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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal.

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Belgische und holländische Verlegenheiten.

mit großer Stimmenmehrheit, sondern auch in Antwerpen, Brügge und Ostende,
und in der Hauptstadt ist die ganze Kandidatenliste derselben ohne eine einzige
Ausnahme durchgegangen, während Brüssel bis jetzt unter seinen sechzehn Ab¬
geordneten nicht einen Klerikalen zählte.

Das ist ein Ereignis, welches zu denken giebt, wenn auch keineswegs ein
Wunder. Die große Mehrzahl des niedern belgischen Volkes ist katholisch, und
zwar streng katholisch; die Vlämingen nicht bloß, sondern auch viele Bauern
und Kleinbürger wollen keine Verweltlichung des Unterrichts, und um wenigsten
eine solche, die den Religionslehrer ganz aus der Schule entfernt. Die bel¬
gischen Liberalen aber kehrten sich -- herrschsüchtig, rücksichtslos und unpraktisch,
wie die Partei oft auftritt -- nicht an diese Thatsache. Anderwärts sorgte man
für Schulen, in welchen die Kinder aller Bekentnisse erzogen werden sollten,
überließ aber die Religion privater Sorge. In England zahlte der Staat sogar
Beiträge zur Unterhaltung geistlicher Schulen, die neben den von Gemeinde¬
steuern erhaltenen bestanden. Die belgischen Liberalen dagegen schlössen sich der
Meinung Gambettas an, daß "der Klerikalismus der Feind ist," und bekämpften
alle von der Kirche geleiteten Schulen, indem sie den Elementarunterricht nicht
nur verweltlichten, sondern den so verweltlichten auch obligatorisch machten. Das
belgische Volk ist aber im Durchschnitt nicht wohlhabend, und die neuen Ein¬
richtungen erforderten eine höhere Besteuerung. So zogen die Klerikalen nach
den Stimmurnen, zunächst erfüllt von Haß gegen den weltlichen Unterricht,
sodann aber mit der immer sehr wirksamen Parole: "Keine neuen Abgaben!"
Ferner haben die Radikalen der liberalen Sache in doppelter Weise schwere
Nachteile zugefügt: einmal durch ihre groben Ausschreitungen gegen die gläu¬
bigen Katholiken, dann dadurch, daß sie Uneinigkeit ins liberale Lager trugen.
Sie veranlaßten z. V. burleske Aufzüge in den Straßen, bei denen man Hei¬
ligenbilder und andre in katholischen Angen geweihte Gegenstände verhöhnte,
und der schlechte Geschmack, der sich in diesen organisirten Beleidigungen kund¬
gab, entfremdete der Sache der belgischen Fortschrittler nicht wenige Gemüter,
die sonst an einem Strange mit ihnen gezogen hatten. Dazu kam, daß die
fortgeschrittenen Liberalen eine Umgestaltung der Verfassung erstrebten, das
allgemeine Stimmrecht verlangten und überhaupt "Demokraten" sein wollten,
wie denn die acht Deputaten, die in der zweiten Kammer die äußerste Linke
bilden, Ende Mai an die Mitglieder der liberalen Union und des konstitutio¬
nellen Vereins von Brüssel ein Schriftstück richteten, in welchem sie erklärten:
"Der Liberalismus ist unverständlich ohne Demokratie; denn sie ist sein Herz.
Nur sie kann die Kraft verleihen zum Kampfe gegen die Unduldsamkeit lMe auf
Seiten dieser Herren mindestens so groß und so grob ist wie auf Seiten der
Schwarzes, gegen den klerikalen Fanatismus, den ewigen unversöhnlichen Feind
unsrer staatlichen Freiheiten, nur sie wird uns stärken zur Verwirklichung jedes
Fortschritts, den wir erstreben." Endlich wirkten zur Niederlage der belgischen


Belgische und holländische Verlegenheiten.

mit großer Stimmenmehrheit, sondern auch in Antwerpen, Brügge und Ostende,
und in der Hauptstadt ist die ganze Kandidatenliste derselben ohne eine einzige
Ausnahme durchgegangen, während Brüssel bis jetzt unter seinen sechzehn Ab¬
geordneten nicht einen Klerikalen zählte.

Das ist ein Ereignis, welches zu denken giebt, wenn auch keineswegs ein
Wunder. Die große Mehrzahl des niedern belgischen Volkes ist katholisch, und
zwar streng katholisch; die Vlämingen nicht bloß, sondern auch viele Bauern
und Kleinbürger wollen keine Verweltlichung des Unterrichts, und um wenigsten
eine solche, die den Religionslehrer ganz aus der Schule entfernt. Die bel¬
gischen Liberalen aber kehrten sich — herrschsüchtig, rücksichtslos und unpraktisch,
wie die Partei oft auftritt — nicht an diese Thatsache. Anderwärts sorgte man
für Schulen, in welchen die Kinder aller Bekentnisse erzogen werden sollten,
überließ aber die Religion privater Sorge. In England zahlte der Staat sogar
Beiträge zur Unterhaltung geistlicher Schulen, die neben den von Gemeinde¬
steuern erhaltenen bestanden. Die belgischen Liberalen dagegen schlössen sich der
Meinung Gambettas an, daß „der Klerikalismus der Feind ist," und bekämpften
alle von der Kirche geleiteten Schulen, indem sie den Elementarunterricht nicht
nur verweltlichten, sondern den so verweltlichten auch obligatorisch machten. Das
belgische Volk ist aber im Durchschnitt nicht wohlhabend, und die neuen Ein¬
richtungen erforderten eine höhere Besteuerung. So zogen die Klerikalen nach
den Stimmurnen, zunächst erfüllt von Haß gegen den weltlichen Unterricht,
sodann aber mit der immer sehr wirksamen Parole: „Keine neuen Abgaben!"
Ferner haben die Radikalen der liberalen Sache in doppelter Weise schwere
Nachteile zugefügt: einmal durch ihre groben Ausschreitungen gegen die gläu¬
bigen Katholiken, dann dadurch, daß sie Uneinigkeit ins liberale Lager trugen.
Sie veranlaßten z. V. burleske Aufzüge in den Straßen, bei denen man Hei¬
ligenbilder und andre in katholischen Angen geweihte Gegenstände verhöhnte,
und der schlechte Geschmack, der sich in diesen organisirten Beleidigungen kund¬
gab, entfremdete der Sache der belgischen Fortschrittler nicht wenige Gemüter,
die sonst an einem Strange mit ihnen gezogen hatten. Dazu kam, daß die
fortgeschrittenen Liberalen eine Umgestaltung der Verfassung erstrebten, das
allgemeine Stimmrecht verlangten und überhaupt „Demokraten" sein wollten,
wie denn die acht Deputaten, die in der zweiten Kammer die äußerste Linke
bilden, Ende Mai an die Mitglieder der liberalen Union und des konstitutio¬
nellen Vereins von Brüssel ein Schriftstück richteten, in welchem sie erklärten:
„Der Liberalismus ist unverständlich ohne Demokratie; denn sie ist sein Herz.
Nur sie kann die Kraft verleihen zum Kampfe gegen die Unduldsamkeit lMe auf
Seiten dieser Herren mindestens so groß und so grob ist wie auf Seiten der
Schwarzes, gegen den klerikalen Fanatismus, den ewigen unversöhnlichen Feind
unsrer staatlichen Freiheiten, nur sie wird uns stärken zur Verwirklichung jedes
Fortschritts, den wir erstreben." Endlich wirkten zur Niederlage der belgischen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156270/11>, abgerufen am 22.05.2024.