Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite

Die drei Brahmsschen Sonaten waren eminent romantische Produkte. Er
hat keine wieder geschrieben. Der Zeit und Entstehung nach steht ihnen das große
Scherzo (ox. 4) nahe, eine breit entworfene Charal'terstudie, die in dem wunder¬
lichen, kurz angebundenen Humor des Hauptthemas ihren originellsten Zug hat.
Es ist dieses Scherzo nebenbei eins der wenigen Stücke, in welchen? man den
so oft behaupteten Einfluß Schumanns auf den jungen Brahms allenfalls nach¬
weisen könnte. Der Schumann der Dcwidsbündler und Krcisleriana, welcher Callots
Manier ins Musikalische übertrug, ist es, der hier vielleicht als Vorbild ge¬
wirkt hat. Eine Art Seitenstück zu diesem Scherzo finden wir in Nummer
drei der Balladen, dem Intermezzo. Nur kommt hier das Phantastische ent-
schiedner, gedrängter und einheitlicher zur Geltung. Es ist ein Meisterstück
romantischer Klaviermusik, wie das ganze Heft. Die gewaltigste der vier Num¬
mern ist die erste, vielleicht die erschütterndste Klavicrkomposition, die jemals
auf drei Seiten geschrieben worden ist. Einen stärkern Beweis von Phantasie
und gestaltender Kraft als er in dieser v-nioll-Ballade geliefert ist, kann ein
Künstler wohl nicht geben. Es ist ein tragisches Bild, das hier entrollt wird:
seine Steigerungen gehen bis zu einer unheimlichen Höhe; aber es ist mit einer
Sicherheit entworfen und ausgeführt, die den Eindruck abklärt und dem Werke
das Gepräge ergreifender Schönheit giebt. Wir rechnen diese Nummer unter
die allerersten Leistungen der Tonkunst. Sie gehört Brahms ganz eigentümlich
und ist ohne Vorgang und ohne gleichen. Die Anregung zu dem merkwürdigen
Stücke fand der Komponist in der schottischen Ballade "Edward." Die zweite
Ballade mit ihrem Gegensatz von himmlisch ruhigem Gesang und dunkeln er¬
regten, drohenden Tonmassen, gehört zu der Familie der Nachtstücke. Schu¬
manns Phantasiebilder und Arbeiten von Th. Kirchner sind hier zum Vergleich
heranzuziehen. Auf letztern hat Brahms dem Anschein nach eingewirkt.

Die Balladen sind die letzte Arbeit aus der Zeit, wo die Klavierkomposition
den Schwerpunkt im Schaffen des Künstlers bildete. Die spätern Pianofortewerke
-- die Konzerte ausgenommen -- kann man vom kunsthistorischen Standpunkte als
Nebenarbeiten bezeichnen. Sie sind das freilich durchaus nicht vom ästhetischen. Als
eine Art Unikum der Literatur tritt uns in dieser Beziehung vor allem ox. 39 ent¬
gegen, ein Heft vierhändiger Walzer, die, im Jahre 1866 veröffentlicht, inzwischen
auch in mehrfachen andern Arrangements weite Verbreitung gefunden haben. Die
liebenswürdigste aller Tanzarten ist mit den sechzehn Walzern dieses Heftes in
allen ihren Spielarten erschöpft von den schüchternen bis zu den phantastisch
flatternden und grotesken. Am meisten heimelt das elegische Genre an: über
Nummern wie den vorletzten kann man lange schwärmen. Das kleine Opus
gehört zu jenen Kunstwerken, welche den Genießenden in ein persönliches Ver¬
hältnis zu seinem Autor setzen und ihn zu lieben zwingen. Die Wiener haben
sich ein kleines Verdienst an diesen Walzern zugeschrieben. Gewiß ist Ländler¬
ton darin, auch die Nähe von Ungarn wird deutlich, und es ist wohl möglich,


