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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal.

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Bakchen und Thyrsosträger.

äußerer Umstände, welche die menschliche Denkfähigkeit in exceptioneller Weise
beeinflußt haben. Schon von der Stunde seiner Geburt an, sobald es an das
Licht tritt, ist das Kind den mannichfaltigsten Eindrücke!? der Außenwelt aus^
gesetzt. Ein Meer von Schwingungen des Lichtes, des Schalls, von Gerüchen,
von Berührungen, umgiebt seine noch ganz frischen und empfänglichen Sinne,
Wir können uns keine deutliche Vorstellung von dem Einfluß und der Gewalt
dieser Eindrücke machen, da wir selbst längst abgehärtet sind, und da wir am
Kerbe ja ihre Wirkung mit den bisherigen Hilfsmitteln der Wissenschaft nur
wenig beobachten können. Aber wir müssen uns doch bei reiflicher Reflexion
gestehen, daß es so ist. Ohne daß das Kind es merkt, während es ruhig schläft,
während es trinkt, während seine noch ausdruckslosen Augen in die Welt hinein-
starren, wirkt die Welt ans seine Sinne mit einer unberechenbaren Gewalt, Wer
könnte ermessen, in welcher Weise diese wundervolle Entwicklung innerer und
äußerer Naturkräfte vor sich geht? Vielleicht ist es gerade dieser Sonnenstrahl,
der, durch einen Krystall gebrochen, oder auf einen, goldenen Gefäß zitternd,
dnrch das Ange des Säuglings in sein Gehirn trifft "ut dort ein Organ anregt,
das, sich nun weiter entfaltend, einen Rafael ans dem Kinde macht. Vielleicht
ist es gerade diese Melodie, die, aus der Ferne vom Klavier der Mutter her
tönend, einen Beethoven oder Mozart bildet, indem sie das der Kunst der Töne
gewidmete Organ im Gehirn zur Entfaltung bringt, Das ist alles so fein, so
unberechenbar und entzieht sich bis jetzt noch so vollständig unsrer exakten wisse"
schaftlichen Beobachtung, das; wir keine speziellen Regeln darüber ausstellen können,
aber gewiß ist, daß überhaupt auf diesem Wege, durch die ersten kindlichen Eim
drücke, der Charakter sich bildet, und daß deshalb der allerhöchste Wert darauf
gelegt werden muß, dem Kinde vom ersten Tage seines Lebens an nnr gute und
veredelnde Eindrücke zukomme" zu lassen und alles Häßliche, Widrige, sowie
Ausbrüche der Leidenschaft bei den umgebenden erwachsenen Personen ihm fern
zu halten. Und ist nicht das auch eine Erziehung? Ist es nicht gerade der
allerwichtigste Teil derselben? Ja ich behaupte: die Erziehung des Kindes in
seinen ersten Tagen, Wochen, Monaten und Jahren ist noch einflußreicher als
die Erziehung von der schulpflichtigen Zeit an, weil sich der eigentliche Charakter
des Kindes schon in dieser ersten Zeit bildet,

Ich sollte fast meinen, wenn ich Sie so reden und Organe im Gehirn er-
wähnen höre, Sie wären ein verkappter Phrenologe, sagte or, Stahlhardt,

Durchaus uicht! Ich nehme natürlich Organe jeder Fähigkeit an; doch hat
das nichts mit der Phrenologie zu schaffen,

Merkwürdig! sagte der Alte, Nun denn, wenn ich Sie recht verstanden
habe, so sind es also die cinßern Eindrücke, die den Charakter bilden. Günstige
Umstände lassen dabei ein Genie entstehen, weniger günstige einen nMelmäßigen
Mann, ungünstige einen schlechten Mann, Und dnrch die Sinne teilt sich Ihrer
Meinung nach alles mit, was- den Menschen bildet.


Bakchen und Thyrsosträger.

äußerer Umstände, welche die menschliche Denkfähigkeit in exceptioneller Weise
beeinflußt haben. Schon von der Stunde seiner Geburt an, sobald es an das
Licht tritt, ist das Kind den mannichfaltigsten Eindrücke!? der Außenwelt aus^
gesetzt. Ein Meer von Schwingungen des Lichtes, des Schalls, von Gerüchen,
von Berührungen, umgiebt seine noch ganz frischen und empfänglichen Sinne,
Wir können uns keine deutliche Vorstellung von dem Einfluß und der Gewalt
dieser Eindrücke machen, da wir selbst längst abgehärtet sind, und da wir am
Kerbe ja ihre Wirkung mit den bisherigen Hilfsmitteln der Wissenschaft nur
wenig beobachten können. Aber wir müssen uns doch bei reiflicher Reflexion
gestehen, daß es so ist. Ohne daß das Kind es merkt, während es ruhig schläft,
während es trinkt, während seine noch ausdruckslosen Augen in die Welt hinein-
starren, wirkt die Welt ans seine Sinne mit einer unberechenbaren Gewalt, Wer
könnte ermessen, in welcher Weise diese wundervolle Entwicklung innerer und
äußerer Naturkräfte vor sich geht? Vielleicht ist es gerade dieser Sonnenstrahl,
der, durch einen Krystall gebrochen, oder auf einen, goldenen Gefäß zitternd,
dnrch das Ange des Säuglings in sein Gehirn trifft »ut dort ein Organ anregt,
das, sich nun weiter entfaltend, einen Rafael ans dem Kinde macht. Vielleicht
ist es gerade diese Melodie, die, aus der Ferne vom Klavier der Mutter her
tönend, einen Beethoven oder Mozart bildet, indem sie das der Kunst der Töne
gewidmete Organ im Gehirn zur Entfaltung bringt, Das ist alles so fein, so
unberechenbar und entzieht sich bis jetzt noch so vollständig unsrer exakten wisse»
schaftlichen Beobachtung, das; wir keine speziellen Regeln darüber ausstellen können,
aber gewiß ist, daß überhaupt auf diesem Wege, durch die ersten kindlichen Eim
drücke, der Charakter sich bildet, und daß deshalb der allerhöchste Wert darauf
gelegt werden muß, dem Kinde vom ersten Tage seines Lebens an nnr gute und
veredelnde Eindrücke zukomme» zu lassen und alles Häßliche, Widrige, sowie
Ausbrüche der Leidenschaft bei den umgebenden erwachsenen Personen ihm fern
zu halten. Und ist nicht das auch eine Erziehung? Ist es nicht gerade der
allerwichtigste Teil derselben? Ja ich behaupte: die Erziehung des Kindes in
seinen ersten Tagen, Wochen, Monaten und Jahren ist noch einflußreicher als
die Erziehung von der schulpflichtigen Zeit an, weil sich der eigentliche Charakter
des Kindes schon in dieser ersten Zeit bildet,

