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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal.

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Lin Franzose über Rußland und die Russen.

zustrebende Vertretung der Intelligenz und eine Verbindung eitler dieser Klassen
durch Mittelstufen -- lauter Dinge, deren Fehlen in den russischen Provinzen
unsre Schrift zu beklagen hat. Endlich besteht auf dem Lande dort schon seit
geraumer Zeit etwas, was der Verfasser derselben im Gegensatze zu den Slavo-
philen als die schließliche Lösung des agrarcn Problems betrachtet: der persön¬
liche, freie Grundbesitz der Bauern; denn wo wie in Livland etwa 95, in Kur¬
land 68 Prozent der "Gesinde" (Fröhnerländereien, einst zu den Rittergütern
gehörig) verkauft sind, ist wohl vom Bauer als Kleingruudbesitzer zu sprechen,
und es giebt also in den baltischen Provinzen, die wir nannten, mich einen
kräftigen ländlichen Mittelstand, wie ihn unser Autor für das übrige russische
Reich noch dringend herbeiwünschen muß, wie er sich hier aber schwerlich bald
ausbilden wird.

Im übrigen haben wir Ursache, dem Verfasser für seine Arbeit dankbar
zu sein und sie unsern Lesern bestens zu empfehlen. Sie vermehrt unsre Kennt¬
nisse in zuverlässiger Weise und ist geeignet, manches Vorurteil zu zerstören,
das auch auf unsrer Seite sich ausgebildet und eingefressen hat. Wir begegnen
hier einem geistvollen Manne mit weiten Gesichtspunkte", der von Humboldt
und Ritter gelernt hat, und auch in Fächern, die nicht unmittelbar mit der
Geographie zusammenhängen, z. B. in der Geschichte des Mittelalters und der
Urzeit Rußlands, wohlbewandert ist. Er beginnt mit einer sehr anziehenden
Schilderung der Natur, des Klimas und des Bodens Rußlands, geht dann zu
den dort wohnenden Rassen und Vvlkselemcnten über und sucht darauf Tem¬
perament und Charakter der Russen zu zeichnen und zu begreifen, wobei er
n. a. auch (im vierten Kapitel des dritten Buches) auf den Nihilismus zu
sprechen kommt, den er ausführlich und im ganzen richtig darstellt. Das vierte
Buch beschäftigt sich mit der Geschichte und den Elementen der Zivilisation,
das fünfte mit der gesellschaftlichen Rangordnung und der Frage, worin die
Klassenunterschiede äußerlich und oberflächlich und worin sie tiefer liegend und
dauernd sind, worauf zunächst die Städte und die sozialen Klassen derselben
geschildert werden. Das sechste Buch ist einer Charakteristik des russischen Adels
gewidmet, worin u. a. nachgewiesen wird, warum sich hier keine wirkliche Aristo¬
kratie ausbilden konnte, sodann des "Ttschiu," der vielstufigen Beamtenhierarchie.
Das siebente und achte endlich haben den russischen Bauer, den Ursprung und
die Aushebung der Leibeigenschaft zum Gegenstände, sowie die Lage, in welche
die Emanzipation die Landbevölkerung versetzt hat. Überall in diesen Kapiteln
sehe" wir, daß der Verfasser keine Mühe gespart hat, sich gründlich zu unter¬
richten und sich ein richtiges oder doch im wesentlichen zutreffendes Urteil über
seinen Gegenstand zu bilden, und die Fülle des Details, welches er bei seiner
Darstellung verarbeitet hat, ist ebenso erstaunlich wie der Scharfsinn, mit dem
er sich in diesen zum Teil äußerst schwierigen Fragen (wir denken dabei namentlich
an die letzten Abschnitte des Bandes) zurechtzufinden versteht, und seine Gabe,
dem Leser ein klares Verständnis derselben zu vermitteln.


Lin Franzose über Rußland und die Russen.

zustrebende Vertretung der Intelligenz und eine Verbindung eitler dieser Klassen
durch Mittelstufen — lauter Dinge, deren Fehlen in den russischen Provinzen
unsre Schrift zu beklagen hat. Endlich besteht auf dem Lande dort schon seit
geraumer Zeit etwas, was der Verfasser derselben im Gegensatze zu den Slavo-
philen als die schließliche Lösung des agrarcn Problems betrachtet: der persön¬
liche, freie Grundbesitz der Bauern; denn wo wie in Livland etwa 95, in Kur¬
land 68 Prozent der „Gesinde" (Fröhnerländereien, einst zu den Rittergütern
gehörig) verkauft sind, ist wohl vom Bauer als Kleingruudbesitzer zu sprechen,
und es giebt also in den baltischen Provinzen, die wir nannten, mich einen
kräftigen ländlichen Mittelstand, wie ihn unser Autor für das übrige russische
Reich noch dringend herbeiwünschen muß, wie er sich hier aber schwerlich bald
ausbilden wird.

Im übrigen haben wir Ursache, dem Verfasser für seine Arbeit dankbar
zu sein und sie unsern Lesern bestens zu empfehlen. Sie vermehrt unsre Kennt¬
nisse in zuverlässiger Weise und ist geeignet, manches Vorurteil zu zerstören,
das auch auf unsrer Seite sich ausgebildet und eingefressen hat. Wir begegnen
hier einem geistvollen Manne mit weiten Gesichtspunkte», der von Humboldt
und Ritter gelernt hat, und auch in Fächern, die nicht unmittelbar mit der
Geographie zusammenhängen, z. B. in der Geschichte des Mittelalters und der
Urzeit Rußlands, wohlbewandert ist. Er beginnt mit einer sehr anziehenden
Schilderung der Natur, des Klimas und des Bodens Rußlands, geht dann zu
den dort wohnenden Rassen und Vvlkselemcnten über und sucht darauf Tem¬
perament und Charakter der Russen zu zeichnen und zu begreifen, wobei er
n. a. auch (im vierten Kapitel des dritten Buches) auf den Nihilismus zu
sprechen kommt, den er ausführlich und im ganzen richtig darstellt. Das vierte
Buch beschäftigt sich mit der Geschichte und den Elementen der Zivilisation,
das fünfte mit der gesellschaftlichen Rangordnung und der Frage, worin die
Klassenunterschiede äußerlich und oberflächlich und worin sie tiefer liegend und
dauernd sind, worauf zunächst die Städte und die sozialen Klassen derselben
geschildert werden. Das sechste Buch ist einer Charakteristik des russischen Adels
gewidmet, worin u. a. nachgewiesen wird, warum sich hier keine wirkliche Aristo¬
kratie ausbilden konnte, sodann des „Ttschiu," der vielstufigen Beamtenhierarchie.
Das siebente und achte endlich haben den russischen Bauer, den Ursprung und
die Aushebung der Leibeigenschaft zum Gegenstände, sowie die Lage, in welche
die Emanzipation die Landbevölkerung versetzt hat. Überall in diesen Kapiteln
sehe» wir, daß der Verfasser keine Mühe gespart hat, sich gründlich zu unter¬
richten und sich ein richtiges oder doch im wesentlichen zutreffendes Urteil über
seinen Gegenstand zu bilden, und die Fülle des Details, welches er bei seiner
Darstellung verarbeitet hat, ist ebenso erstaunlich wie der Scharfsinn, mit dem
er sich in diesen zum Teil äußerst schwierigen Fragen (wir denken dabei namentlich
an die letzten Abschnitte des Bandes) zurechtzufinden versteht, und seine Gabe,
dem Leser ein klares Verständnis derselben zu vermitteln.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156270/123>, abgerufen am 15.06.2024.