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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal.

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Johannes Brahms.

Wenn wir die ersten zehn Werke von Brahms einer besondern Gruppe
zuweisen, so folgen wir hierin einer bereits feststehenden Tradition, jedoch mit
einigem Vorbehalt. Der Begriff "Sturm und Drang," welcher seit dem Ne-
volutionszeitalter, seit dem genialischer Treiben Lenzens, Klingers und des jungen
Schiller in der Kunstgeschichte etwas zu freigebig als Stichwort verwendet
wird, ist auch diesen zehn Werken unsers Künstlers als gemeinsames Merkmal
zugeschrieben worden. Er paßt jedoch nur auf einen Teil derselben -- wie er
andrerseits auch in einzelnen Werken der zweiten Periode hin und wieder zur
Erscheinung kommt. Es sind unter den Werken der ersten Periode nur drei
Klaviersonaten (ox. 1, 2 und 6), das Trio für Pianoforte, Violine und Cello
(ox. 8) und allenfalls noch das Klavierscherzo (ox. 4), in welchen die Phan¬
tasie des Komponisten der Form eine größere Fülle von Bildern zumutet, als
letztere tragen kann. In den Gesängen für eine Stimme mit Pianoforte
(ox. 3, 6, 7), in den Variationen für Pianoforte zu zwei Händen über ein
Thema aus den "Bunten Blättern" von Schumann (ox. 9) und in den vier
Balladen für Klavier, welche ox. 10 bilden, herrscht das schönste Ebenmaß
zwischen Inhalt und Form.

Vom kunstgeschichtlichen Standpunkte aus erscheinen als das bedeutendste
Werk der ersten Periode die?is-iuo11-Variationen in ox. 9. Hier treten zum
erstenmale mit größerer Entschiedenheit Harnroniewendungen auf, welche uns ver¬
künden, daß dieser Künstler seine eigne Sprache bilden werde. Auch vom mensch¬
lichen Gesichtspunkte aus betrachtet, ist dieses Werk überaus anziehend und
eindrucksvoll -- es bildet eine Art Tvtenklcige um den geliebten Schumann,
dessen Gestalt in allen Nummern in einer neuen Beleuchtung vortritt, am
Schlüsse in Verklärung dahinschwebend. Die Variationen werden in bezug auf
den ergreifenden Inhalt allerdings durch ein andres Werk der ersten Periode
noch überboten: durch die Balladen des zehnten Heftes. Hier zeigt sich Brahms
als ein genialer Erzähler ersten Ranges. Die Gedrungenheit und Bestimmt¬
heit, mit welcher in diesem Hefte schaurige und freundliche Bilder ausgeführt
sind, ist so groß, daß das Fassungsvermögen mancher Musikfreunde davor zurück¬
schreckt. Der eigue, individuelle Stil, welcher in den Variationen c>x. 9 bereits
hingestellt ist, wird in diesen Balladen noch befestigt. Man bemerkt bereits
typische Akkordfarben, z. B. für den Ausdruck plötzlichen Schmerzgefühles die
charakteristische Folge der Dreiklänge der dritten und ersten Stufe, der phan¬
tastische Humor liebt Vorhalte nach oben.

In dem Ideenkreise der ersten Periode nimmt das Dämonische, Schauer¬
liche und Wildunheimliche einen größern Raum ein, als wir das durchschnittlich
in den Erstlingswerken der Tonsetzer gewohnt sind. Durch die allgemeine Geistes¬
bewegung, die zur Jugendzeit des Komponisten herrschte, war diese Richtung
nicht hervorgerufen, Victor Hugo war so wenig der literarische Führer jener
Periode wie Berlioz der musikalische. Diesem düstern Element tritt in den


Johannes Brahms.

Wenn wir die ersten zehn Werke von Brahms einer besondern Gruppe
zuweisen, so folgen wir hierin einer bereits feststehenden Tradition, jedoch mit
einigem Vorbehalt. Der Begriff „Sturm und Drang," welcher seit dem Ne-
volutionszeitalter, seit dem genialischer Treiben Lenzens, Klingers und des jungen
Schiller in der Kunstgeschichte etwas zu freigebig als Stichwort verwendet
wird, ist auch diesen zehn Werken unsers Künstlers als gemeinsames Merkmal
zugeschrieben worden. Er paßt jedoch nur auf einen Teil derselben — wie er
andrerseits auch in einzelnen Werken der zweiten Periode hin und wieder zur
Erscheinung kommt. Es sind unter den Werken der ersten Periode nur drei
Klaviersonaten (ox. 1, 2 und 6), das Trio für Pianoforte, Violine und Cello
(ox. 8) und allenfalls noch das Klavierscherzo (ox. 4), in welchen die Phan¬
tasie des Komponisten der Form eine größere Fülle von Bildern zumutet, als
letztere tragen kann. In den Gesängen für eine Stimme mit Pianoforte
(ox. 3, 6, 7), in den Variationen für Pianoforte zu zwei Händen über ein
Thema aus den „Bunten Blättern" von Schumann (ox. 9) und in den vier
Balladen für Klavier, welche ox. 10 bilden, herrscht das schönste Ebenmaß
zwischen Inhalt und Form.

