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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal.

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Gegen das Landstreichertum.

geglaubt habe", empfehlen andre Arbeits- und Heimatsstätten mit liebevollen Haus¬
vätern, mit warmen Suppen und reinigenden Bädern, Beide Parteien scheinen uns
die Sache am unrechten Ende anzufassen. Zur Beseitigung dieses gesellschaftlichen
Übels dient nicht allein die Bekämpfung des schon bestehenden Landstreichertums,
sondern vor allem die Verhütung seines Entstehens und seiner Vermehrung.
Um ein Unkraut mit Erfolg auszurotten, muß man seine Wurzel aufsuchen und
vertilgen, mit ihr fällt auch das von ihr ausgehende Unkraut,

Die Hauptursache des wuchernden Landstreichertums ist in den seit etwa
fünfzehn oder zwanzig Jahren unsicher gewordnen Erwcrbsverhältnissen zu suchen,
welche nicht allein die Arbeiter im engern Sinne betroffen, sondern auch alle
diejenigen Klassen der Bevölkerung in Mitleidenschaft gezogen haben, deren
Einnahmen nur der Lohn für körperliche oder geistige Leistungen sind, ohne
dnrch regelmäßige Gehaltsbezüge oder gut fundirte Renten gesichert zu sein.

Von den Arbeitern im engern Sinne sind nicht am wenigsten die land¬
wirtschaftlichen durch diese Unsicherheit des Erwerbes betroffen worden, sie sind
von der heimatlichen Scholle vertrieben und gezwungen worden, zigeunerartig
einem ungewissen Verdienst in der Ferne und Fremde nachzugehen. Durch die
Entwertung des Geldes in den letzten Jahrzehnten sind die Preise des Grund¬
besitzes in ganz ungeheuern, zu ihren Erträgen in keinem Verhältnisse stehenden
Progressionen gestiegen, und sowohl der hohe Preis der Güter als auch der
Wunsch, das in dem fluktuirenden industriellen und kaufmännischen Erwerb oder
durch Börsengewinn schnell erhaschte Vermögen in dem stabil erscheinenden
Grundbesitz sicher anzulegen, hat einen schnellen Wechsel im Besitzerstande unsrer
Güter veranlaßt. Teilweise kamen dieselben in Hände von Besitzern, welche
trotz ihrer guten Absichten für ihren neuen Beruf nicht die blasse Ahnung von
der Landwirtschaft hatten, teilweise wurden sie für junge Herren erworben,
welche wohl die Annehmlichkeiten des Landlebens zu genießen verstanden, aber
für die schweren Ausgaben, die dieser Beruf in sich schließt, wenn er für sie,
für ihre Leute und für das Allgemeine von Vorteil sein soll, kein Verständnis
hatten. Diese Herren überzeugten sich bald, daß der Ertrag ihrer Liegenschaften
weit hinter der erhofften, dem Anlagekapital entsprechenden Verzinsung blieb.
Aber auch viele der alten, in ihrem Besitze verbliebenen Landwirte sind nicht
imstande gewesen, sich gegen den Zeitgeist zu stemmen, sondern haben sich dem
Tanze um das goldne Kalb angeschlossen, haben teils sich am "Gründen"


VÄMdonäaAg bezeichnet wird, beim rechten deutschen Namen nennen. Ende des 17, und Anfang
des 18. Jahrhunderts gab es in Deutschland "Zeituugslexika"; man druckte sie bisweilen
gleich an die Adreßbücher uno Kalender an. Unsre heutigen Verleger zerbrechen sich oft den
Kopf darüber, was sie drucken sollen. Nun, mit einem Zeitungslexikon wäre gewiß heute
ein gutes Geschäft zu machen. Der gewöhnliche Bürgersmann versteht ja infolge der greu¬
lichen Frcmdwörterei kaum noch das dritte Wort in seiner Zeitung. sWäre das wirklich ein
D. Red.) so großes Unglück?
Gegen das Landstreichertum.

