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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal.

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Bakchen und Thyrsosträger,

Natürlich, sagte der Anthropologe. Wodurch wollen Sie denn, daß der
Mensch in sich aufnimmt, wenn nicht durch die Sinne?

Das Auge ist der schärfste unsrer Sinne, doch wird die Weisheit nicht
damit erblickt, sagte Dr, Stählhard lächelnd.

Was meinen Sie denn, mein wvhlweiser Herr? fragte der Professor.
Woher hat denn Ihrer überlegenen Meinung nach der Mensch jene Eigen¬
schaften, die ihn zu einem zivilisirten Staatsbürger oder gar zu einem Genie
macheu? Fliegen sie ihm etwa an, im Augenblick, wo er geboren wird, oder bei
welcher Gelegenheit fallen sie vom Himmel auf ihn herunter?

Ja, mein Verehrtester, sagte or. Stählhardt, das ist eine schwere Frage.
Sie reden doch von jenen schönen Eigenschaften Frömmigkeit, Gerechtigkeit,
Tapferkeit, Sittlichkeit, die wir allesammt mit dem einzigen Worte Tugend zu¬
sammenfassen können, und die meiner Meinung nach das Genie nur in höherem
Maße, nicht aber in andrer Weise besitzt als andre Menschen. Woher nnn die
Tugend dem Meuschen kommt, wenn ich das sage" konnte, da wäre ich aller¬
dings ein wvhlweiser Maun. Ich muß gestehen, das; ich es nicht weiß, kann
aber auch beteuern, daß es mir nie eingefallen ist, zu behaupten, ich wüßte es.
Ich beschränke mich ganz darauf zu sagen, was jeder Unwissende sagen kann,
nämlich, daß es die Gnade Gottes ist, die dem Menschen Tugend verleiht, und
daß Gott sie giebt, wem er will, nach seinem unerforschlichen Ratschluß. Doch
hat er wohl mit diesem seinem köstlichen Geschenk zu keiner Zeit gegen seine
Menschen zurückgehalten, sondern es seinen Lieblingen unter den alten Völker",
ja auch unter den uralten Stämmen mit derselben Gnade verliehen wie jetzt.
Wenigstens lehrt auch die historische Erfahrung sowohl wie der Dcnlschluß, daß
menschliche Tugend immer dieselbe gewesen ist und zu keiner Zeit und unter
keinen Verhältnissen etwas andres gewesen ist als Liebe zu Gott und den Mit¬
menschen. Freilich ist es auch wohl von Anfang an so gewesen wie jetzt, daß
nämlich, wie Sokrates sagt, der Thhrsvsträger zwar viele sind, der Bakchen aber
nur wenige, oder, wie Christus sagt, viele berufen sind, wenige aber nur aus¬
erwählt.

So wäre denn alles, was Mensche" je gelernt und gelehrt haben, um¬
sonst? So wäre alle Wissenschaft und Kultur ohne Wert? So gäbe es keinen
Fortschritt und wir thäten besser, nichts zu lernen, dn ja doch das Gute be¬
liebig von oben herunterfällt? Ohne Wahl verteilt die Gaben, ohne Billigkeit
das Glück? fragte der Professor.

Sollte es nicht klüger sein, ehe wir den Mund so voll nehmen, zu unter
suchen, worin denn eigentlich das Lernen besteht? fragte jener dagegen. Ich
glaube, wenn wir erst das eingesehen haben, werden wir auch sehen, was wir
lernen können.

Nun gut, sagte der Professor, so lassen Sie uns hören, was Sie unter
Lernen verstehen.


Bakchen und Thyrsosträger,

Natürlich, sagte der Anthropologe. Wodurch wollen Sie denn, daß der
Mensch in sich aufnimmt, wenn nicht durch die Sinne?

Das Auge ist der schärfste unsrer Sinne, doch wird die Weisheit nicht
damit erblickt, sagte Dr, Stählhard lächelnd.

Was meinen Sie denn, mein wvhlweiser Herr? fragte der Professor.
Woher hat denn Ihrer überlegenen Meinung nach der Mensch jene Eigen¬
schaften, die ihn zu einem zivilisirten Staatsbürger oder gar zu einem Genie
macheu? Fliegen sie ihm etwa an, im Augenblick, wo er geboren wird, oder bei
welcher Gelegenheit fallen sie vom Himmel auf ihn herunter?

