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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal.

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Lin Franzose über Rußland und die Russen.

andre Nationalität mittelbar und unmittelbar soviel für die geistige Bildung
und den materiellen Fortschritt der Russen uach jeder Richtung hin geleistet.
Lcroh-Beaulieu nimmt davon wenig Notiz. Während er den Einfluß, den die
Junghegelei auf das Entstehen der Nihilisten geübt hat, zu stark betont, indem
die französischen Sozialisten an dieser Verirrung der russischen Jugend ohne
Zweifel mehr schuld haben als die deutsche Philosophie, geschieht der Deutschen
in der Petersburger Akademie und an den Universitäten des Reiches und ihrer
ausgedehnten Thätigkeit an den Gymnasien, ihrer Leitung von Werkstätten,
Fabriken und Landwirtschaften und ihrer Beteiligung am russische" Handel nur
kurz und ungenügend Erwähnung. Das deutsche Element in Nußland hätte aber
noch eines andern Umstandes wegen ausführlicher und gründlicher besprochen
werden müssen. Das Zentrum desselben, die baltischen Provinzen, ist noch in
unsern Tagen die ununterbrochen fließende Quelle einer Kultur, die sich in allen
Formen nach dem Innern des Reiches ergießt und dort zwar langsam befruchtet,
auch nicht selten versiegt, im ganzen aber doch nicht wenig Segen verbreitet
und sehr stark auf Verbesserung des urtümlichen Elements eingewirkthat. Diese
Vermittlung europäischen Wissens und Denkens erscheint vornehm und überlegen,
sie verfährt bisweilen schulmeisterlich, barsch und rücksichtlos, ihre Träger wissen
dabei mitunter mehr als billig ihren materiellen Vorteil wahrzunehmen, und so
ist sie der großen Menge ein Gegenstand des Verdrusses und Neides, man fühlt
sich gedemütigt und ausgebeutet, namentlich aber hassen sie die Slavophilen,
die von einer rein nationalen Entwicklung träumen, welche in Wahrheit der
ärgste, traurigste Rückschritt sein würde. Der Verfasser unsrer Schrift unter¬
läßt es natürlich nicht, auf diese Antipathie der Russen gegen die Deutschen
hinzuweisen, aber eine Ergänzung seiner Ausführungen, eine ehrliche Erklärung
der Erscheinungen, von denen er berichtet, suchen wir bei ihm vergebens. Wäre
er hier tiefer in das Wesen der Dinge eingedrungen, hätte er sich nicht zu sehr
auf seine russische" Mitarbeiter verlassen, so würde er gefunden haben, daß die
Ostseeprovinzen gerade die Ideen vertreten und die Vorzüge besitzen, welche er
im übrigen Nußland vermißt. Sie sind es z. B., welche eine Aristokratie haben,
deren Nichtvorhandensein in Nußland von unserm Buche als Grund vieler Mi߬
stände in der dortigen Entwicklung bezeichnet wird, und die in ihrer Geschlossen¬
heit wiederholt der absolutistischen Willkür eine Schranke, der Regierungsgewalt
eine Stütze und der allgemeinen Ordnung eine Grundlage gewesen ist. Der
Verfasser nennt ferner als einen verhängnisvollen Mangel die Bedeutungslosig¬
keit der Städte in Rußland, diese ist aber in den baltischen Provinzen nicht
vorhanden: das städtische Element ist hier mindestens dreimal so stark als im
übrigen Rußland, und die größern Städte sind in wirtschaftlicher, intellektueller
und selbst politischer Beziehung sehr wichtige Faktoren, sie besitzen eine wohl¬
geübte und kräftige Selbstverwaltung, einen angesehenen, seit Generationen wvhl-
akkrcditirten Kaufmannsstand, selbstbewußte Handwerker, eine idealen Zwecken


Lin Franzose über Rußland und die Russen.

andre Nationalität mittelbar und unmittelbar soviel für die geistige Bildung
und den materiellen Fortschritt der Russen uach jeder Richtung hin geleistet.
Lcroh-Beaulieu nimmt davon wenig Notiz. Während er den Einfluß, den die
Junghegelei auf das Entstehen der Nihilisten geübt hat, zu stark betont, indem
die französischen Sozialisten an dieser Verirrung der russischen Jugend ohne
Zweifel mehr schuld haben als die deutsche Philosophie, geschieht der Deutschen
in der Petersburger Akademie und an den Universitäten des Reiches und ihrer
ausgedehnten Thätigkeit an den Gymnasien, ihrer Leitung von Werkstätten,
Fabriken und Landwirtschaften und ihrer Beteiligung am russische» Handel nur
kurz und ungenügend Erwähnung. Das deutsche Element in Nußland hätte aber
noch eines andern Umstandes wegen ausführlicher und gründlicher besprochen
werden müssen. Das Zentrum desselben, die baltischen Provinzen, ist noch in
unsern Tagen die ununterbrochen fließende Quelle einer Kultur, die sich in allen
Formen nach dem Innern des Reiches ergießt und dort zwar langsam befruchtet,
auch nicht selten versiegt, im ganzen aber doch nicht wenig Segen verbreitet
und sehr stark auf Verbesserung des urtümlichen Elements eingewirkthat. Diese
Vermittlung europäischen Wissens und Denkens erscheint vornehm und überlegen,
sie verfährt bisweilen schulmeisterlich, barsch und rücksichtlos, ihre Träger wissen
dabei mitunter mehr als billig ihren materiellen Vorteil wahrzunehmen, und so
ist sie der großen Menge ein Gegenstand des Verdrusses und Neides, man fühlt
sich gedemütigt und ausgebeutet, namentlich aber hassen sie die Slavophilen,
die von einer rein nationalen Entwicklung träumen, welche in Wahrheit der
ärgste, traurigste Rückschritt sein würde. Der Verfasser unsrer Schrift unter¬
läßt es natürlich nicht, auf diese Antipathie der Russen gegen die Deutschen
hinzuweisen, aber eine Ergänzung seiner Ausführungen, eine ehrliche Erklärung
der Erscheinungen, von denen er berichtet, suchen wir bei ihm vergebens. Wäre
er hier tiefer in das Wesen der Dinge eingedrungen, hätte er sich nicht zu sehr
auf seine russische» Mitarbeiter verlassen, so würde er gefunden haben, daß die
Ostseeprovinzen gerade die Ideen vertreten und die Vorzüge besitzen, welche er
im übrigen Nußland vermißt. Sie sind es z. B., welche eine Aristokratie haben,
deren Nichtvorhandensein in Nußland von unserm Buche als Grund vieler Mi߬
stände in der dortigen Entwicklung bezeichnet wird, und die in ihrer Geschlossen¬
heit wiederholt der absolutistischen Willkür eine Schranke, der Regierungsgewalt
eine Stütze und der allgemeinen Ordnung eine Grundlage gewesen ist. Der
Verfasser nennt ferner als einen verhängnisvollen Mangel die Bedeutungslosig¬
keit der Städte in Rußland, diese ist aber in den baltischen Provinzen nicht
vorhanden: das städtische Element ist hier mindestens dreimal so stark als im
übrigen Rußland, und die größern Städte sind in wirtschaftlicher, intellektueller
und selbst politischer Beziehung sehr wichtige Faktoren, sie besitzen eine wohl¬
geübte und kräftige Selbstverwaltung, einen angesehenen, seit Generationen wvhl-
akkrcditirten Kaufmannsstand, selbstbewußte Handwerker, eine idealen Zwecken


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156270/122>, abgerufen am 15.06.2024.