geglaubt habe», empfehlen andre Arbeits- und Heimatsstätten mit liebevollen Haus¬
vätern, mit warmen Suppen und reinigenden Bädern, Beide Parteien scheinen uns
die Sache am unrechten Ende anzufassen. Zur Beseitigung dieses gesellschaftlichen
Übels dient nicht allein die Bekämpfung des schon bestehenden Landstreichertums,
sondern vor allem die Verhütung seines Entstehens und seiner Vermehrung.
Um ein Unkraut mit Erfolg auszurotten, muß man seine Wurzel aufsuchen und
vertilgen, mit ihr fällt auch das von ihr ausgehende Unkraut,

Die Hauptursache des wuchernden Landstreichertums ist in den seit etwa
fünfzehn oder zwanzig Jahren unsicher gewordnen Erwcrbsverhältnissen zu suchen,
welche nicht allein die Arbeiter im engern Sinne betroffen, sondern auch alle
diejenigen Klassen der Bevölkerung in Mitleidenschaft gezogen haben, deren
Einnahmen nur der Lohn für körperliche oder geistige Leistungen sind, ohne
dnrch regelmäßige Gehaltsbezüge oder gut fundirte Renten gesichert zu sein.

Von den Arbeitern im engern Sinne sind nicht am wenigsten die land¬
wirtschaftlichen durch diese Unsicherheit des Erwerbes betroffen worden, sie sind
von der heimatlichen Scholle vertrieben und gezwungen worden, zigeunerartig
einem ungewissen Verdienst in der Ferne und Fremde nachzugehen. Durch die
Entwertung des Geldes in den letzten Jahrzehnten sind die Preise des Grund¬
besitzes in ganz ungeheuern, zu ihren Erträgen in keinem Verhältnisse stehenden
Progressionen gestiegen, und sowohl der hohe Preis der Güter als auch der
Wunsch, das in dem fluktuirenden industriellen und kaufmännischen Erwerb oder
durch Börsengewinn schnell erhaschte Vermögen in dem stabil erscheinenden
Grundbesitz sicher anzulegen, hat einen schnellen Wechsel im Besitzerstande unsrer
Güter veranlaßt. Teilweise kamen dieselben in Hände von Besitzern, welche
trotz ihrer guten Absichten für ihren neuen Beruf nicht die blasse Ahnung von
der Landwirtschaft hatten, teilweise wurden sie für junge Herren erworben,
welche wohl die Annehmlichkeiten des Landlebens zu genießen verstanden, aber
für die schweren Ausgaben, die dieser Beruf in sich schließt, wenn er für sie,
für ihre Leute und für das Allgemeine von Vorteil sein soll, kein Verständnis
hatten. Diese Herren überzeugten sich bald, daß der Ertrag ihrer Liegenschaften
weit hinter der erhofften, dem Anlagekapital entsprechenden Verzinsung blieb.
Aber auch viele der alten, in ihrem Besitze verbliebenen Landwirte sind nicht
imstande gewesen, sich gegen den Zeitgeist zu stemmen, sondern haben sich dem
Tanze um das goldne Kalb angeschlossen, haben teils sich am „Gründen"


