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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Zweites Quartal.

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pompejmiische Sxaziergänge.

allen Lieblingsneigungen der Vergangenheit zu brechen glaubte. Auf diese
Malereien fielen die ersten Blicke des Kindes; es bewunderte sie, noch ehe es
sie verstand. Sie prägten sich seinem Gedächtnis ein und mischten sich mit
jenen Jugendeindrücken, die man nie vergißt. Die Kirchenväter haben also recht
mit ihrer Bemerkung, daß das, was damals der Mythologie so viele Anhänger
gewann, der Umstand sei, daß sie sich des Menschen schon in der Wiege, ja fast
schon vor seiner Geburt bemächtigte. So sagt z. B. Tertullian ebenso kernig
als wahr: 0irae8 iÄololatrig. odststrios ug-soiinur, d. h. die Vielgötterei ist schon
bei der Geburt unser aller Hebamme.

Was aber war der Charakter dieser Mythologie? Auf welche Weise und
in was für Abenteuern wurden diese Götter und diese Heroen ihren Anbetern
in der Regel dargestellt? Helbigs Katalog giebt auch hierauf die lehrreichste
Antwort. Er zeigt uns, daß es Liebesgeschichten sind, denen diese Maler vor
allen andern den Vorzug gaben. Jupiter erscheint bei ihnen nur mit der Ver¬
führung der Danae, Jo oder Leda und mit der Entführung der Europa be¬
schäftigt. Die Verfolgung der Dciphnc durch Apollo ist der Gegenstand von
zwölf Gemälden; Venus ist funfzehnmal in den Armen des Mars und sech¬
zehnmal mit dem schönen Adonis dargestellt. Ebenso verhält es sich mit den
übrigen Gottheiten, in allen diesen Wandgemälden handelt es sich fast nur um
ihre Liebeshandel. Dies also wars, was eine elegante und leichtlebige Welt
aus dem alten, ernsten Götterglauben gemacht hatte. Großen Widerstand freilich
hatte derselbe nicht geleistet. Eine Hauptkraft dieser alten Religionen, welche
keine heiligen Bücher besaßen und durch keine festen Dogmen gebunden waren,
lag in ihrer leichten Anbequemung an die Meinungen und Geschmacksrichtungen
jeder Epoche. Jahrhunderte lang hat die Religion Griechenlands jeder dieser
Richtungen genügt, und nur deshalb hat sie so lange Bestand gehabt. Von
Homer bis zu den Nenplatonikern hat sie es verstanden, alle Formen anzunehmen:
bald ernst, bald leichtfertig spielend, aber immer poetisch, diente sie den Künstlern
zum Ausdruck ihrer mannichfachsten Vorstellungen, ihrer widersprechendsten Em¬
pfindungen, gestattete sie den Philosophen die Einkleidung ihrer tiefsten Lehren
in glänzende Farben. Zu der Zeit, welche uns hier beschäftigt, paßte sie sich
mit ihrer gewöhnlichen Fruchtbarkeit und Geschmeidigkeit den Neigungen einer
die Ruhe und den Genuß liebenden, reichen, glücklichen Gesellschaft an, welche
-- dank einer gefürchteten Obergewalt -- sich des folgenden Tages sicher, von
den ernsten Sorgen der Politik sich befreit fühlte und nur die eine Sorge
kannte, wie sie das Leben so heiter als möglich hinbrächte, einer Gesellschaft,
die sich darin gefiel, unter dem Bilde ihrer Götter sich selbst darzustellen und
ihre eignen Vergnügungen zu idealisiren, indem sie dieselben den Bewohnern des
Olymps zuschrieb. So gewinnen die Wandgemälde von Pompeji einen neuen
Reiz für uns, wenn wir daran denken, daß sie das Abbild einer bestimmten
Zeit und uns zu deren Verständnis behilflich sind.


pompejmiische Sxaziergänge.

allen Lieblingsneigungen der Vergangenheit zu brechen glaubte. Auf diese
Malereien fielen die ersten Blicke des Kindes; es bewunderte sie, noch ehe es
sie verstand. Sie prägten sich seinem Gedächtnis ein und mischten sich mit
jenen Jugendeindrücken, die man nie vergißt. Die Kirchenväter haben also recht
mit ihrer Bemerkung, daß das, was damals der Mythologie so viele Anhänger
gewann, der Umstand sei, daß sie sich des Menschen schon in der Wiege, ja fast
schon vor seiner Geburt bemächtigte. So sagt z. B. Tertullian ebenso kernig
als wahr: 0irae8 iÄololatrig. odststrios ug-soiinur, d. h. die Vielgötterei ist schon
bei der Geburt unser aller Hebamme.

Was aber war der Charakter dieser Mythologie? Auf welche Weise und
in was für Abenteuern wurden diese Götter und diese Heroen ihren Anbetern
in der Regel dargestellt? Helbigs Katalog giebt auch hierauf die lehrreichste
Antwort. Er zeigt uns, daß es Liebesgeschichten sind, denen diese Maler vor
allen andern den Vorzug gaben. Jupiter erscheint bei ihnen nur mit der Ver¬
führung der Danae, Jo oder Leda und mit der Entführung der Europa be¬
schäftigt. Die Verfolgung der Dciphnc durch Apollo ist der Gegenstand von
zwölf Gemälden; Venus ist funfzehnmal in den Armen des Mars und sech¬
zehnmal mit dem schönen Adonis dargestellt. Ebenso verhält es sich mit den
übrigen Gottheiten, in allen diesen Wandgemälden handelt es sich fast nur um
ihre Liebeshandel. Dies also wars, was eine elegante und leichtlebige Welt
aus dem alten, ernsten Götterglauben gemacht hatte. Großen Widerstand freilich
hatte derselbe nicht geleistet. Eine Hauptkraft dieser alten Religionen, welche
keine heiligen Bücher besaßen und durch keine festen Dogmen gebunden waren,
lag in ihrer leichten Anbequemung an die Meinungen und Geschmacksrichtungen
jeder Epoche. Jahrhunderte lang hat die Religion Griechenlands jeder dieser
Richtungen genügt, und nur deshalb hat sie so lange Bestand gehabt. Von
Homer bis zu den Nenplatonikern hat sie es verstanden, alle Formen anzunehmen:
bald ernst, bald leichtfertig spielend, aber immer poetisch, diente sie den Künstlern
zum Ausdruck ihrer mannichfachsten Vorstellungen, ihrer widersprechendsten Em¬
pfindungen, gestattete sie den Philosophen die Einkleidung ihrer tiefsten Lehren
in glänzende Farben. Zu der Zeit, welche uns hier beschäftigt, paßte sie sich
mit ihrer gewöhnlichen Fruchtbarkeit und Geschmeidigkeit den Neigungen einer
die Ruhe und den Genuß liebenden, reichen, glücklichen Gesellschaft an, welche
— dank einer gefürchteten Obergewalt — sich des folgenden Tages sicher, von
den ernsten Sorgen der Politik sich befreit fühlte und nur die eine Sorge
kannte, wie sie das Leben so heiter als möglich hinbrächte, einer Gesellschaft,
die sich darin gefiel, unter dem Bilde ihrer Götter sich selbst darzustellen und
ihre eignen Vergnügungen zu idealisiren, indem sie dieselben den Bewohnern des
Olymps zuschrieb. So gewinnen die Wandgemälde von Pompeji einen neuen
Reiz für uns, wenn wir daran denken, daß sie das Abbild einer bestimmten
Zeit und uns zu deren Verständnis behilflich sind.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_152756/300>, abgerufen am 17.06.2024.