Ich sollte fast meinen, wenn ich Sie so reden und Organe im Gehirn er-
wähnen höre, Sie wären ein verkappter Phrenologe, sagte or, Stahlhardt,

Durchaus uicht! Ich nehme natürlich Organe jeder Fähigkeit an; doch hat
das nichts mit der Phrenologie zu schaffen,

Merkwürdig! sagte der Alte, Nun denn, wenn ich Sie recht verstanden
habe, so sind es also die cinßern Eindrücke, die den Charakter bilden. Günstige
Umstände lassen dabei ein Genie entstehen, weniger günstige einen nMelmäßigen
Mann, ungünstige einen schlechten Mann, Und dnrch die Sinne teilt sich Ihrer
Meinung nach alles mit, was- den Menschen bildet.


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[0674] Bakchen und Thyrsosträger. äußerer Umstände, welche die menschliche Denkfähigkeit in exceptioneller Weise beeinflußt haben. Schon von der Stunde seiner Geburt an, sobald es an das Licht tritt, ist das Kind den mannichfaltigsten Eindrücke!? der Außenwelt aus^ gesetzt. Ein Meer von Schwingungen des Lichtes, des Schalls, von Gerüchen, von Berührungen, umgiebt seine noch ganz frischen und empfänglichen Sinne, Wir können uns keine deutliche Vorstellung von dem Einfluß und der Gewalt dieser Eindrücke machen, da wir selbst längst abgehärtet sind, und da wir am Kerbe ja ihre Wirkung mit den bisherigen Hilfsmitteln der Wissenschaft nur wenig beobachten können. Aber wir müssen uns doch bei reiflicher Reflexion gestehen, daß es so ist. Ohne daß das Kind es merkt, während es ruhig schläft, während es trinkt, während seine noch ausdruckslosen Augen in die Welt hinein- starren, wirkt die Welt ans seine Sinne mit einer unberechenbaren Gewalt, Wer könnte ermessen, in welcher Weise diese wundervolle Entwicklung innerer und äußerer Naturkräfte vor sich geht? Vielleicht ist es gerade dieser Sonnenstrahl, der, durch einen Krystall gebrochen, oder auf einen, goldenen Gefäß zitternd, dnrch das Ange des Säuglings in sein Gehirn trifft »ut dort ein Organ anregt, das, sich nun weiter entfaltend, einen Rafael ans dem Kinde macht. Vielleicht ist es gerade diese Melodie, die, aus der Ferne vom Klavier der Mutter her tönend, einen Beethoven oder Mozart bildet, indem sie das der Kunst der Töne gewidmete Organ im Gehirn zur Entfaltung bringt, Das ist alles so fein, so unberechenbar und entzieht sich bis jetzt noch so vollständig unsrer exakten wisse» schaftlichen Beobachtung, das; wir keine speziellen Regeln darüber ausstellen können, aber gewiß ist, daß überhaupt auf diesem Wege, durch die ersten kindlichen Eim drücke, der Charakter sich bildet, und daß deshalb der allerhöchste Wert darauf gelegt werden muß, dem Kinde vom ersten Tage seines Lebens an nnr gute und veredelnde Eindrücke zukomme» zu lassen und alles Häßliche, Widrige, sowie Ausbrüche der Leidenschaft bei den umgebenden erwachsenen Personen ihm fern zu halten. Und ist nicht das auch eine Erziehung? Ist es nicht gerade der allerwichtigste Teil derselben? Ja ich behaupte: die Erziehung des Kindes in seinen ersten Tagen, Wochen, Monaten und Jahren ist noch einflußreicher als die Erziehung von der schulpflichtigen Zeit an, weil sich der eigentliche Charakter des Kindes schon in dieser ersten Zeit bildet, Ich sollte fast meinen, wenn ich Sie so reden und Organe im Gehirn er- wähnen höre, Sie wären ein verkappter Phrenologe, sagte or, Stahlhardt, Durchaus uicht! Ich nehme natürlich Organe jeder Fähigkeit an; doch hat das nichts mit der Phrenologie zu schaffen, Merkwürdig! sagte der Alte, Nun denn, wenn ich Sie recht verstanden habe, so sind es also die cinßern Eindrücke, die den Charakter bilden. Günstige Umstände lassen dabei ein Genie entstehen, weniger günstige einen nMelmäßigen Mann, ungünstige einen schlechten Mann, Und dnrch die Sinne teilt sich Ihrer Meinung nach alles mit, was- den Menschen bildet.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_89804/674>, abgerufen am 17.06.2024.