VÄMdonäaAg bezeichnet wird, beim rechten deutschen Namen nennen. Ende des 17, und Anfang
des 18. Jahrhunderts gab es in Deutschland „Zeituugslexika"; man druckte sie bisweilen
gleich an die Adreßbücher uno Kalender an. Unsre heutigen Verleger zerbrechen sich oft den
Kopf darüber, was sie drucken sollen. Nun, mit einem Zeitungslexikon wäre gewiß heute
ein gutes Geschäft zu machen. Der gewöhnliche Bürgersmann versteht ja infolge der greu¬
lichen Frcmdwörterei kaum noch das dritte Wort in seiner Zeitung. sWäre das wirklich ein
D. Red.) so großes Unglück?
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[0422] Gegen das Landstreichertum. geglaubt habe», empfehlen andre Arbeits- und Heimatsstätten mit liebevollen Haus¬ vätern, mit warmen Suppen und reinigenden Bädern, Beide Parteien scheinen uns die Sache am unrechten Ende anzufassen. Zur Beseitigung dieses gesellschaftlichen Übels dient nicht allein die Bekämpfung des schon bestehenden Landstreichertums, sondern vor allem die Verhütung seines Entstehens und seiner Vermehrung. Um ein Unkraut mit Erfolg auszurotten, muß man seine Wurzel aufsuchen und vertilgen, mit ihr fällt auch das von ihr ausgehende Unkraut, Die Hauptursache des wuchernden Landstreichertums ist in den seit etwa fünfzehn oder zwanzig Jahren unsicher gewordnen Erwcrbsverhältnissen zu suchen, welche nicht allein die Arbeiter im engern Sinne betroffen, sondern auch alle diejenigen Klassen der Bevölkerung in Mitleidenschaft gezogen haben, deren Einnahmen nur der Lohn für körperliche oder geistige Leistungen sind, ohne dnrch regelmäßige Gehaltsbezüge oder gut fundirte Renten gesichert zu sein. Von den Arbeitern im engern Sinne sind nicht am wenigsten die land¬ wirtschaftlichen durch diese Unsicherheit des Erwerbes betroffen worden, sie sind von der heimatlichen Scholle vertrieben und gezwungen worden, zigeunerartig einem ungewissen Verdienst in der Ferne und Fremde nachzugehen. Durch die Entwertung des Geldes in den letzten Jahrzehnten sind die Preise des Grund¬ besitzes in ganz ungeheuern, zu ihren Erträgen in keinem Verhältnisse stehenden Progressionen gestiegen, und sowohl der hohe Preis der Güter als auch der Wunsch, das in dem fluktuirenden industriellen und kaufmännischen Erwerb oder durch Börsengewinn schnell erhaschte Vermögen in dem stabil erscheinenden Grundbesitz sicher anzulegen, hat einen schnellen Wechsel im Besitzerstande unsrer Güter veranlaßt. Teilweise kamen dieselben in Hände von Besitzern, welche trotz ihrer guten Absichten für ihren neuen Beruf nicht die blasse Ahnung von der Landwirtschaft hatten, teilweise wurden sie für junge Herren erworben, welche wohl die Annehmlichkeiten des Landlebens zu genießen verstanden, aber für die schweren Ausgaben, die dieser Beruf in sich schließt, wenn er für sie, für ihre Leute und für das Allgemeine von Vorteil sein soll, kein Verständnis hatten. Diese Herren überzeugten sich bald, daß der Ertrag ihrer Liegenschaften weit hinter der erhofften, dem Anlagekapital entsprechenden Verzinsung blieb. Aber auch viele der alten, in ihrem Besitze verbliebenen Landwirte sind nicht imstande gewesen, sich gegen den Zeitgeist zu stemmen, sondern haben sich dem Tanze um das goldne Kalb angeschlossen, haben teils sich am „Gründen" VÄMdonäaAg bezeichnet wird, beim rechten deutschen Namen nennen. Ende des 17, und Anfang des 18. Jahrhunderts gab es in Deutschland „Zeituugslexika"; man druckte sie bisweilen gleich an die Adreßbücher uno Kalender an. Unsre heutigen Verleger zerbrechen sich oft den Kopf darüber, was sie drucken sollen. Nun, mit einem Zeitungslexikon wäre gewiß heute ein gutes Geschäft zu machen. Der gewöhnliche Bürgersmann versteht ja infolge der greu¬ lichen Frcmdwörterei kaum noch das dritte Wort in seiner Zeitung. sWäre das wirklich ein D. Red.) so großes Unglück?

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_151310/422>, abgerufen am 26.05.2024.