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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal.

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Belgische und holländische Verlegenheiten.

trennt hatte, und vor kurzem folgte darauf eine Reihe von Festlichkeiten, bei
denen man ebendaselbst den Becher der Versöhnung trank und die schon geraume
Zeit an die Stelle alten Grolles getretene gutnachbarliche Gesinnung vor der
Welt besiegelte. König Leopold war der Wirt, der König von Holland der
Gast des Volkes, das seine Väter einst regiert hatten. Alles ging äußerst
gemütlich und freundschaftlich zu, und kein Mißton traf das Ohr des Monarchen,
als er seine Geburtsstadt zum erstenmale seit vierundfünfzig Jahren wiedersah.
Die Vraban?omne, das belgische Nationallied, wurde nicht gespielt, da es für
Holland anstößige Stellen enthält, dagegen vernahm der Besuch wiederholt die
Weise des niederländischen, wie wenn man noch vor 1830 lebte. Der Rathaus¬
turm empfing die Gäste mit den Tönen eines Glockenspiels, wozu von mittel¬
alterlich gekleideten Herolden auf Posaunen geblasen wurde. Festlichkeit folgte
auf Festlichkeit in Gärten und Sälen. Kurz, König Wilhelm der Dritte hatte in
keiner Weise Ursache zu bereuen, daß er der Anregung des belgischen Gesandten
im Haag, seinen Nachbar in Brüssel zu besuchen, Folge geleistet hatte.

Die durch das ersterwähnte Fest verherrlichte Revolution hatte Belgien
in die Bahnen des Liberalismus geführt, in denen es dann größtenteils ver¬
harrte, da namentlich in den Städten meist eine starke Strömung politischen
und religiösen Freidenkertums herrschte und die Neutralität des Landes keine
straffe Zusammenfassung der Kräfte erforderte. Vorzüglich der französisch
sprechende Teil der Bevölkerung huldigte dieser Richtung, und die Pariser
Kamniertribüne und Presse fand immer ein Echo jenseits der schwarz-rot-gelben
Grenzpfähle. Während Louis Napoleon in Frankreich regierte, wurde der frei¬
sinnige Geist der Belgier von Jahr zu Jahr intensiver. Je mehr Fesseln dem
französischen Journalwesen angelegt wurden, desto freier bewegte sich das
belgische. Flüchtlinge aus Paris ließen sich an verschiednen Orten des Landes
nieder und säeten, obwohl sie sich öffentlicher Kundgebungen enthalten mußten,
in die Gesellschaft radikale Lehren, die sich namentlich gegen die Ansprüche des
Klerus kehrten. Andrerseits erfreuten sich die Liberalen viele Jahre des Vorteils,
Könige zu haben, die rein parlamentarisch regierten, oder richtiger gesagt, die
Majorität der Kammer regieren ließen, und deren erster es mit Takt und
Klugheit immer so zu wenden wußte, daß ein durch eine Revolution entstandener
Staat an allen Höfen gern gesehen wurde, da er seine Freiheiten nicht mi߬
brauchte. Leopolds Sohn und Nachfolger war ein ungefähr gleich gewandter
Politiker. Aber trotz alledem hat jetzt die liberale Partei eine furchtbare
Niederlage erlitten, die Klerikalen haben an den Stimmurnen die Majorität
erlangt, und Frere-Orban und seine Kollegen sind genötigt gewesen, vom
Staatsruder zu weichen und ihre Posten Männern der Gegenpartei ein¬
zuräumen, an deren Spitze Malon, der Hauptführer der Klerikalen, als Premier
steht. Der Sieg der letztem ist ein fast unerhörter. Nicht nur in den länd¬
lichen Distrikten haben die Klerikalen die Liberalen geschlagen und zwar meist


Belgische und holländische Verlegenheiten.

trennt hatte, und vor kurzem folgte darauf eine Reihe von Festlichkeiten, bei
denen man ebendaselbst den Becher der Versöhnung trank und die schon geraume
Zeit an die Stelle alten Grolles getretene gutnachbarliche Gesinnung vor der
Welt besiegelte. König Leopold war der Wirt, der König von Holland der
Gast des Volkes, das seine Väter einst regiert hatten. Alles ging äußerst
gemütlich und freundschaftlich zu, und kein Mißton traf das Ohr des Monarchen,
als er seine Geburtsstadt zum erstenmale seit vierundfünfzig Jahren wiedersah.
Die Vraban?omne, das belgische Nationallied, wurde nicht gespielt, da es für
Holland anstößige Stellen enthält, dagegen vernahm der Besuch wiederholt die
Weise des niederländischen, wie wenn man noch vor 1830 lebte. Der Rathaus¬
turm empfing die Gäste mit den Tönen eines Glockenspiels, wozu von mittel¬
alterlich gekleideten Herolden auf Posaunen geblasen wurde. Festlichkeit folgte
auf Festlichkeit in Gärten und Sälen. Kurz, König Wilhelm der Dritte hatte in
keiner Weise Ursache zu bereuen, daß er der Anregung des belgischen Gesandten
im Haag, seinen Nachbar in Brüssel zu besuchen, Folge geleistet hatte.

Die durch das ersterwähnte Fest verherrlichte Revolution hatte Belgien
in die Bahnen des Liberalismus geführt, in denen es dann größtenteils ver¬
harrte, da namentlich in den Städten meist eine starke Strömung politischen
und religiösen Freidenkertums herrschte und die Neutralität des Landes keine
straffe Zusammenfassung der Kräfte erforderte. Vorzüglich der französisch
sprechende Teil der Bevölkerung huldigte dieser Richtung, und die Pariser
Kamniertribüne und Presse fand immer ein Echo jenseits der schwarz-rot-gelben
Grenzpfähle. Während Louis Napoleon in Frankreich regierte, wurde der frei¬
sinnige Geist der Belgier von Jahr zu Jahr intensiver. Je mehr Fesseln dem
französischen Journalwesen angelegt wurden, desto freier bewegte sich das
belgische. Flüchtlinge aus Paris ließen sich an verschiednen Orten des Landes
nieder und säeten, obwohl sie sich öffentlicher Kundgebungen enthalten mußten,
in die Gesellschaft radikale Lehren, die sich namentlich gegen die Ansprüche des
Klerus kehrten. Andrerseits erfreuten sich die Liberalen viele Jahre des Vorteils,
Könige zu haben, die rein parlamentarisch regierten, oder richtiger gesagt, die
Majorität der Kammer regieren ließen, und deren erster es mit Takt und
Klugheit immer so zu wenden wußte, daß ein durch eine Revolution entstandener
Staat an allen Höfen gern gesehen wurde, da er seine Freiheiten nicht mi߬
brauchte. Leopolds Sohn und Nachfolger war ein ungefähr gleich gewandter
Politiker. Aber trotz alledem hat jetzt die liberale Partei eine furchtbare
Niederlage erlitten, die Klerikalen haben an den Stimmurnen die Majorität
erlangt, und Frere-Orban und seine Kollegen sind genötigt gewesen, vom
Staatsruder zu weichen und ihre Posten Männern der Gegenpartei ein¬
zuräumen, an deren Spitze Malon, der Hauptführer der Klerikalen, als Premier
steht. Der Sieg der letztem ist ein fast unerhörter. Nicht nur in den länd¬
lichen Distrikten haben die Klerikalen die Liberalen geschlagen und zwar meist


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156270/10>, abgerufen am 16.05.2024.