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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal.

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Johannes Brahms.

mit einer Energie behandelt und mit einer musikalischen Kraft, welche den
größten Respekt einflößt. Die Form ist vielfach schweifend, sie verliert sich in
Seitenwege und Zwischenplätzchen, sie löst sich zuweilen ganz ins Ungebundnc
und in Nezitative auf -- aber sie ist weder ziellos noch unklar; keine Spur von
Unsicherheit und Impotenz! Von der Anlehnung an Beethoven, die in diesen
Sonaten bemerklich wird, haben wir schon früher gesprochen. Sie ist eine innere
und eine äußere. Letztere ist am deutlichsten in den Ecksätzen der Ocwr-Soncite.
Wenn in diesen Sonaten im allgemeinen die künstlerische Originalität größer ist
als die musikalische, so wirft doch auch letztere ihre Lichter deutlich genug voraus.
Am reichlichsten in den Scherzi. Wir verweisen auf das Achtelmotiv (K-cor)
in dem der ersten Sonate (dasselbe kehrt im ox. 10 in der zweiten Ballade
mit einer kleinen Änderung wieder), auf das Baßmotiv in dem Schlüsse des
ersten Triosatzes ebendaselbst (später begegnen wir ihm in dem Liede "Herbst-
gcfühl"). Auch das zweite Thema im Finale derselben Sonate ist durch seinen
Harmonicanfbau ein Stilglied, das Brahms ganz allein gehört. Die Scherzi
der Sonaten sind diejenigen Teile der ersten Produktionen, in welchen sich die
Originalität des Künstlers am meisten konzentrirt hat und am leichtesten über¬
sehen läßt. Hier wirken die Kontraste besonders schlagend, die Kühnheit, die
Neuheit und Feinheit des Formenanfbciues fällt unverhiillt ins Auge, und reicher
als in den übrigen Sätzen erscheinen hier die kleinen Redeteile von besondrer
Erfindung. Der poetische Hintergrund, auf welchem die Sonaten ruhen, blickt
am deutlichsten in den langsamen Sätzen der ersten und dritten Sonate durch.
In der Ocwr-Sonate besteht das Andante aus Variationen über ein altdeut¬
sches Minuelicd, dessen Text uutergeschricben ist: "Verstohlen geht der Mond
ans, blau, blau Blümelein; durch Silberwölkchen führt sein Lauf; blan, blau
Blümelein. Rosen im Thal, Mädel im Saal, o schönste Rosa!" Das Andante
der ?-imo1I-Sonate trägt als Motto einen Vers von Sternau: "Der Abend
dämmert, das Mondlicht scheint, da sind zwei Herzen in Liebe vereint und
halten sich innig umfangen." Dieses Andante ist eine wunderschöne, ruhige,
innig trauliche Liebesszene. Sie schließt mit einem-Anklang an: "Steh' ich in
finstrer Mitternacht." Die Hinwendung zum Musikschatz des Volkes ist eine
der liebenswürdigsten Eigentümlichkeiten des jungen Brahms. Man begegnet
ihr in diesen Sonaten wiederholt -- auch der Ausklang des Andante in der
ersten Sonate mit dem frommen Sonntags- und Kirchenklang gehört in diese
Kategorie.

Den ersichtlichen Stempel der Selbständigkeit tragen diese Sonaten im
Klaviersatze. Sie zeigen einigemale ungewohnt schwierige Spielarten, herbei¬
geführt durch den Drang der Idee. Besonders bemerkenswert sind in dieser
Beziehung die Undankes mit der vorwiegend polyphonen Führung der Stimmen.
Statt der beliebten Melodie mit Mordbegleitnng hört man hier Gesänge von
links und rechts ineinander wogend.


Johannes Brahms.

mit einer Energie behandelt und mit einer musikalischen Kraft, welche den
größten Respekt einflößt. Die Form ist vielfach schweifend, sie verliert sich in
Seitenwege und Zwischenplätzchen, sie löst sich zuweilen ganz ins Ungebundnc
und in Nezitative auf — aber sie ist weder ziellos noch unklar; keine Spur von
Unsicherheit und Impotenz! Von der Anlehnung an Beethoven, die in diesen
Sonaten bemerklich wird, haben wir schon früher gesprochen. Sie ist eine innere
und eine äußere. Letztere ist am deutlichsten in den Ecksätzen der Ocwr-Soncite.
Wenn in diesen Sonaten im allgemeinen die künstlerische Originalität größer ist
als die musikalische, so wirft doch auch letztere ihre Lichter deutlich genug voraus.
Am reichlichsten in den Scherzi. Wir verweisen auf das Achtelmotiv (K-cor)
in dem der ersten Sonate (dasselbe kehrt im ox. 10 in der zweiten Ballade
mit einer kleinen Änderung wieder), auf das Baßmotiv in dem Schlüsse des
ersten Triosatzes ebendaselbst (später begegnen wir ihm in dem Liede „Herbst-
gcfühl"). Auch das zweite Thema im Finale derselben Sonate ist durch seinen
Harmonicanfbau ein Stilglied, das Brahms ganz allein gehört. Die Scherzi
der Sonaten sind diejenigen Teile der ersten Produktionen, in welchen sich die
Originalität des Künstlers am meisten konzentrirt hat und am leichtesten über¬
sehen läßt. Hier wirken die Kontraste besonders schlagend, die Kühnheit, die
Neuheit und Feinheit des Formenanfbciues fällt unverhiillt ins Auge, und reicher
als in den übrigen Sätzen erscheinen hier die kleinen Redeteile von besondrer
Erfindung. Der poetische Hintergrund, auf welchem die Sonaten ruhen, blickt
am deutlichsten in den langsamen Sätzen der ersten und dritten Sonate durch.
In der Ocwr-Sonate besteht das Andante aus Variationen über ein altdeut¬
sches Minuelicd, dessen Text uutergeschricben ist: „Verstohlen geht der Mond
ans, blau, blau Blümelein; durch Silberwölkchen führt sein Lauf; blan, blau
Blümelein. Rosen im Thal, Mädel im Saal, o schönste Rosa!" Das Andante
der ?-imo1I-Sonate trägt als Motto einen Vers von Sternau: „Der Abend
dämmert, das Mondlicht scheint, da sind zwei Herzen in Liebe vereint und
halten sich innig umfangen." Dieses Andante ist eine wunderschöne, ruhige,
innig trauliche Liebesszene. Sie schließt mit einem-Anklang an: „Steh' ich in
finstrer Mitternacht." Die Hinwendung zum Musikschatz des Volkes ist eine
der liebenswürdigsten Eigentümlichkeiten des jungen Brahms. Man begegnet
ihr in diesen Sonaten wiederholt — auch der Ausklang des Andante in der
ersten Sonate mit dem frommen Sonntags- und Kirchenklang gehört in diese
Kategorie.