Grenzboten III. 1384. 22

Die drei Brahmsschen Sonaten waren eminent romantische Produkte. Er
hat keine wieder geschrieben. Der Zeit und Entstehung nach steht ihnen das große
Scherzo (ox. 4) nahe, eine breit entworfene Charal'terstudie, die in dem wunder¬
lichen, kurz angebundenen Humor des Hauptthemas ihren originellsten Zug hat.
Es ist dieses Scherzo nebenbei eins der wenigen Stücke, in welchen? man den
so oft behaupteten Einfluß Schumanns auf den jungen Brahms allenfalls nach¬
weisen könnte. Der Schumann der Dcwidsbündler und Krcisleriana, welcher Callots
Manier ins Musikalische übertrug, ist es, der hier vielleicht als Vorbild ge¬
wirkt hat. Eine Art Seitenstück zu diesem Scherzo finden wir in Nummer
drei der Balladen, dem Intermezzo. Nur kommt hier das Phantastische ent-
schiedner, gedrängter und einheitlicher zur Geltung. Es ist ein Meisterstück
romantischer Klaviermusik, wie das ganze Heft. Die gewaltigste der vier Num¬
mern ist die erste, vielleicht die erschütterndste Klavicrkomposition, die jemals
auf drei Seiten geschrieben worden ist. Einen stärkern Beweis von Phantasie
und gestaltender Kraft als er in dieser v-nioll-Ballade geliefert ist, kann ein
Künstler wohl nicht geben. Es ist ein tragisches Bild, das hier entrollt wird:
seine Steigerungen gehen bis zu einer unheimlichen Höhe; aber es ist mit einer
Sicherheit entworfen und ausgeführt, die den Eindruck abklärt und dem Werke
das Gepräge ergreifender Schönheit giebt. Wir rechnen diese Nummer unter
die allerersten Leistungen der Tonkunst. Sie gehört Brahms ganz eigentümlich
und ist ohne Vorgang und ohne gleichen. Die Anregung zu dem merkwürdigen
Stücke fand der Komponist in der schottischen Ballade „Edward." Die zweite
Ballade mit ihrem Gegensatz von himmlisch ruhigem Gesang und dunkeln er¬
regten, drohenden Tonmassen, gehört zu der Familie der Nachtstücke. Schu¬
manns Phantasiebilder und Arbeiten von Th. Kirchner sind hier zum Vergleich
heranzuziehen. Auf letztern hat Brahms dem Anschein nach eingewirkt.

Die Balladen sind die letzte Arbeit aus der Zeit, wo die Klavierkomposition
den Schwerpunkt im Schaffen des Künstlers bildete. Die spätern Pianofortewerke
— die Konzerte ausgenommen — kann man vom kunsthistorischen Standpunkte als
Nebenarbeiten bezeichnen. Sie sind das freilich durchaus nicht vom ästhetischen. Als
eine Art Unikum der Literatur tritt uns in dieser Beziehung vor allem ox. 39 ent¬
gegen, ein Heft vierhändiger Walzer, die, im Jahre 1866 veröffentlicht, inzwischen
auch in mehrfachen andern Arrangements weite Verbreitung gefunden haben. Die
liebenswürdigste aller Tanzarten ist mit den sechzehn Walzern dieses Heftes in
allen ihren Spielarten erschöpft von den schüchternen bis zu den phantastisch
flatternden und grotesken. Am meisten heimelt das elegische Genre an: über
Nummern wie den vorletzten kann man lange schwärmen. Das kleine Opus
gehört zu jenen Kunstwerken, welche den Genießenden in ein persönliches Ver¬
hältnis zu seinem Autor setzen und ihn zu lieben zwingen. Die Wiener haben
sich ein kleines Verdienst an diesen Walzern zugeschrieben. Gewiß ist Ländler¬
ton darin, auch die Nähe von Ungarn wird deutlich, und es ist wohl möglich,


