihre ersten Strahlen am Himmel emporsandte, und wo ihn das Gefühl aus dem Bette zog, er habe ein Glück zu suchen, das ihm entfliehen wolle. Dann zog er sich eilig an, wie unter dem Antriebe einer fremden Gewalt und mit angstvoller Unruhe. Es trieb ihn aus dem Hause hinaus ans die Straße, ohne daß er wußte, wohin er gehen sollte. Dann stand er wohl Minuten lang vor der Thür, unschlüssig, wohin nun, und den Morgenhimmel mit fragenden Blicken durchforschend, bis es ihm war, als riefe es ihn dorthin, nach irgend einer Seite, und bis er in dieser Richtung davoneilte. Dann ging er mit pochenden Schläfen und brennendem, Kopfe immer geradeaus. Seine bleiche Farbe, seine glühenden Augen, sein zer¬ fahrenes Wesen fielen den Leuten auf den Straßen, Arbeitern und Gassenkehrern, auf, und sie dachten, er sei ein leichter Vogel, der nach einer liederlichen Nacht halb betrunken nach Hanse eile. So jung und schon so verdorben, sagten wohl die Gemüseweiber, die ihre Körbe aufstellten und ihm kopfschüttelnd nachblickten. Und einem Trunkenen glich er in der That. Sein Schritt war bald sehr eilig, bald zögernd, er blickte bald stier vor sich hin, bald unruhig umher nach den Häusern, als suchte er etwas. Er sah aber nichts von dem, was ihn umgab, sondern sein Blick war in ein Land der Träume gerichtet, das nichts mit seiner wirklichen Umgebung zu thun hatte. Er hätte nicht sagen können, welchen Wegs er komme, noch wohin er wolle. So lief er umher, bis er müde ward und inmitten des lebhaften Treibens der nun völlig erwachten großen Stadt gleich¬ falls erwachte. Dann schien ihm alles fahl und grau und trostlos, und er schlich auf dem nächsten Wege nach Haufe zurück, gleichgiltig gegen alles und von dem niederdrückenden Bewußtsein erfüllt, daß sein Leben ohne jede Aussicht, ohne jede Hoffnung, ohne jedes Glück sei. Vergeblich bemühte er sich dann, sich selbst von der Thorheit solcher Ideen zu überzeugen, sich klar zu machen, daß er nichts gesucht und nichts versäumt habe. Immer wieder faßte ihn der Schmerz um em Schönes, das er nicht gesehen. Er versuchte, seine Bücher zu lesen, aber selbst seine Lieblingsschriftsteller gefielen ihm nicht. Er las eine Seite herunter und entdeckte, daß er nicht wußte, ^as darauf stand. Er las wohl eine Stunde lang, immer weiter, immer weiter, "ud mitten im Buche entdeckte er mit Schrecken, daß er noch kein einziges Wort 'n sich aufgenommen habe. Es war ihm alles, alles ohne Sinn. Oft dachte

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_89804/251>, abgerufen am 17.06.2024.