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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal.

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Johannes Brahms.

nennen wir das bekannte "Wie bist du meine Königin," das derselben Zeit
angehört, in welche die Magelonen-Romanzen fallen; als eine der letzten das
freundlich tiefsinnige Lied "Therese" aus ox. 86.

Manche der schönsten Brcchmsschen Gesänge sind noch wenig bekannt. Cyklen
nach dem Dichtungscharakter zusammengestellt wirken wie wahre Gefängnisse
Wider die Verbreitung hervorragender Einzelnummern. Diese Bemerkung, welche
man durch die ganze Gesangkomposition von Schuberts Winterreise bis auf
Jensens Dvlvrosa immer wieder bestätigt findet, trifft auch Brahms gegenüber
ein. Wir denken hierbei an ox. 57, einen Liederkreis aus Daumerschcn Poesien,
die das Thema der unglücklichen Liebe variiren.

Neformatorisch neue Formen, größte Vollendung in den alten würden nicht
hinreichen, um Brahms als Gesangkomponistcn diejenige Stellung zu legitimiren,
welche ihm nach unsrer Ansicht zukommt, nämlich die als des bedeutendsten, der
in unserm Jahrhundert bisher aufgetreten ist. Auch Tiefe der Auffassung, Kraft,
Wahrheit und Schönheit des Ausdrucks sind Forderungen, welche wir an jeden
guten Komponisten stellen. Hinter ihnen steht bei Brahms eine überwältigende
Individualität, die jedermann erkennen kann und von der sich jedermann sagen
muß: So wie dieser Künstler, vermagst du und vermögen andre die Dinge
zwischen Himmel und Erde nicht zu sehen und nicht zu schildern. Wenn Brahms
eine Stimmung oder einen Vorgang darstellt, so läßt er uns den Hauptcharakter
und den wichtigen Moment von vornherein durchfühlen und prägt ihn bis zum
Schluß mit der größten Bestimmtheit und Klarheit aus. In dieser Beziehung
haben seine Gesänge einen ungewöhnlich energischen Puls. Aber er entwickelt
zugleich im Verlauf eine solche Fülle von Einzelleben, er bemerkt und veran¬
schaulicht eine solche Menge von intimen Zügen, grundirt und schattirt das Bild
so reich und tief, wie wir es von andern Gesangkomponisten nicht gewohnt sind.
Er gleicht hierin Goethe in dessen epischen und lyrischen Dichtungen. Diese
individuelle Energie und Fülle seiner Gesänge beruht gleichermaßen auf einer un¬
gemein reichen Natur wie auf einer souveränen Knnstbehcrrschung, die mit einen,
einzigen kurzen Strich einen neuen Charakter andeuten kann. Sie äußert sich
ziemlich universell: man wird nicht sagen können, daß Brahms ein Gebiet des
Phantasie- und Gemütslebens weniger beherrsche als ein andres. Aber doch in-
klinirt er für die eine und die andre Art der Betrachtung vorwiegend. Besonders
ist dies die großpathctische. Sie wirft über manche seiner Gesänge einen zarten
melancholischen Schleier, sie läßt ihn im spannenden Augenblick vorwärts- und
zurückblicken, sie dämpft seine Trauer und adelt seinen Humor. Sie giebt den
Gesängen des innigsten und wärmsten Gefühls die volle Vornehmheit und wirft
auf die Dinge des gewöhnlichen Lebens einen verklärenden Schimmer. See¬
fahrten, Bergesrast und Waldstille, von ihm geschildert, erscheinen wie aus der
Vogelperspektive angeschaut in, Nimbus des Erhabenen. Ohne Einseitigkeit läßt
er aber, wo es gilt, lustige Szenen in ihrer ganzen Drastik vor uns leben. Die


Grenzboten III. 1884. SS
Johannes Brahms.

nennen wir das bekannte „Wie bist du meine Königin," das derselben Zeit
angehört, in welche die Magelonen-Romanzen fallen; als eine der letzten das
freundlich tiefsinnige Lied „Therese" aus ox. 86.

Manche der schönsten Brcchmsschen Gesänge sind noch wenig bekannt. Cyklen
nach dem Dichtungscharakter zusammengestellt wirken wie wahre Gefängnisse
Wider die Verbreitung hervorragender Einzelnummern. Diese Bemerkung, welche
man durch die ganze Gesangkomposition von Schuberts Winterreise bis auf
Jensens Dvlvrosa immer wieder bestätigt findet, trifft auch Brahms gegenüber
ein. Wir denken hierbei an ox. 57, einen Liederkreis aus Daumerschcn Poesien,
die das Thema der unglücklichen Liebe variiren.

