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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Zweites Quartal.

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Pompejanische Spaziergänge.

finder sind, und sodann die Frage, ob sich hinsichtlich ihrer Zugehörigkeit zu
einer bestimmten Schule etwas ausmachen läßt.*)

Von diesen beiden Büchern gewährt natürlich die Lektüre des zweiten den
größern Genuß; aber das erste, obschon anscheinend trockner, ist vielleicht noch
nützlicher. Selbst getrennt von dein andern Werke, welches ihm als Kommentar
dient, enthält dieser Katalog eine Fülle von Belehrung. Mir scheint, wir können
irgend eine bestimmte Zeit nicht bloß nach den Büchern beurteilen, welche sie
gern liest, sondern auch nach den Gemälden, welche sie mit Vorliebe betrachtet;
auch sie geben einen Fingerzeig, der uns bezüglich ihres Charakters und ihrer
Geschmacksrichtung kaum jemals täuschen wird. Wenden wir diese Regel auf
Helbigs Katalog an. Auf 1968 Wandgemälde, die er geordnet und beschrieben
hat, kommen etwas über 1400, nahezu drei Viertel, die sich irgendwie auf die
Mythologie beziehen, d. h. die Abenteuer der Götter oder die Sagen der Heroen¬
zeit darstellen. Diese Ziffer bezeichnet den Platz, welchen im ersten Jahrhundert
die religiösen Erinnerungen der Vergangenheit im Leben aller einnahmen. Selbst
die Ungläubigen und Gleichgiltigen fühlten die Macht dieser Erinnerungen; wenn
das Gewissen der Menschen sich ihnen entzog, so übten sie doch noch ihre Herr¬
schaft über die Phantasie. Häufig kann man bei dem Studium der Kunst oder
der Literatur dieser Zeit diese Beobachtung machen, aber nirgends sonst drängt
sie sich uns so sichtbar auf wie in Pompeji. Es ist wichtig, dies zu betonen,
wenn wir uns erinnern, daß gerade zu der Zeit, da die Künstler die campanischen
Städte mit diesen Bildern von Göttern und Heroen verschwenderisch ausschmückten,
das Christentum anfing, sich im römischen Reiche zu verbreiten. Eben war der
Apostel Paulus auf seiner Reise von Puteoli nach Rom dicht bei diesen Ge¬
staden vorübergekommen, und manche Gründe sprechen dafür, daß die kokette und
wollüstige Stadt, die bald der Vesuv verschlingen sollte, den Besuch einiger
Christen erhalten hatte.**) Sie predigten ihre Lehre und begingen ihre Myste¬
rien in diesen Häusern, deren Wände ihnen in jedem Augenblick einen feindseligen
Kultus ins Gedächtnis riefen. Die Masse dieser mythologischen Wandgemälde
giebt uns eine Vorstellung von den Hindernissen, welche das Christentum zu
überwinden hatte. Die Religion, gegen welche es kämpfte, hatte sich des ganzen
Menschen bemächtigt. Es war sehr schwer für einen Heiden, seine Götter zu
vergessen, denn er fand sie überall wieder, nicht bloß in den Tempeln und auf
den öffentlichen Plätzen, die von ihren Abbildern erfüllt waren, sondern auch
in seiner Privatwohnung, an den Wänden dieser Säle und dieser Zimmer, in
denen er mit seiner Familie lebte, dergestalt, daß sich diese Götter in alle Hand¬
lungen seines täglichen, intimen und persönlichen Lebens einzumischen schienen
und derjenige, der von ihnen abfiel, gleichzeitig mit allen Erinnerungen und




*) Untersuchungen über die Campanische Wandmalerei. Leipzig, 1373.
**) Es hat sich dort eine mit Kohle auf eine weiße Wand geschriebene Inschrift mit
dem Worte ebriZti^nus gefunden (0. I. I.. IV, 679).
Pompejanische Spaziergänge.

finder sind, und sodann die Frage, ob sich hinsichtlich ihrer Zugehörigkeit zu
einer bestimmten Schule etwas ausmachen läßt.*)