Vom kunstgeschichtlichen Standpunkte aus erscheinen als das bedeutendste
Werk der ersten Periode die?is-iuo11-Variationen in ox. 9. Hier treten zum
erstenmale mit größerer Entschiedenheit Harnroniewendungen auf, welche uns ver¬
künden, daß dieser Künstler seine eigne Sprache bilden werde. Auch vom mensch¬
lichen Gesichtspunkte aus betrachtet, ist dieses Werk überaus anziehend und
eindrucksvoll — es bildet eine Art Tvtenklcige um den geliebten Schumann,
dessen Gestalt in allen Nummern in einer neuen Beleuchtung vortritt, am
Schlüsse in Verklärung dahinschwebend. Die Variationen werden in bezug auf
den ergreifenden Inhalt allerdings durch ein andres Werk der ersten Periode
noch überboten: durch die Balladen des zehnten Heftes. Hier zeigt sich Brahms
als ein genialer Erzähler ersten Ranges. Die Gedrungenheit und Bestimmt¬
heit, mit welcher in diesem Hefte schaurige und freundliche Bilder ausgeführt
sind, ist so groß, daß das Fassungsvermögen mancher Musikfreunde davor zurück¬
schreckt. Der eigue, individuelle Stil, welcher in den Variationen c>x. 9 bereits
hingestellt ist, wird in diesen Balladen noch befestigt. Man bemerkt bereits
typische Akkordfarben, z. B. für den Ausdruck plötzlichen Schmerzgefühles die
charakteristische Folge der Dreiklänge der dritten und ersten Stufe, der phan¬
tastische Humor liebt Vorhalte nach oben.

In dem Ideenkreise der ersten Periode nimmt das Dämonische, Schauer¬
liche und Wildunheimliche einen größern Raum ein, als wir das durchschnittlich
in den Erstlingswerken der Tonsetzer gewohnt sind. Durch die allgemeine Geistes¬
bewegung, die zur Jugendzeit des Komponisten herrschte, war diese Richtung
nicht hervorgerufen, Victor Hugo war so wenig der literarische Führer jener
Periode wie Berlioz der musikalische. Diesem düstern Element tritt in den


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[0135] Johannes Brahms. Wenn wir die ersten zehn Werke von Brahms einer besondern Gruppe zuweisen, so folgen wir hierin einer bereits feststehenden Tradition, jedoch mit einigem Vorbehalt. Der Begriff „Sturm und Drang," welcher seit dem Ne- volutionszeitalter, seit dem genialischer Treiben Lenzens, Klingers und des jungen Schiller in der Kunstgeschichte etwas zu freigebig als Stichwort verwendet wird, ist auch diesen zehn Werken unsers Künstlers als gemeinsames Merkmal zugeschrieben worden. Er paßt jedoch nur auf einen Teil derselben — wie er andrerseits auch in einzelnen Werken der zweiten Periode hin und wieder zur Erscheinung kommt. Es sind unter den Werken der ersten Periode nur drei Klaviersonaten (ox. 1, 2 und 6), das Trio für Pianoforte, Violine und Cello (ox. 8) und allenfalls noch das Klavierscherzo (ox. 4), in welchen die Phan¬ tasie des Komponisten der Form eine größere Fülle von Bildern zumutet, als letztere tragen kann. In den Gesängen für eine Stimme mit Pianoforte (ox. 3, 6, 7), in den Variationen für Pianoforte zu zwei Händen über ein Thema aus den „Bunten Blättern" von Schumann (ox. 9) und in den vier Balladen für Klavier, welche ox. 10 bilden, herrscht das schönste Ebenmaß zwischen Inhalt und Form. Vom kunstgeschichtlichen Standpunkte aus erscheinen als das bedeutendste Werk der ersten Periode die?is-iuo11-Variationen in ox. 9. Hier treten zum erstenmale mit größerer Entschiedenheit Harnroniewendungen auf, welche uns ver¬ künden, daß dieser Künstler seine eigne Sprache bilden werde. Auch vom mensch¬ lichen Gesichtspunkte aus betrachtet, ist dieses Werk überaus anziehend und eindrucksvoll — es bildet eine Art Tvtenklcige um den geliebten Schumann, dessen Gestalt in allen Nummern in einer neuen Beleuchtung vortritt, am Schlüsse in Verklärung dahinschwebend. Die Variationen werden in bezug auf den ergreifenden Inhalt allerdings durch ein andres Werk der ersten Periode noch überboten: durch die Balladen des zehnten Heftes. Hier zeigt sich Brahms als ein genialer Erzähler ersten Ranges. Die Gedrungenheit und Bestimmt¬ heit, mit welcher in diesem Hefte schaurige und freundliche Bilder ausgeführt sind, ist so groß, daß das Fassungsvermögen mancher Musikfreunde davor zurück¬ schreckt. Der eigue, individuelle Stil, welcher in den Variationen c>x. 9 bereits hingestellt ist, wird in diesen Balladen noch befestigt. Man bemerkt bereits typische Akkordfarben, z. B. für den Ausdruck plötzlichen Schmerzgefühles die charakteristische Folge der Dreiklänge der dritten und ersten Stufe, der phan¬ tastische Humor liebt Vorhalte nach oben. In dem Ideenkreise der ersten Periode nimmt das Dämonische, Schauer¬ liche und Wildunheimliche einen größern Raum ein, als wir das durchschnittlich in den Erstlingswerken der Tonsetzer gewohnt sind. Durch die allgemeine Geistes¬ bewegung, die zur Jugendzeit des Komponisten herrschte, war diese Richtung nicht hervorgerufen, Victor Hugo war so wenig der literarische Führer jener Periode wie Berlioz der musikalische. Diesem düstern Element tritt in den

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156270/135>, abgerufen am 16.06.2024.