Grenzboten III. 1384. 22
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0177" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/156448"/>
          <p xml:id="ID_726"> Die drei Brahmsschen Sonaten waren eminent romantische Produkte. Er<lb/>
hat keine wieder geschrieben. Der Zeit und Entstehung nach steht ihnen das große<lb/>
Scherzo (ox. 4) nahe, eine breit entworfene Charal'terstudie, die in dem wunder¬<lb/>
lichen, kurz angebundenen Humor des Hauptthemas ihren originellsten Zug hat.<lb/>
Es ist dieses Scherzo nebenbei eins der wenigen Stücke, in welchen? man den<lb/>
so oft behaupteten Einfluß Schumanns auf den jungen Brahms allenfalls nach¬<lb/>
weisen könnte. Der Schumann der Dcwidsbündler und Krcisleriana, welcher Callots<lb/>
Manier ins Musikalische übertrug, ist es, der hier vielleicht als Vorbild ge¬<lb/>
wirkt hat. Eine Art Seitenstück zu diesem Scherzo finden wir in Nummer<lb/>
drei der Balladen, dem Intermezzo. Nur kommt hier das Phantastische ent-<lb/>
schiedner, gedrängter und einheitlicher zur Geltung. Es ist ein Meisterstück<lb/>
romantischer Klaviermusik, wie das ganze Heft. Die gewaltigste der vier Num¬<lb/>
mern ist die erste, vielleicht die erschütterndste Klavicrkomposition, die jemals<lb/>
auf drei Seiten geschrieben worden ist. Einen stärkern Beweis von Phantasie<lb/>
und gestaltender Kraft als er in dieser v-nioll-Ballade geliefert ist, kann ein<lb/>
Künstler wohl nicht geben. Es ist ein tragisches Bild, das hier entrollt wird:<lb/>
seine Steigerungen gehen bis zu einer unheimlichen Höhe; aber es ist mit einer<lb/>
Sicherheit entworfen und ausgeführt, die den Eindruck abklärt und dem Werke<lb/>
das Gepräge ergreifender Schönheit giebt. Wir rechnen diese Nummer unter<lb/>
die allerersten Leistungen der Tonkunst. Sie gehört Brahms ganz eigentümlich<lb/>
und ist ohne Vorgang und ohne gleichen. Die Anregung zu dem merkwürdigen<lb/>
Stücke fand der Komponist in der schottischen Ballade &#x201E;Edward." Die zweite<lb/>
Ballade mit ihrem Gegensatz von himmlisch ruhigem Gesang und dunkeln er¬<lb/>
regten, drohenden Tonmassen, gehört zu der Familie der Nachtstücke. Schu¬<lb/>
manns Phantasiebilder und Arbeiten von Th. Kirchner sind hier zum Vergleich<lb/>
heranzuziehen. Auf letztern hat Brahms dem Anschein nach eingewirkt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_727" next="#ID_728"> Die Balladen sind die letzte Arbeit aus der Zeit, wo die Klavierkomposition<lb/>
den Schwerpunkt im Schaffen des Künstlers bildete. Die spätern Pianofortewerke<lb/>
&#x2014; die Konzerte ausgenommen &#x2014; kann man vom kunsthistorischen Standpunkte als<lb/>
Nebenarbeiten bezeichnen. Sie sind das freilich durchaus nicht vom ästhetischen. Als<lb/>
eine Art Unikum der Literatur tritt uns in dieser Beziehung vor allem ox. 39 ent¬<lb/>
gegen, ein Heft vierhändiger Walzer, die, im Jahre 1866 veröffentlicht, inzwischen<lb/>
auch in mehrfachen andern Arrangements weite Verbreitung gefunden haben. Die<lb/>
liebenswürdigste aller Tanzarten ist mit den sechzehn Walzern dieses Heftes in<lb/>
allen ihren Spielarten erschöpft von den schüchternen bis zu den phantastisch<lb/>
flatternden und grotesken. Am meisten heimelt das elegische Genre an: über<lb/>
Nummern wie den vorletzten kann man lange schwärmen. Das kleine Opus<lb/>
gehört zu jenen Kunstwerken, welche den Genießenden in ein persönliches Ver¬<lb/>
hältnis zu seinem Autor setzen und ihn zu lieben zwingen. Die Wiener haben<lb/>
sich ein kleines Verdienst an diesen Walzern zugeschrieben. Gewiß ist Ländler¬<lb/>