Von diesen beiden Büchern gewährt natürlich die Lektüre des zweiten den
größern Genuß; aber das erste, obschon anscheinend trockner, ist vielleicht noch
nützlicher. Selbst getrennt von dein andern Werke, welches ihm als Kommentar
dient, enthält dieser Katalog eine Fülle von Belehrung. Mir scheint, wir können
irgend eine bestimmte Zeit nicht bloß nach den Büchern beurteilen, welche sie
gern liest, sondern auch nach den Gemälden, welche sie mit Vorliebe betrachtet;
auch sie geben einen Fingerzeig, der uns bezüglich ihres Charakters und ihrer
Geschmacksrichtung kaum jemals täuschen wird. Wenden wir diese Regel auf
Helbigs Katalog an. Auf 1968 Wandgemälde, die er geordnet und beschrieben
hat, kommen etwas über 1400, nahezu drei Viertel, die sich irgendwie auf die
Mythologie beziehen, d. h. die Abenteuer der Götter oder die Sagen der Heroen¬
zeit darstellen. Diese Ziffer bezeichnet den Platz, welchen im ersten Jahrhundert
die religiösen Erinnerungen der Vergangenheit im Leben aller einnahmen. Selbst
die Ungläubigen und Gleichgiltigen fühlten die Macht dieser Erinnerungen; wenn
das Gewissen der Menschen sich ihnen entzog, so übten sie doch noch ihre Herr¬
schaft über die Phantasie. Häufig kann man bei dem Studium der Kunst oder
der Literatur dieser Zeit diese Beobachtung machen, aber nirgends sonst drängt
sie sich uns so sichtbar auf wie in Pompeji. Es ist wichtig, dies zu betonen,
wenn wir uns erinnern, daß gerade zu der Zeit, da die Künstler die campanischen
Städte mit diesen Bildern von Göttern und Heroen verschwenderisch ausschmückten,
das Christentum anfing, sich im römischen Reiche zu verbreiten. Eben war der
Apostel Paulus auf seiner Reise von Puteoli nach Rom dicht bei diesen Ge¬
staden vorübergekommen, und manche Gründe sprechen dafür, daß die kokette und
wollüstige Stadt, die bald der Vesuv verschlingen sollte, den Besuch einiger
Christen erhalten hatte.**) Sie predigten ihre Lehre und begingen ihre Myste¬
rien in diesen Häusern, deren Wände ihnen in jedem Augenblick einen feindseligen
Kultus ins Gedächtnis riefen. Die Masse dieser mythologischen Wandgemälde
giebt uns eine Vorstellung von den Hindernissen, welche das Christentum zu
überwinden hatte. Die Religion, gegen welche es kämpfte, hatte sich des ganzen
Menschen bemächtigt. Es war sehr schwer für einen Heiden, seine Götter zu
vergessen, denn er fand sie überall wieder, nicht bloß in den Tempeln und auf
den öffentlichen Plätzen, die von ihren Abbildern erfüllt waren, sondern auch
in seiner Privatwohnung, an den Wänden dieser Säle und dieser Zimmer, in
denen er mit seiner Familie lebte, dergestalt, daß sich diese Götter in alle Hand¬
lungen seines täglichen, intimen und persönlichen Lebens einzumischen schienen
und derjenige, der von ihnen abfiel, gleichzeitig mit allen Erinnerungen und




*) Untersuchungen über die Campanische Wandmalerei. Leipzig, 1373.
**) Es hat sich dort eine mit Kohle auf eine weiße Wand geschriebene Inschrift mit
dem Worte ebriZti^nus gefunden (0. I. I.. IV, 679).
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[0299] Pompejanische Spaziergänge. finder sind, und sodann die Frage, ob sich hinsichtlich ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten Schule etwas ausmachen läßt.*) Von diesen beiden Büchern gewährt natürlich die Lektüre des zweiten den größern Genuß; aber das erste, obschon anscheinend trockner, ist vielleicht noch nützlicher. Selbst getrennt von dein andern Werke, welches ihm als Kommentar dient, enthält dieser Katalog eine Fülle von Belehrung. Mir scheint, wir können irgend eine bestimmte Zeit nicht bloß nach den Büchern beurteilen, welche sie gern liest, sondern auch nach den Gemälden, welche sie mit Vorliebe betrachtet; auch sie geben einen Fingerzeig, der uns bezüglich ihres Charakters und ihrer Geschmacksrichtung kaum jemals täuschen wird. Wenden wir diese Regel auf Helbigs Katalog an. Auf 1968 Wandgemälde, die er geordnet und beschrieben hat, kommen etwas über 1400, nahezu drei Viertel, die sich irgendwie auf die Mythologie beziehen, d. h. die Abenteuer der Götter oder die Sagen der Heroen¬ zeit darstellen. Diese Ziffer bezeichnet den Platz, welchen im ersten Jahrhundert die religiösen Erinnerungen der Vergangenheit im Leben aller einnahmen. Selbst die Ungläubigen und Gleichgiltigen fühlten die Macht dieser Erinnerungen; wenn das Gewissen der Menschen sich ihnen entzog, so übten sie doch noch ihre Herr¬ schaft über die Phantasie. Häufig kann man bei dem Studium der Kunst oder der Literatur dieser Zeit diese Beobachtung machen, aber nirgends sonst drängt sie sich uns so sichtbar auf wie in Pompeji. Es ist wichtig, dies zu betonen, wenn wir uns erinnern, daß gerade zu der Zeit, da die Künstler die campanischen Städte mit diesen Bildern von Göttern und Heroen verschwenderisch ausschmückten, das Christentum anfing, sich im römischen Reiche zu verbreiten. Eben war der Apostel Paulus auf seiner Reise von Puteoli nach Rom dicht bei diesen Ge¬ staden vorübergekommen, und manche Gründe sprechen dafür, daß die kokette und wollüstige Stadt, die bald der Vesuv verschlingen sollte, den Besuch einiger Christen erhalten hatte.**) Sie predigten ihre Lehre und begingen ihre Myste¬ rien in diesen Häusern, deren Wände ihnen in jedem Augenblick einen feindseligen Kultus ins Gedächtnis riefen. Die Masse dieser mythologischen Wandgemälde giebt uns eine Vorstellung von den Hindernissen, welche das Christentum zu überwinden hatte. Die Religion, gegen welche es kämpfte, hatte sich des ganzen Menschen bemächtigt. Es war sehr schwer für einen Heiden, seine Götter zu vergessen, denn er fand sie überall wieder, nicht bloß in den Tempeln und auf den öffentlichen Plätzen, die von ihren Abbildern erfüllt waren, sondern auch in seiner Privatwohnung, an den Wänden dieser Säle und dieser Zimmer, in denen er mit seiner Familie lebte, dergestalt, daß sich diese Götter in alle Hand¬ lungen seines täglichen, intimen und persönlichen Lebens einzumischen schienen und derjenige, der von ihnen abfiel, gleichzeitig mit allen Erinnerungen und *) Untersuchungen über die Campanische Wandmalerei. Leipzig, 1373. **) Es hat sich dort eine mit Kohle auf eine weiße Wand geschriebene Inschrift mit dem Worte ebriZti^nus gefunden (0. I. I.. IV, 679).

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_152756/299>, abgerufen am 24.05.2024.