Neformatorisch neue Formen, größte Vollendung in den alten würden nicht
hinreichen, um Brahms als Gesangkomponistcn diejenige Stellung zu legitimiren,
welche ihm nach unsrer Ansicht zukommt, nämlich die als des bedeutendsten, der
in unserm Jahrhundert bisher aufgetreten ist. Auch Tiefe der Auffassung, Kraft,
Wahrheit und Schönheit des Ausdrucks sind Forderungen, welche wir an jeden
guten Komponisten stellen. Hinter ihnen steht bei Brahms eine überwältigende
Individualität, die jedermann erkennen kann und von der sich jedermann sagen
muß: So wie dieser Künstler, vermagst du und vermögen andre die Dinge
zwischen Himmel und Erde nicht zu sehen und nicht zu schildern. Wenn Brahms
eine Stimmung oder einen Vorgang darstellt, so läßt er uns den Hauptcharakter
und den wichtigen Moment von vornherein durchfühlen und prägt ihn bis zum
Schluß mit der größten Bestimmtheit und Klarheit aus. In dieser Beziehung
haben seine Gesänge einen ungewöhnlich energischen Puls. Aber er entwickelt
zugleich im Verlauf eine solche Fülle von Einzelleben, er bemerkt und veran¬
schaulicht eine solche Menge von intimen Zügen, grundirt und schattirt das Bild
so reich und tief, wie wir es von andern Gesangkomponisten nicht gewohnt sind.
Er gleicht hierin Goethe in dessen epischen und lyrischen Dichtungen. Diese
individuelle Energie und Fülle seiner Gesänge beruht gleichermaßen auf einer un¬
gemein reichen Natur wie auf einer souveränen Knnstbehcrrschung, die mit einen,
einzigen kurzen Strich einen neuen Charakter andeuten kann. Sie äußert sich
ziemlich universell: man wird nicht sagen können, daß Brahms ein Gebiet des
Phantasie- und Gemütslebens weniger beherrsche als ein andres. Aber doch in-
klinirt er für die eine und die andre Art der Betrachtung vorwiegend. Besonders
ist dies die großpathctische. Sie wirft über manche seiner Gesänge einen zarten
melancholischen Schleier, sie läßt ihn im spannenden Augenblick vorwärts- und
zurückblicken, sie dämpft seine Trauer und adelt seinen Humor. Sie giebt den
Gesängen des innigsten und wärmsten Gefühls die volle Vornehmheit und wirft
auf die Dinge des gewöhnlichen Lebens einen verklärenden Schimmer. See¬
fahrten, Bergesrast und Waldstille, von ihm geschildert, erscheinen wie aus der
Vogelperspektive angeschaut in, Nimbus des Erhabenen. Ohne Einseitigkeit läßt
er aber, wo es gilt, lustige Szenen in ihrer ganzen Drastik vor uns leben. Die


Grenzboten III. 1884. SS
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[0185] Johannes Brahms. nennen wir das bekannte „Wie bist du meine Königin," das derselben Zeit angehört, in welche die Magelonen-Romanzen fallen; als eine der letzten das freundlich tiefsinnige Lied „Therese" aus ox. 86. Manche der schönsten Brcchmsschen Gesänge sind noch wenig bekannt. Cyklen nach dem Dichtungscharakter zusammengestellt wirken wie wahre Gefängnisse Wider die Verbreitung hervorragender Einzelnummern. Diese Bemerkung, welche man durch die ganze Gesangkomposition von Schuberts Winterreise bis auf Jensens Dvlvrosa immer wieder bestätigt findet, trifft auch Brahms gegenüber ein. Wir denken hierbei an ox. 57, einen Liederkreis aus Daumerschcn Poesien, die das Thema der unglücklichen Liebe variiren. Neformatorisch neue Formen, größte Vollendung in den alten würden nicht hinreichen, um Brahms als Gesangkomponistcn diejenige Stellung zu legitimiren, welche ihm nach unsrer Ansicht zukommt, nämlich die als des bedeutendsten, der in unserm Jahrhundert bisher aufgetreten ist. Auch Tiefe der Auffassung, Kraft, Wahrheit und Schönheit des Ausdrucks sind Forderungen, welche wir an jeden guten Komponisten stellen. Hinter ihnen steht bei Brahms eine überwältigende Individualität, die jedermann erkennen kann und von der sich jedermann sagen muß: So wie dieser Künstler, vermagst du und vermögen andre die Dinge zwischen Himmel und Erde nicht zu sehen und nicht zu schildern. Wenn Brahms eine Stimmung oder einen Vorgang darstellt, so läßt er uns den Hauptcharakter und den wichtigen Moment von vornherein durchfühlen und prägt ihn bis zum Schluß mit der größten Bestimmtheit und Klarheit aus. In dieser Beziehung haben seine Gesänge einen ungewöhnlich energischen Puls. Aber er entwickelt zugleich im Verlauf eine solche Fülle von Einzelleben, er bemerkt und veran¬ schaulicht eine solche Menge von intimen Zügen, grundirt und schattirt das Bild so reich und tief, wie wir es von andern Gesangkomponisten nicht gewohnt sind. Er gleicht hierin Goethe in dessen epischen und lyrischen Dichtungen. Diese individuelle Energie und Fülle seiner Gesänge beruht gleichermaßen auf einer un¬ gemein reichen Natur wie auf einer souveränen Knnstbehcrrschung, die mit einen, einzigen kurzen Strich einen neuen Charakter andeuten kann. Sie äußert sich ziemlich universell: man wird nicht sagen können, daß Brahms ein Gebiet des Phantasie- und Gemütslebens weniger beherrsche als ein andres. Aber doch in- klinirt er für die eine und die andre Art der Betrachtung vorwiegend. Besonders ist dies die großpathctische. Sie wirft über manche seiner Gesänge einen zarten melancholischen Schleier, sie läßt ihn im spannenden Augenblick vorwärts- und zurückblicken, sie dämpft seine Trauer und adelt seinen Humor. Sie giebt den Gesängen des innigsten und wärmsten Gefühls die volle Vornehmheit und wirft auf die Dinge des gewöhnlichen Lebens einen verklärenden Schimmer. See¬ fahrten, Bergesrast und Waldstille, von ihm geschildert, erscheinen wie aus der Vogelperspektive angeschaut in, Nimbus des Erhabenen. Ohne Einseitigkeit läßt er aber, wo es gilt, lustige Szenen in ihrer ganzen Drastik vor uns leben. Die Grenzboten III. 1884. SS

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156270/185>, abgerufen am 15.06.2024.