Ja, mein Verehrtester, sagte or. Stählhardt, das ist eine schwere Frage.
Sie reden doch von jenen schönen Eigenschaften Frömmigkeit, Gerechtigkeit,
Tapferkeit, Sittlichkeit, die wir allesammt mit dem einzigen Worte Tugend zu¬
sammenfassen können, und die meiner Meinung nach das Genie nur in höherem
Maße, nicht aber in andrer Weise besitzt als andre Menschen. Woher nnn die
Tugend dem Meuschen kommt, wenn ich das sage« konnte, da wäre ich aller¬
dings ein wvhlweiser Maun. Ich muß gestehen, das; ich es nicht weiß, kann
aber auch beteuern, daß es mir nie eingefallen ist, zu behaupten, ich wüßte es.
Ich beschränke mich ganz darauf zu sagen, was jeder Unwissende sagen kann,
nämlich, daß es die Gnade Gottes ist, die dem Menschen Tugend verleiht, und
daß Gott sie giebt, wem er will, nach seinem unerforschlichen Ratschluß. Doch
hat er wohl mit diesem seinem köstlichen Geschenk zu keiner Zeit gegen seine
Menschen zurückgehalten, sondern es seinen Lieblingen unter den alten Völker»,
ja auch unter den uralten Stämmen mit derselben Gnade verliehen wie jetzt.
Wenigstens lehrt auch die historische Erfahrung sowohl wie der Dcnlschluß, daß
menschliche Tugend immer dieselbe gewesen ist und zu keiner Zeit und unter
keinen Verhältnissen etwas andres gewesen ist als Liebe zu Gott und den Mit¬
menschen. Freilich ist es auch wohl von Anfang an so gewesen wie jetzt, daß
nämlich, wie Sokrates sagt, der Thhrsvsträger zwar viele sind, der Bakchen aber
nur wenige, oder, wie Christus sagt, viele berufen sind, wenige aber nur aus¬
erwählt.

So wäre denn alles, was Mensche» je gelernt und gelehrt haben, um¬
sonst? So wäre alle Wissenschaft und Kultur ohne Wert? So gäbe es keinen
Fortschritt und wir thäten besser, nichts zu lernen, dn ja doch das Gute be¬
liebig von oben herunterfällt? Ohne Wahl verteilt die Gaben, ohne Billigkeit
das Glück? fragte der Professor.

Sollte es nicht klüger sein, ehe wir den Mund so voll nehmen, zu unter
suchen, worin denn eigentlich das Lernen besteht? fragte jener dagegen. Ich
glaube, wenn wir erst das eingesehen haben, werden wir auch sehen, was wir
lernen können.

Nun gut, sagte der Professor, so lassen Sie uns hören, was Sie unter
Lernen verstehen.


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[0675] Bakchen und Thyrsosträger, Natürlich, sagte der Anthropologe. Wodurch wollen Sie denn, daß der Mensch in sich aufnimmt, wenn nicht durch die Sinne? Das Auge ist der schärfste unsrer Sinne, doch wird die Weisheit nicht damit erblickt, sagte Dr, Stählhard lächelnd. Was meinen Sie denn, mein wvhlweiser Herr? fragte der Professor. Woher hat denn Ihrer überlegenen Meinung nach der Mensch jene Eigen¬ schaften, die ihn zu einem zivilisirten Staatsbürger oder gar zu einem Genie macheu? Fliegen sie ihm etwa an, im Augenblick, wo er geboren wird, oder bei welcher Gelegenheit fallen sie vom Himmel auf ihn herunter? Ja, mein Verehrtester, sagte or. Stählhardt, das ist eine schwere Frage. Sie reden doch von jenen schönen Eigenschaften Frömmigkeit, Gerechtigkeit, Tapferkeit, Sittlichkeit, die wir allesammt mit dem einzigen Worte Tugend zu¬ sammenfassen können, und die meiner Meinung nach das Genie nur in höherem Maße, nicht aber in andrer Weise besitzt als andre Menschen. Woher nnn die Tugend dem Meuschen kommt, wenn ich das sage« konnte, da wäre ich aller¬ dings ein wvhlweiser Maun. Ich muß gestehen, das; ich es nicht weiß, kann aber auch beteuern, daß es mir nie eingefallen ist, zu behaupten, ich wüßte es. Ich beschränke mich ganz darauf zu sagen, was jeder Unwissende sagen kann, nämlich, daß es die Gnade Gottes ist, die dem Menschen Tugend verleiht, und daß Gott sie giebt, wem er will, nach seinem unerforschlichen Ratschluß. Doch hat er wohl mit diesem seinem köstlichen Geschenk zu keiner Zeit gegen seine Menschen zurückgehalten, sondern es seinen Lieblingen unter den alten Völker», ja auch unter den uralten Stämmen mit derselben Gnade verliehen wie jetzt. Wenigstens lehrt auch die historische Erfahrung sowohl wie der Dcnlschluß, daß menschliche Tugend immer dieselbe gewesen ist und zu keiner Zeit und unter keinen Verhältnissen etwas andres gewesen ist als Liebe zu Gott und den Mit¬ menschen. Freilich ist es auch wohl von Anfang an so gewesen wie jetzt, daß nämlich, wie Sokrates sagt, der Thhrsvsträger zwar viele sind, der Bakchen aber nur wenige, oder, wie Christus sagt, viele berufen sind, wenige aber nur aus¬ erwählt. So wäre denn alles, was Mensche» je gelernt und gelehrt haben, um¬ sonst? So wäre alle Wissenschaft und Kultur ohne Wert? So gäbe es keinen Fortschritt und wir thäten besser, nichts zu lernen, dn ja doch das Gute be¬ liebig von oben herunterfällt? Ohne Wahl verteilt die Gaben, ohne Billigkeit das Glück? fragte der Professor. Sollte es nicht klüger sein, ehe wir den Mund so voll nehmen, zu unter suchen, worin denn eigentlich das Lernen besteht? fragte jener dagegen. Ich glaube, wenn wir erst das eingesehen haben, werden wir auch sehen, was wir lernen können. Nun gut, sagte der Professor, so lassen Sie uns hören, was Sie unter Lernen verstehen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_89804/675>, abgerufen am 17.06.2024.