Den ersichtlichen Stempel der Selbständigkeit tragen diese Sonaten im
Klaviersatze. Sie zeigen einigemale ungewohnt schwierige Spielarten, herbei¬
geführt durch den Drang der Idee. Besonders bemerkenswert sind in dieser
Beziehung die Undankes mit der vorwiegend polyphonen Führung der Stimmen.
Statt der beliebten Melodie mit Mordbegleitnng hört man hier Gesänge von
links und rechts ineinander wogend.


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[0176] Johannes Brahms. mit einer Energie behandelt und mit einer musikalischen Kraft, welche den größten Respekt einflößt. Die Form ist vielfach schweifend, sie verliert sich in Seitenwege und Zwischenplätzchen, sie löst sich zuweilen ganz ins Ungebundnc und in Nezitative auf — aber sie ist weder ziellos noch unklar; keine Spur von Unsicherheit und Impotenz! Von der Anlehnung an Beethoven, die in diesen Sonaten bemerklich wird, haben wir schon früher gesprochen. Sie ist eine innere und eine äußere. Letztere ist am deutlichsten in den Ecksätzen der Ocwr-Soncite. Wenn in diesen Sonaten im allgemeinen die künstlerische Originalität größer ist als die musikalische, so wirft doch auch letztere ihre Lichter deutlich genug voraus. Am reichlichsten in den Scherzi. Wir verweisen auf das Achtelmotiv (K-cor) in dem der ersten Sonate (dasselbe kehrt im ox. 10 in der zweiten Ballade mit einer kleinen Änderung wieder), auf das Baßmotiv in dem Schlüsse des ersten Triosatzes ebendaselbst (später begegnen wir ihm in dem Liede „Herbst- gcfühl"). Auch das zweite Thema im Finale derselben Sonate ist durch seinen Harmonicanfbau ein Stilglied, das Brahms ganz allein gehört. Die Scherzi der Sonaten sind diejenigen Teile der ersten Produktionen, in welchen sich die Originalität des Künstlers am meisten konzentrirt hat und am leichtesten über¬ sehen läßt. Hier wirken die Kontraste besonders schlagend, die Kühnheit, die Neuheit und Feinheit des Formenanfbciues fällt unverhiillt ins Auge, und reicher als in den übrigen Sätzen erscheinen hier die kleinen Redeteile von besondrer Erfindung. Der poetische Hintergrund, auf welchem die Sonaten ruhen, blickt am deutlichsten in den langsamen Sätzen der ersten und dritten Sonate durch. In der Ocwr-Sonate besteht das Andante aus Variationen über ein altdeut¬ sches Minuelicd, dessen Text uutergeschricben ist: „Verstohlen geht der Mond ans, blau, blau Blümelein; durch Silberwölkchen führt sein Lauf; blan, blau Blümelein. Rosen im Thal, Mädel im Saal, o schönste Rosa!" Das Andante der ?-imo1I-Sonate trägt als Motto einen Vers von Sternau: „Der Abend dämmert, das Mondlicht scheint, da sind zwei Herzen in Liebe vereint und halten sich innig umfangen." Dieses Andante ist eine wunderschöne, ruhige, innig trauliche Liebesszene. Sie schließt mit einem-Anklang an: „Steh' ich in finstrer Mitternacht." Die Hinwendung zum Musikschatz des Volkes ist eine der liebenswürdigsten Eigentümlichkeiten des jungen Brahms. Man begegnet ihr in diesen Sonaten wiederholt — auch der Ausklang des Andante in der ersten Sonate mit dem frommen Sonntags- und Kirchenklang gehört in diese Kategorie. Den ersichtlichen Stempel der Selbständigkeit tragen diese Sonaten im Klaviersatze. Sie zeigen einigemale ungewohnt schwierige Spielarten, herbei¬ geführt durch den Drang der Idee. Besonders bemerkenswert sind in dieser Beziehung die Undankes mit der vorwiegend polyphonen Führung der Stimmen. Statt der beliebten Melodie mit Mordbegleitnng hört man hier Gesänge von links und rechts ineinander wogend.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156270/176>, abgerufen am 15.06.2024.