ton darin, auch die Nähe von Ungarn wird deutlich, und es ist wohl möglich,</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten III. 1384. 22</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0177] Die drei Brahmsschen Sonaten waren eminent romantische Produkte. Er hat keine wieder geschrieben. Der Zeit und Entstehung nach steht ihnen das große Scherzo (ox. 4) nahe, eine breit entworfene Charal'terstudie, die in dem wunder¬ lichen, kurz angebundenen Humor des Hauptthemas ihren originellsten Zug hat. Es ist dieses Scherzo nebenbei eins der wenigen Stücke, in welchen? man den so oft behaupteten Einfluß Schumanns auf den jungen Brahms allenfalls nach¬ weisen könnte. Der Schumann der Dcwidsbündler und Krcisleriana, welcher Callots Manier ins Musikalische übertrug, ist es, der hier vielleicht als Vorbild ge¬ wirkt hat. Eine Art Seitenstück zu diesem Scherzo finden wir in Nummer drei der Balladen, dem Intermezzo. Nur kommt hier das Phantastische ent- schiedner, gedrängter und einheitlicher zur Geltung. Es ist ein Meisterstück romantischer Klaviermusik, wie das ganze Heft. Die gewaltigste der vier Num¬ mern ist die erste, vielleicht die erschütterndste Klavicrkomposition, die jemals auf drei Seiten geschrieben worden ist. Einen stärkern Beweis von Phantasie und gestaltender Kraft als er in dieser v-nioll-Ballade geliefert ist, kann ein Künstler wohl nicht geben. Es ist ein tragisches Bild, das hier entrollt wird: seine Steigerungen gehen bis zu einer unheimlichen Höhe; aber es ist mit einer Sicherheit entworfen und ausgeführt, die den Eindruck abklärt und dem Werke das Gepräge ergreifender Schönheit giebt. Wir rechnen diese Nummer unter die allerersten Leistungen der Tonkunst. Sie gehört Brahms ganz eigentümlich und ist ohne Vorgang und ohne gleichen. Die Anregung zu dem merkwürdigen Stücke fand der Komponist in der schottischen Ballade „Edward." Die zweite Ballade mit ihrem Gegensatz von himmlisch ruhigem Gesang und dunkeln er¬ regten, drohenden Tonmassen, gehört zu der Familie der Nachtstücke. Schu¬ manns Phantasiebilder und Arbeiten von Th. Kirchner sind hier zum Vergleich heranzuziehen. Auf letztern hat Brahms dem Anschein nach eingewirkt. Die Balladen sind die letzte Arbeit aus der Zeit, wo die Klavierkomposition den Schwerpunkt im Schaffen des Künstlers bildete. Die spätern Pianofortewerke — die Konzerte ausgenommen — kann man vom kunsthistorischen Standpunkte als Nebenarbeiten bezeichnen. Sie sind das freilich durchaus nicht vom ästhetischen. Als eine Art Unikum der Literatur tritt uns in dieser Beziehung vor allem ox. 39 ent¬ gegen, ein Heft vierhändiger Walzer, die, im Jahre 1866 veröffentlicht, inzwischen auch in mehrfachen andern Arrangements weite Verbreitung gefunden haben. Die liebenswürdigste aller Tanzarten ist mit den sechzehn Walzern dieses Heftes in allen ihren Spielarten erschöpft von den schüchternen bis zu den phantastisch flatternden und grotesken. Am meisten heimelt das elegische Genre an: über Nummern wie den vorletzten kann man lange schwärmen. Das kleine Opus gehört zu jenen Kunstwerken, welche den Genießenden in ein persönliches Ver¬ hältnis zu seinem Autor setzen und ihn zu lieben zwingen. Die Wiener haben sich ein kleines Verdienst an diesen Walzern zugeschrieben. Gewiß ist Ländler¬ ton darin, auch die Nähe von Ungarn wird deutlich, und es ist wohl möglich, Grenzboten III. 1384. 22

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156270
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156270/177
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156270/177>, abgerufen am 15.06.2024.