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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

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Literatur.

vorsichtig und denke ein bischen nach. Oder hat er ein Vergnügen daran, sich
von den vernünftigen Freunden unsrer Sprache, von jedem einigermaßen national
gesinnten Deutschen auslachen zu lassen?


Hermcin Riegel.


Literatur.
Urteile des Reichsgerichts mit Besprechungen. Von Otto Bahr. München und Leipzm,
N. Oldenbourg, 1883.

Wenn der Verfasser dieser Schrift sich schon wahrend der Zeit seines otium
eum nsKotio als Mitglied verschiedner. höchsten Gerichtshöfe und des Parlaments
wie als Schriftsteller die unbestrittene Stellung einer Autorität ersten Ranges in
Theorie und Praxis der Rechtswissenschaft erworben hat,, so giebt ihm sein jetziges
otium sins vöAotio den gerechtesten Titel, die Aufmerksamkeit aller Kreise in An¬
spruch zu nehmen, wenn er aus dem Reiche seines Wissens und seiner Erfahrung
an eine Kritik des Bestehenden tritt. Die Urteile des Reichsgerichts sind nach viel¬
fältiger Richtung von Bedeutung; sie legen endlich den streitenden Parteien Frieden
auf, sie geben den Richtern eine Belehrung für die Anwendung der Rechtssätze in
ähnlichen Fällen, sie verhindern eine Erstarrung des Rechts, indem sie es durch
Auslegung im Flusse erhalten und zeigen zugleich dem Gesetzgeber, wo er seine
bessernde Hand anzulegen habe. In der That eine große Aufgabe! An der Hand
zahlreicher in Zivilsachen gefällter Entscheidungen prüft nun der Verfasser, inwie¬
weit das Reichsgericht das Richtige getroffen habe, und feilte Besprechungen schließen
sich so würdig den frühern Arbeiten an, daß sie auch den größten Gourmand
juristischer Feinheiten befriedigen werden (so z. B. Ur. 14 über die Jnteressen-
forderung, Ur. 10 Verträge zu Gunsten Dritter, Ur. S ff. über Quittungen u. s. w.).

Aber auch für das größere Publikum bieten die Besprechungen Bahrs in
doppelter Richtung Interesse. In formaler Beziehung giebt er uns eilten Blick in
die Werkstatt des Reichsgerichts und zeigt, wie das Urteil, welches unter der Firma
des ganzen Gerichts ergeht, doch eigentlich nur das Werk des einzelnen Referenten
ist. Der Verfasser findet mit Recht den Grund dieser unerwünschten Erscheinung
in der außerordentlichen Weitschweifigkeit, mit der von dem Gericht um Stelle eines
Rcchtspruches ganze Abhandlungen geliefert werden. Der wissenschaftliche Apparat
soll im Beratungszimmer seine Verwertung finden, nach außen dagegen soll das
Gericht mit kurzen, knappen Sätzen seinen Spruch begründen. Liest man ein Urteil
des Reichsgerichts, so glaubt man eine gelehrte Abhandlung einer juristischen Zeit¬
schrift vor sich zu sehen, nicht einen Staatsakt, wie er doch einmal in der Urteils-
sällung des höchsten Gerichtshofes enthalten ist. Dafür, daß Urteile auch ohne
wissenschaftliche Abhandlungen rcchtsbelehrend und fördernd wirken können, beruft
sich Bähr auf das frühere Oberappellationsgericht zu Kassel. Wir können diesem
Zeugen noch den französischen Kassationshof hinzufügen, der seit mehreren Menschen¬
altern die französische Jurisprudenz beherrscht und außer sich selbst noch nie einen


Literatur.

vorsichtig und denke ein bischen nach. Oder hat er ein Vergnügen daran, sich
von den vernünftigen Freunden unsrer Sprache, von jedem einigermaßen national
gesinnten Deutschen auslachen zu lassen?


Hermcin Riegel.


Literatur.
Urteile des Reichsgerichts mit Besprechungen. Von Otto Bahr. München und Leipzm,
N. Oldenbourg, 1883.

Wenn der Verfasser dieser Schrift sich schon wahrend der Zeit seines otium
eum nsKotio als Mitglied verschiedner. höchsten Gerichtshöfe und des Parlaments
wie als Schriftsteller die unbestrittene Stellung einer Autorität ersten Ranges in
Theorie und Praxis der Rechtswissenschaft erworben hat,, so giebt ihm sein jetziges
otium sins vöAotio den gerechtesten Titel, die Aufmerksamkeit aller Kreise in An¬
spruch zu nehmen, wenn er aus dem Reiche seines Wissens und seiner Erfahrung
an eine Kritik des Bestehenden tritt. Die Urteile des Reichsgerichts sind nach viel¬
fältiger Richtung von Bedeutung; sie legen endlich den streitenden Parteien Frieden
auf, sie geben den Richtern eine Belehrung für die Anwendung der Rechtssätze in
ähnlichen Fällen, sie verhindern eine Erstarrung des Rechts, indem sie es durch
Auslegung im Flusse erhalten und zeigen zugleich dem Gesetzgeber, wo er seine
bessernde Hand anzulegen habe. In der That eine große Aufgabe! An der Hand
zahlreicher in Zivilsachen gefällter Entscheidungen prüft nun der Verfasser, inwie¬
weit das Reichsgericht das Richtige getroffen habe, und feilte Besprechungen schließen
sich so würdig den frühern Arbeiten an, daß sie auch den größten Gourmand
juristischer Feinheiten befriedigen werden (so z. B. Ur. 14 über die Jnteressen-
forderung, Ur. 10 Verträge zu Gunsten Dritter, Ur. S ff. über Quittungen u. s. w.).

Aber auch für das größere Publikum bieten die Besprechungen Bahrs in
doppelter Richtung Interesse. In formaler Beziehung giebt er uns eilten Blick in
die Werkstatt des Reichsgerichts und zeigt, wie das Urteil, welches unter der Firma
des ganzen Gerichts ergeht, doch eigentlich nur das Werk des einzelnen Referenten
ist. Der Verfasser findet mit Recht den Grund dieser unerwünschten Erscheinung
in der außerordentlichen Weitschweifigkeit, mit der von dem Gericht um Stelle eines
Rcchtspruches ganze Abhandlungen geliefert werden. Der wissenschaftliche Apparat
soll im Beratungszimmer seine Verwertung finden, nach außen dagegen soll das
Gericht mit kurzen, knappen Sätzen seinen Spruch begründen. Liest man ein Urteil
des Reichsgerichts, so glaubt man eine gelehrte Abhandlung einer juristischen Zeit¬
schrift vor sich zu sehen, nicht einen Staatsakt, wie er doch einmal in der Urteils-
sällung des höchsten Gerichtshofes enthalten ist. Dafür, daß Urteile auch ohne
wissenschaftliche Abhandlungen rcchtsbelehrend und fördernd wirken können, beruft
sich Bähr auf das frühere Oberappellationsgericht zu Kassel. Wir können diesem
Zeugen noch den französischen Kassationshof hinzufügen, der seit mehreren Menschen¬
altern die französische Jurisprudenz beherrscht und außer sich selbst noch nie einen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/430>, abgerufen am 14.06.2024.